Feindstrafrecht: Keine „Corona-Amnestie“ für politische Gefangene

Die AKP will kommende Woche ihr drittes Reformpaket durchbringen. Der Entwurf sieht eine Amnestie vor, politische Gefangene sollen nicht profitieren. Der Gerichtsmediziner Ümit Biçer kritisiert: „Die Regierung spricht wieder mal Feindstrafrecht.“

Letzte Woche hat die türkische Regierungspartei AKP im Parlament den Entwurf ihres zweiten Reformpakets zur „Änderung der Zivilprozessordnung und anderer Gesetze“ eingebracht. In den kommenden Tagen soll dem Parlamentssprecher in Ankara nach einem Treffen mit den Oppositionsparteien der Entwurf eines dritten Pakets unterbreitet werden. Die etwa 30 Artikel umfassende Vorlage sieht eine Änderung der Strafvollzugsgesetze vor. In Zeiten der weltweiten Covid-19-Pandemie, die auch die Türkei fest im Griff hat, wolle man die Gefängnisse entlasten und eine Amnestie erlassen, so die offizielle Version.

Sollte der Entwurf angenommen werden, könnten bis zu 112.000 Strafgefangene entlassen werden. Voraussetzung ist, dass die Hälfte der Haftstrafe zum 1. März 2020 abgesessen war. Ältere Gefangene können die verbleibende Haftstrafe zu Hause verbringen, Kranke zwischen 60 und 70 Jahren, sofern die restliche Haftstrafe nicht mehr als zwei Jahre beträgt, bekommen ebenfalls die Möglichkeit. Wenn eine vor dem 1. März verurteilte Schwangere nach dem Stichtag entbunden hat, kann der Vollzug der Haftstrafe bis zum Ablauf von anderthalb Jahren nach der Entbindung verschoben werden. Im Fall von Epidemien und Naturkatastrophen dürfen Gefangene ohne Einschränkungen von ihrem Besuchsrecht Gebrauch machen. Bei fahrlässig begangenen Straftaten können Vollzugslockerungen wie Freigang am Wochenende gewährt werden. Von dem Gesetz profitieren würden nicht nur Kleinkriminelle, sondern auch Sexualstraftäter und wegen Drogendelikten oder organisierter Kriminalität verurteilte Personen. Lediglich sogenannte „Terrorstraftäter“, bei denen es sich größtenteils um politische Gefangene aus dem linken und kurdischen Spektrum handelt, gehen leer aus.

Zivilgesellschaft: Regierung spricht Feindstrafrecht

Die unmittelbaren Reaktionen auf den Gesetzentwurf überraschten daher nicht wirklich. Der ultranationalistische Koalitionspartner MHP bescheinigte dem Vorhaben „viele Schritte in die richtige Richtung“. Positiv wertete auch die CHP den Entwurf und kündigte an, ihn zu unterstützen. Einzig die Demokratische Partei der Völker (HDP) und mit ihr die Zivilgesellschaft sowie Menschenrechtsorganisationen laufen Sturm. Wir haben mit Ümit Biçer vom Vorstand der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV) über die Pläne der AKP/MHP-Koalition gesprochen. Der renommierte Gerichtsmediziner wirft der türkischen Regierung vor, „Feindstrafrecht“ zu sprechen. Der Entwurf stehe nicht im Einklang mit dem Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz, und sei nichts anderes als ein Freifahrtschein, um über Leben und Tod zu entscheiden. „Gesundheit ist ein Grundrecht“, sagt Biçer. „Auch und gerade im Zusammenhang mit dem Ausbruch von Coronavirus SARS-CoV-2 haben wir alle das Recht, so weit wie möglich geschützt zu werden und die bestmögliche Behandlung zu erhalten. Inhaftierte Menschen sind besonders gefährdet und müssen angemessen geschützt werden.“ Biçer fordert Lösungen für alle Gefangenen, die sich mit den Hintergründen der Haft vereinen lassen und nicht im Widerspruch zum Gleichheitssatz stehen. Außerdem sollen die Strafverfolgungsbehörden vorerst die Vollstreckung von neuen Haftstrafen aussetzen und über alternative Sanktionsmöglichkeiten nachdenken.

Ein menschenrechtlich und moralisch unwürdiger Entwurf

„Gerade hinsichtlich der aus politischen Motiven unter dem Vorwand sogenannter Terrorvorwürfe grundlos gefangen gehaltenen Intellektuellen, Verfechtern der Meinungsfreiheit, Abgeordneten, Politikern, Schriftstellern, Journalisten und Akademikern können wir nicht hinnehmen, dass sie womöglich dem sicheren Tod überlassen werden. Der Entwurf der Regierung ist aus menschenrechtlicher, politischer, moralischer und schlicht menschlicher Sicht absolut unwürdig und führt vor Augen, dass auch eine Pandemie nichts am Feindrecht ändert“, beklagt Biçer.

