Die Türkei-Reise der „Internationalen Friedensdelegation nach Imrali“ ist in diesem Jahr Pandemie-bedingt ausgefallen. Stattdessen fand eine zweitägige virtuelle Fact Finding Mission statt. Das Ziel der Delegation ist es, die Wiederaufnahme des 2015 abrupt beendeten Friedensprozesses zwischen der türkischen Regierung und der kurdischen Bewegung zu unterstützen. Die Delegation setzt sich aus international bekannten Akademiker*innen zusammen, darunter Baronin Christine Blower, Ögmundur Jónasson und Dr. Thomas Jeffrey Miley.
Als „absolute Vorbedingung“ für die Wiederaufnahme dieses Prozesses sieht die Delegation das Ende der Isolation von Abdullah Öcalan auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali. Das wird in einem Vorabbericht zu dem virtuellen Türkei-Besuch hervorgehoben, in dessen Rahmen mit Menschenrechtsorganisationen, Gewerkschaften, Anwaltsvereinigungen, Solidaritätsvereinen für politische Gefangene, verschiedenen politischen Parteien aus Nordkurdistan und der Türkei und dem Istanbuler Rechtsbüro Asrin, das Öcalan seit seiner Verschleppung in die Türkei vor 22 Jahren juristisch vertritt, gesprochen wurde. Laut der Delegation hätten alle Gesprächspartner mit Blick auf die deutliche Verschlechterung der Menschenrechtslage in der Türkei ihre Besorgnis geäußert, dass die internationale Gemeinschaft die Augen vor diesen alarmierenden Entwicklungen verschließe. Auf ein Schreiben an den türkischen Justizminister Abdulhamit Gül mit der Bitte um Unterstützung für die Erlaubnis eines virtuellen Besuchs bei Abdullah Öcalan sei der Delegation bis heute nicht geantwortet worden. Auch auf eine Terminanfrage beim Minister selbst erfolgte bislang keine Reaktion.
Zoom-Konferenz der Imrali-Delegation | Quelle: Internationale Öcalan-Initiative
Gravierende Verstößen gegen internationale Menschenrechtskonventionen
Die Delegation macht in ihrem Vorabbericht darauf aufmerksam, dass es in allen Bereichen der Gesellschaft zu gravierenden Verstößen gegen internationale Menschenrechtskonventionen komme, insbesondere in den Gefängnissen. Das war auch vom Antifolterkomitee (CPT) des Europarats festgestellt worden. Letzten August hatte das Gremium zwei drastische Berichte zur Situation in türkischen Gefängnissen und im Polizeigewahrsam für das Jahr 2019 veröffentlicht und eine „klare und feste Botschaft“ an die Türkei gefordert, dass es für Misshandlungen in Polizeigewahrsam und in Haftanstalten keinerlei Toleranz gebe. Von den türkischen Behörden verlangte das CPT, ohne weitere Verzögerung eine vollständige Überarbeitung des Haftregimes für Gefangene, die in türkischen Gefängnissen zu schwerer lebenslanger Haft verurteilt wurden, vorzunehmen, und kritisierte insbesondere die Haftbedingungen auf der Gefängnisinsel Imrali. Ankara hatte diese Forderungen nicht nur ignoriert, sondern die Isolation auf Imrali sogar noch verschärft. Seit dem 22. April 2020 hat es keinerlei Kontakt mehr zu Öcalan oder seinen drei Mitgefangenen gegeben. „In diesem Zusammenhang muss das CPT Rechenschaft darüber ablegen, warum es bei seinem letzten Besuch in der Türkei im Januar dieses Jahres nicht gefordert hat, eine Inspektion auf Imrali vorzunehmen und damit seine Empörung darüber zu zeigen, dass seine Empfehlungen so verächtlich ignoriert werden. Das CPT hat sich auch nicht mit Öcalans Anwälten oder seiner Familie getroffen“, kritisiert die internationale Delegation.
Kritik an Türkei-Besuch von EGMR-Präsident
Nicht weniger gravierend sei der Türkei-Besuch des Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), Róbert Ragnar Spanó, aufgefasst worden. Spanó hatte sich im September mit der Ehrendoktorwürde der Universität Istanbul auszeichnen lassen – „genau dort, wo die Säuberungen von Akademikern am größten waren“, unterstreicht die Imrali-Delegation. „Die Annahme von Ehrungen durch den Präsidenten des EGMR unter solchen Umständen gefährdet ernsthaft die Unabhängigkeit und Neutralität des Menschengerichtshofs. Zu diesem parteiischen Verhalten, das den Ruf des Gerichtshofs untergräbt, trug auch das Treffen des Präsidenten mit ‚Treuhändern‘ der Regierung bei, die gewaltsam demokratisch gewählte Bürgermeister ersetzt haben“, hält der Bericht fest.
