Rechtsbüro Asrin: Imrali ist ein juristisches schwarzes Loch

Das Rechtsbüro Asrin hat einen Bewertung der Vollzugsanstalt Imrali für das Jahr 2020 vorgelegt: „Imrali ist juristisch gesehen ein unkontrollierbares schwarzes Loch, das sich ständig erneuert und reproduziert.“

Das Rechtsbüro Asrin, das den kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan vertritt, hat eine Bilanz zur Situation auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali im Jahr 2020 veröffentlicht. Darin wird in 31 Punkten das auf Imrali herrschende Isolationssystem beschrieben und in diesem Zusammenhang auf aktuelle Entwicklungen hingewiesen. Das Rechtsbüro appelliert an alle Kreise, zum Kampf um Gerechtigkeit und eine demokratische Justiz beizutragen.

„1. 2020 war ein Jahr, in dem das Recht praktisch aufgehoben wurde. Das bezieht sich insbesondere auf unsere Mandanten im F-Typ-Hochsicherheitsgefängnis Imrali“, heißt es einleitend im ersten Abschnitt des mehrseitigen Berichts. Abdullah Öcalan, Hamili Yıldırım, Veysi Aktaş und Ömer Hayri Konar sei das Recht auf Kommunikation mit ihrem Rechtsbeistand und Familienangehörigen genommen worden. Diese „absolute Isolation“ bedeute systematische Folter und es bestünden „zunehmende Zweifel, ob die physische und psychische Integrität unserer Mandanten gewahrt wird“.

Weiter heißt es zusammengefasst in dem Bericht:

2. Öcalan hatte 2019 für einen begrenzten Zeitraum die Gelegenheit, auf Imrali mit seinem Rechtsbeistand und Angehörigen zu sprechen. Es wurden Stellungnahmen und Einschätzungen von ihm veröffentlicht. Der im Zuge des damaligen Hungerstreiks entstandene gesellschaftliche Druck konnte die Isolation teilweise durchbrechen. Dem Widerspruch gegen ein Gerichtsurteil, das für die Begründung des Kommunikationsverbots herangezogen wurde, ist in dieser Zeit stattgegeben worden und der Justizminister persönlich erklärte, dass Anwalts- und Familienbesuchen nichts im Weg steht.

3. 2019 konnte Abdullah Öcalan fünf Mal mit seinem Rechtsbeistand und drei Mal mit Angehörigen sprechen. Bei diesen Gesprächen ist erneut deutlich geworden, dass Öcalan einen lösungsorientierten Ansatz bei der kurdischen Frage und der Demokratisierung des Mittleren Ostens verfolgt und über großen Einfluss verfügt. In der vor allem in den letzten fünf Jahren von schlimmen Katastrophen gebeutelten Gesellschaft wurde dieser Ansatz als Hoffnung und „Politik des Lebens“ wahrgenommen. 2019 fanden die letzten Gespräche im August statt, danach wurde wieder jegliche Kommunikation unterbunden.

Öcalans Gedanken sollen isoliert werden

4. Am 15. Februar 2020 richten Menschenrechtsorganisationen, juristische Verbände und politische Persönlichkeiten einen Appell an die Öffentlichkeit, um auf das Isolationssystem auf Imrali aufmerksam zu machen und eine Wiederholung des Hungerstreiks zu verhindern. An dem Hungerstreik 2019 hatten sich über 3000 Menschen weltweit beteiligt, neun Menschen nahmen sich aus Protest das Leben. 2020 kommt es jedoch zu keinen positiven Entwicklungen. Zum Ende des Jahres beginnt ein weiterer Hungerstreik und Leyla Güven wird ein weiteres Mal verhaftet.