Schon unter normalen Umständen sind die Haftbedingungen in türkischen Strafvollzugseinrichtungen prekär. Doch in der gegenwärtigen Corona-Krise ist die Situation von inhaftierten Menschen aus mehreren Gründen besonders ernst. Aufgrund der chronischen Überbelegung ausnahmslos aller Gefängnisse befinden sich die Gefangenen in einer Situation der räumlichen Nähe, die im Zusammenhang mit einem Krankheitsausbruch brandgefährlich ist. Da sich mehrere Insassen eine einzige Zelle teilen –teils sind es Dutzende Gefangene in einer Gemeinschaftszelle für acht Personen – sind Kontaminationen nicht zu vermeiden. Darüber hinaus sind Gefangene eine gesundheitlich besonders anfällige Gruppe, da die Raten von Infektionskrankheiten, psychischen Erkrankungen oder Suchtproblemen im Gefängnis ohnehin schon überdurchschnittlich hoch sind. Hinzu kommen Krankheiten aufgrund unzureichender Verpflegung, Wasserversorgung und Hygiene. Eine Ausbreitung der Covid-19-Epidemie innerhalb der Gefängnisse stellt somit eine ernsthafte Gefahr für das Leben der Inhaftierten, aber auch des Gefängnispersonals dar. Gerade vor dem Hintergrund, dass in den Haftanstalten kaum Präventivmaßnahmen gegen das Coronavirus ergriffen werden.

Regierung muss jetzt handeln

Biçer fordert daher dringende und umfassende Maßnahmen zum Schutz dieser gefährdeten Gruppe zu ergreifen. „Die Regierung hat noch immer nicht angemessen auf die Situation reagiert. Alle bisherigen Maßnahmen gegen das Coronavirus in Gefängnissen sind ungenügend.“ Statt darauf zu warten, bis das Reformpaket durchgebracht wurde, müsse jetzt gehandelt werden. „Zuallererst müssen Schwerkranke, Mütter mit kleinen Kindern und Schwangere sowie alle Gefangenen, die aufgrund ihres Alters, Behinderungen oder chronischen Erkrankungen als schutzbedürftig gelten und zur Risikogruppe gehören, sofort gegen Meldeauflagen aus der Haft entlassen werden. Eine Aufklärung über Hygienevorschriften und infektionsmindernde Maßnahmen ist zwingend erforderlich. Ebenso die kostenlose Versorgung mit Desinfektions- und Reinigungsmitteln. Ganz wichtig sind auch erleichterte Telefongespräche mit der Außenwelt und freier Zugang zu Telefonen mit entsprechender Schutzausrüstung. Den Familienangehörigen und Anwälten muss es gestattet werden, Gefangene anzurufen, ohne die Haftanstalt betreten zu müssen. Das Justizministerium darf es jetzt nicht bei leeren Worten belassen, sondern muss alle notwendigen Maßnahmen sofort in die Wege leiten. “

Unabhängige Delegationen

Biçer schlägt vor, dass Delegationen unabhängiger Organisationen bei Kontrollen in den Gefängnissen sowohl die Umsetzung von Präventivmaßnahmen sicherstellen, als auch in den Aufklärungsprozess eingebunden werden. Dies schaffe einerseits Transparenz und andererseits Vertrauen der Bürgerinnen und Bürgern zu den Behörden. Der Regierung zufolge seien in der Türkei 1529 Menschen mit dem neuartigen Coronavirus infiziert, 37 hätten es nicht überstanden. Die Dunkelziffer dürfte erheblich höher liegen. Auf Covid-19 getestet worden seien bisher 24.017 Menschen. In der Türkei, die wie Deutschland rund 83 Millionen Einwohner*innen hat, werden damit vergleichsweise wenig Tests durchgeführt. In welchen Provinzen des Landes Coronavirus-Fälle festgestellt wurden und wo Menschen positiv getestet wurden, darüber schweigt Ankara allerdings.

HDP: Tausende Coronavirus-Fälle in der Türkei

Die zur Coronavirus-Pandemie gebildete Krisenkoordination der Demokratischen Partei der Völker (HDP) warnte am Freitag vor einer hohen Zahl von Corona-Infektionen in der Türkei. Entgegen der offiziellen Angaben liege die Zahl bei vielen Tausend.