Wir wollen keine Leichen mehr an unsere Haustür geliefert bekommen
Weiter heißt es: „Wir erfuhren, wie Frauenorganisationen geschlossen und die sozialen Rechte von Frauen eingeschränkt wurden. Uns wurden zermürbende Geschichten von einzelnen Frauen erzählt, die missbraucht und vergewaltigt wurden, oft von autoritären Personen in Uniform. Wir erfuhren von der zunehmenden Brutalität in den Gefängnissen, von der Verfolgung von Anwälten und Gewerkschaftern und der Aushöhlung politischer Rechte, von Entführungen und dem Verschwindenlassen durch die Polizei, von der Pandemie-bedingten Freilassung gefährlicher Krimineller, aber nicht politischer Gefangener, und davon, dass jeder Akt demokratischer Meinungsverschiedenheit als Terrorismus umgedeutet wird. Einer unserer Gesprächspartner brachte die Verzweiflung der Situation auf den Punkt: ‚Wir wollen keine Leichen mehr an unsere Haustür geliefert bekommen.‘ Wir sind auch besorgt über den Hungerstreik, der sich in den letzten 80 Tagen in türkischen Gefängnissen aus Protest gegen das ‚Imrali-Regime‘ ausbreitet. Wenn die türkische Regierung nicht reagiert, könnte sich dies zu einem gefährlichen Todesfasten entwickeln.“
Ausweitung des Isolationssystems Imrali bedeutet Institutionalisierung der Diktatur
In dem Bericht wird zudem unterstrichen, dass die Gesprächspartner die verschlechterte Menschenrechtslage im Land mit dem Umgang mit Abdullah Öcalan in Verbindung brachten: „Das Imrali-Regime sei nicht nur auf andere Gefängnisse übergeschwappt, sondern habe sich faktisch auf die gesamte Gesellschaft ausgebreitet, hieß es mehrfach. Eine solche Ausweitung des Isolationssystems Imrali bedeutet die Institutionalisierung einer Diktatur. In der Türkei werden weder die Verfassung angewandt noch eigene Gesetze oder internationales Recht und internationale Gerichtsentscheidungen. Straflosigkeit und Unterdrückung beherrschen die Tagesordnung – stillschweigend geduldet von der internationalen Gemeinschaft. Schweigen bedeutet Mittäterschaft. Wir fordern ein Ende dieses Schweigens und der Komplizenschaft, ja eine Neuordnung der wirtschaftlichen, handelspolitischen, militärischen und diplomatischen Beziehungen zur Türkei“, heißt es.
Imrali ist ein Mikrokosmos der Türkei
Als die Öcalan-Anwälte ihren Mandanten im Mai 2019 erstmals nach acht Jahren Kontaktverbot auf Imrali besuchen konnten, hatte der Vordenker der kurdischen Bewegung geäußert: „In diesem historischen Prozess, den wir durchlaufen, ist eine tiefgreifende gesellschaftliche Versöhnung erforderlich. Für die Lösung der Probleme besteht starker Bedarf an einer Methode demokratischer Verhandlungen, jenseits jeglicher Polarisierung und Konfliktkultur. Die Probleme in der Türkei und sogar in der gesamten Region, insbesondere den Krieg, können wir durch Soft power, also mit Intelligenz und politischer und kultureller Stärke lösen, statt mit physischer Gewalt.“ Diese Botschaft Öcalans wird auch im Bericht der Imrali-Delegation zitiert, bevor es heißt, die Gefängnisinsel im Marmarameer sei ein „Mikrokosmos“ der Türkei: „Es ist sowohl ein Labor für Unterdrückung als auch für menschliche Freiheiten. Die Isolation und der Mangel an Menschenrechten im Gefängnis von Imrali hat Auswirkungen auf den Zustand der Gefangenen im ganzen Land. Gleichzeitig könnte Imrali zu einem Modell für die Menschenrechte in der Türkei und darüber hinaus werden, denn die Ideen von Abdullah Öcalan sind wichtig für die Lösung von Konflikten im gesamten Nahen Osten und in der Welt im Allgemeinen.