5. Wie in den vergangenen Jahren hat die „Internationale Imrali-Delegation“ auch 2020 eine Besuchsgenehmigung für Abdullah Öcalan beim Justizministerium gestellt. Mitglieder der Delegation sind Melanie Gingel, Felix John Padel, Julie Ward, Savanah Taj und Ögmundur Jónasson. Sie erklären am 17. Februar, bei Imrali handele es sich um ein „Labor sowohl für Unterdrückung als auch für Demokratie“, in dem es keine Menschenrechte gebe. Von Imrali aus breite sich das Isolationssystem auf alle Gefängnisse in der Türkei aus. Das System ziele darauf ab, die Gedanken Öcalans zu isolieren und ihnen ihre Wirkungskraft zu nehmen.

Kontakte zu Familienangehörigen in 2020

6. 2020 gibt es zwei Kontakte Abdullah Öcalans mit der Außenwelt: Am 3. März findet ein Familienbesuch statt, am 27. April ein Telefongespräch mit seinem Bruder. Auch diese beiden Kontakte werden mit öffentlichem Druck durchgesetzt.

7. Am 27. Februar gibt der türkische Innenminister bekannt, dass auf Imrali ein Brand ausgebrochen ist. Am 3. März findet daraufhin ein Familienbesuch statt. Das Telefongespräch am 27. April erfolgt im Zuge der allgemeinen Besorgnis hinsichtlich der Corona-Pandemie. Es ist der letzte Kontakt von Öcalan und seinen Mitgefangenen zur Außenwelt. Öcalan sagt in diesem Gespräch zu der unvorhersehbaren Situation auf Imrali: „Im Moment geht es mir gut, was zukünftig sein wird, weiß ich nicht.“

Kurden als Stabilisierungsfaktor in der Türkei

8. Trotz der eingeschränkten Möglichkeiten legt Öcalan bei den beiden Gesprächen ansatzweise dar, wie er über die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen denkt und was er für die Zukunft voraussieht. Diese Einschätzungen werden im Verlauf des Jahres bestätigt.

Am 3. März sagt er, dass die Türkei wie ein Tisch mit zwei Beinen sei und die Kurden das dritte Standbein sein müssten: „Auf zwei Beinen kann der Tisch nicht stehen, dafür ist ein drittes Bein notwendig. Ohne die Kurden kann er nicht auf den Beinen bleiben.“ Das wisse auch der türkische Staat: „Aber er versucht, ihm genehme Kurden zu erschaffen. Und das klappt nicht, es kann nicht funktionieren.“

Im Telefongespräch am 27. April weist er darauf hin, dass die Kurden gegeneinander aufgehetzt werden. Ein innerkurdischer Konflikt nütze weder dem kurdischen Volk noch der Gesamtbevölkerung der Türkei: „Keine politische Organisation darf dem Irrtum verfallen, dass sie durch einen innerkurdischen Krieg stärker werden kann und ihr ein eigener Staat zugesprochen wird“, warnte Öcalan. Diese Botschaft richte sich an alle Seiten: „Weder die Kurden noch der Mittlere Osten haben Bedarf nach einem neuen Krieg und weiterem Blutvergießen. Es besteht Bedarf nach Frieden und Einheit.“

Der CPT-Bericht und die Reaktion des Imrali-Regimes

9. Am 5. August 2020 veröffentlicht das Antifolterkomitee CPT einen Bericht zur Situation im Inselgefängnis Imrali. Der Bericht geht auf Besuche in türkischen Haftanstalten im Mai 2019 zurück. Das System und die Isolation auf Imrali werden als inakzeptabel bezeichnet. In dem Bericht heißt es, dass sich die vier Gefangenen auf der Insel bis auf neun Stunden pro Woche in absoluter Einzelhaft befinden. Als Gruppe konnten sie nur sechs Stunden pro Woche zusammentreffen und in Paaren drei weitere Stunden pro Woche: „Infolgedessen befanden sich alle Gefangenen die meiste Zeit in Einzelhaft.“ Das bedeute Isolation an 159 Stunden von 168 Stunden pro Woche. Am Wochenende sind die Gefangenen rund um die Uhr isoliert. Das CPT erklärt dazu: „Nach Ansicht des Komitees ist ein solcher Zustand nicht hinnehmbar.“

