Europarat kritisiert Diskriminierung im türkischen Strafvollzug

Ungeachtet heftiger Kritik sollen politische Gefangene von der „Corona-Amnestie“ in der Türkei ausgeschlossen werden. Der Europarat fordert die türkische Regierung auf, allen Gefangenen Schutz vor der Pandemie zu gewähren.

Ungeachtet heftiger nationaler und internationaler Kritik hat die islamisch-konservative AKP zusammen mit ihrem ultranationalistischen Koalitionspartner MHP ihre Pläne für eine Justizreform vorangebracht. Der Justizausschuss des Parlaments stimmte in der Nacht auf Samstag für die Änderung des Strafvollzugsgesetzes, das die überfüllten Gefängnisse durch eine Amnestie entlasten soll. Zwischen 90.000 und 100.000 Häftlinge würden somit vorzeitig aus den Haftanstalten entlassen werden. Die politischen Gefangenen werden von der neuen gesetzlichen Regelung ausgenommen.

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) hat die Türkei aufgefordert, angesichts der Corona-Pandemie allen Gefangenen ohne Diskriminierung Schutz vor einer Ansteckung zu gewähren. In einer von den Ko-Berichterstattern Thomas Hammarberg (Schweden, SOC) und John Howell (Vereinigtes Königreich, EC/DA) für das Türkei-Monitoring herausgegebenen Stellungnahme werden die türkischen Behörden nachdrücklich aufgefordert, sicherzustellen, dass politische Gefangene von frühzeitigen oder bedingten Haftentlassungen nicht ausgeschlossen werden.

Zwar würden Schritte des türkischen Parlaments begrüßt, die zur Bekämpfung und Verbreitung des Covid-19-Erregers in den Gefängnissen unternommen werden. Diese sollten insbesondere die dramatische Situation älterer und kranker Insassen, schwangerer Gefangener oder Frauen mit Kindern berücksichtigen. Die Türkei solle aber auch auf die Bedenken eingehen, die das Antifolterkomitee des Europarats (CPT) in seiner kürzlich veröffentlichten Grundsatzerklärung geäußert hat. Darin werden die Mitgliedsstaaten aufgefordert, Alternativen zum Strafvollzug zu gewähren, insbesondere dort, wo die Haftanstalten völlig überbelegt sind.

„Wir sind jedoch entsetzt zu erfahren, dass diese Änderungen Politiker, Journalisten, Akademiker, entlassene Beamte, Aktivisten der Zivilgesellschaft und viele andere, die aufgrund ‚terrorbezogener Anklagen’ wegen der Ausübung ihres Rechts auf Meinungs- oder Versammlungsfreiheit inhaftiert sind, ausschließen könnten.

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates forderte die türkischen Behörden wiederholt auf, jene Bestimmungen der Antiterrorgesetzgebung und des Strafgesetzbuches zu überarbeiten - wenn nicht sogar aufzuheben -, die im Widerspruch zur Rechtsprechung der Europäischen Menschenrechtskonvention weiterhin zu weit ausgelegt werden und zu ungerechtfertigten Freiheitsstrafen oder Untersuchungshaft führen.

In mehreren prominenten Fällen haben der EGMR oder das türkische Verfassungsgericht Verletzungen von Grundrechten festgestellt, die eine längere Inhaftierung von Journalisten, Politikern oder Aktivisten der Zivilgesellschaft nicht mehr rechtfertigen. Es ist daher undenkbar, dass die vorgeschlagenen Änderungen denjenigen, die aus politischen Gründen inhaftiert sind - und die keine Bedrohung für die Gesellschaft darstellen - wissentlich und absichtlich den Zugang zu lebenswichtigen Gesundheitsmaßnahmen und sicheren Bedingungen verwehren. Eine solche Diskriminierung wäre aus menschenrechtlicher Sicht nicht akzeptabel und würde diese Menschen in überfüllten Gefängnissen zusätzlichen akuten und gesundheitsschädlichen Risiken aussetzen - und sie damit doppelt bestrafen”.

In Zeiten von Corona tragen alle Behörden in Europa Verantwortung und werden für die Maßnahmen zur Gewährleistung der Gesundheit und des Rechts auf Leben aller ihrer Bürger zur Rechenschaft gezogen werden, heißt es weiter. „Wir bringen unsere Unterstützung für die türkischen Behörden in ihrem Kampf gegen die COVID-19-Pandemie zum Ausdruck und fordern sie daher dringend auf, alle notwendigen Schritte zu unternehmen, um die Verbreitung des Virus ohne Diskriminierung, auch in den Gefängnissen, zu verhindern, den Zugang zu relevanten und notwendigen Informationen zu gewährleisten und alle Initiativen, einschließlich der von den lokalen Behörden eingeleiteten, zu erleichtern, um die Präventivmaßnahmen zu verstärken und das Recht aller Bürger auf Gesundheit, insbesondere der am meisten gefährdeten und durch ihre räumliche Lage ungeschützten Menschen, zu gewährleisten.”