Wie Nelson Mandela einmal sagte: Nur freie Menschen können verhandeln
Alle Fakten und Zeugnisse deuten eindeutig darauf hin, dass Imrali eine dramatische Bestätigung der Politik der Unterdrückung geblieben ist, ohne Anzeichen dafür, dass die Insel ihre schwierigere, aber sicherlich viel notwendigere Rolle übernehmen kann, Wege zu finden, Gewalt und Unterdrückung durch eine Kultur der Achtung der Menschenrechte und der Demokratie zu ersetzen. Wir sind der Überzeugung, dass Abdullah Öcalan, ähnlich wie Nelson Mandela, eine entscheidende Rolle für den Aufbau einer friedlichen und demokratischen Lösung des andauernden Konflikts zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen Freiheitsbewegung darstellt. Wir glauben daher, dass die Zeit nicht nur für ein Ende der Isolation, sondern tatsächlich für die Freiheit von Abdullah Öcalan gekommen ist, denn, wie Nelson Mandela einmal sagte, nur freie Menschen können verhandeln.“ Ein umfassender Bericht der Imrali-Delegation soll folgen.
Die Mitglieder der „Internationalen Friedensdelegation nach Imrali“
Clare Baker ist internationale Funktionärin der Gewerkschaft Unite in Großbritannien und derzeit Sekretärin der britischen Gewerkschaftskampagne „Freedom for Öcalan“.
Baronin Christine Blower ist die ehemalige Generalsekretärin der National Union of Teachers in Großbritannien und derzeit Ko-Vorsitzende der britischen Gewerkschaftskampagne „Freedom for Öcalan“.
Prof. Radha D'Souza ist eine kritische Wissenschaftlerin, Aktivistin für soziale Gerechtigkeit, Anwältin und Autorin aus Indien. Sie hat in Neuseeland gearbeitet und lehrt derzeit Rechtswissenschaften an der University of Westminster in Großbritannien.
Melanie Gingell ist Barrister und Dozentin für Internationales Menschenrecht und Feministische Rechtstheorie, war Mitglied des Vorstands des Bar Human Rights Committee of England and Wales und ist Mitglied des Lenkungsausschusses der Kampagne „Peace in Kurdistan“.
Rahila Gupta ist freiberufliche Journalistin, Autorin und Aktivistin. Sie ist ein langjähriges Mitglied der Southall Black Sisters (seit 1989), Mitglied von Women Defend Rojava UK und Schirmherrin von Peace in Kurdistan. Sie schreibt hauptsächlich über Rassismus, Sexismus und Religion.
Ögmundur Jónasson ist ehemaliger Vorsitzender der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes in Island, war Mitglied des isländischen Parlaments und war unter anderem Justizminister. Er ist Ehrenmitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates.
Dr. Thomas Jeffrey Miley ist ein erfolgreicher Autor und Wissenschaftler der Soziologie an der Universität Cambridge, der an einer Reihe von Delegationsreisen in die Türkei und nach Kurdistan, einschließlich Rojava, teilgenommen hat. Darüber hat er zahlreiche Bücher und Artikel veröffentlicht. Er ist Mitglied des Vorstandes der EU Turkey Civic Commission (EUTCC).
Laura Quagliuolo ist eine italienische Redakteurin und Autorin von Kinderschulbüchern, die seit langem in der internationalistischen Arbeit, insbesondere zu Frauenrechten, tätig ist. Derzeit ist sie in RETE JIN, einem italienischen Frauennetz zur Unterstützung der kurdischen Frauenbewegung, aktiv und gehört dem Komitee der Kampagne „Die Zeit ist reif: Freiheit für Abdullah Öcalan“ an.
Roza Salih ist Kurdin, wurde in Südkurdistan geboren und lebt seit 2001 als anerkannte Geflüchtete in Schottland. Sie ist in der Menschenrechtsarbeit aktiv und kandidiert derzeit für die Scottish National Party (SNP) bei den kommenden Wahlen.
Gianni Tognoni ist Mediziner, war Forschungsdirektor am Institut Mario Negri in Mailand und ist Generalsekretär des Permanenten Völkertribunals (Permanent Peoples’ Tribunal, PPT) seit dessen Gründung 1979. Er wurde häufig zur Zusammenarbeit mit der Weltgesundheitsorganisation berufen.