10. Im Oktober verabschiedet die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) eine Resolution zur Repression gegen die Opposition in der Türkei. Erwähnung findet auch die Isolation Abdullah Öcalans: „Die Versammlung ist zutiefst besorgt über glaubwürdige Anschuldigungen von Folterungen in Polizei- und Haftanstalten und erwartet von den türkischen Behörden eine rasche Reaktion auf diese Anschuldigungen. Die Versammlung begrüßt die Veröffentlichung von zwei Berichten, die 2017 und 2019 vom Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) erstellt wurden, im August 2020 und wiederholt ihre Forderung an die türkischen Behörden, diese ohne weitere Verzögerung zu genehmigen, die Veröffentlichung des CPT-Berichts 2016 und die Umsetzung aller verbleibenden CPT-Empfehlungen, einschließlich derjenigen, die sich auf die Situation von Herrn Abdullah Öcalan und anderen Gefangenen beziehen, die weiterhin von Kontakten zur Außenwelt abgeschnitten sind, in dem bereits in der Resolution 2260 (2019) genannten geschlossenen Hochsicherheitsgefängnis vom Typ F Imrali.“

11. Bis zum 19. April wird eine gerichtliche Anordnung als Begründung für das Verbot Anwaltsgespräche auf Imrali herangezogen. Seitdem wird bis auf die fünf stattfindenden Gespräche kein Besuchsantrag beantwortet.

12. Besuchsanträge von Angehörigen und dem gesetzlichen Vormund sind 2019 mit Verweis auf verhängte Disziplinarstrafen im Copy-Paste-Verfahren abgelehnt worden. 2020 werden die ersten drei Anträge mit Verweis auf die letzte Disziplinarstrafe aus dem Jahr 2019 abgelehnt. Seit dem 20. Januar 2020 werden Besuchsanträge nicht mehr beantwortet.

13. Nach der Veröffentlichung des CPT-Berichts werden im September 2020 plötzlich drei verschiedene Verbotsverfügungen zu Besuchen und Telefonkontakten mit dem Rechtsbeistand und Familienangehörigen vorgelegt. Mit dieser Reaktion auf den Bericht des europäischen Antifolterkomitees wird die Isolation noch weiter verschärft.

Unbeantwortete und abgelehnte Besuchsanträge

14. Im Jahr 2020 wird bis zum 23. September kein Besuchsantrag des Rechtsbeistands für Imrali beantwortet. Seit dem 25. September werden Mandantengespräche mit Verweis auf eine sechsmonatige Verbotsverfügung des Vollzugsrichters in Bursa verhindert. Auch dieser Beschluss ist in Copy-Paste-Methode verfasst.

15. Hinsichtlich der Anträge auf Besuchsgenehmigungen von Familienangehörigen sieht die Lage ähnlich aus.

16. Keinem der 96 in 2020 gestellten Besuchsanträgen des Rechtsbeistands wird stattgegeben. 68 werden gar nicht beantwortet, 28 Anträge werden mit Verweis auf Verbotsverfügungen abgelehnt. Von 50 Anträgen auf Familienbesuch werden 40 nicht beantwortet und neun abgelehnt. Ein Antrag wird angenommen.

Recht auf Kommunikation und Austausch

17. Kommunikation mit den Gefangenen auf Imrali wird durch die Corona-Pandemie noch wichtiger. Das Rechtsbüro Asrin stellt diverse Anträge auf Kommunikationsmöglichkeiten mit seinen Mandanten und zieht für eine einstweilige Anordnung vor das türkische Verfassungsgericht und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Die Eilanträge wurden abgelehnt, der Antrag in der Hauptsache ist weiterhin anhängig.

18. Die Gefangenen auf Imrali können am 27. April 2020 erstmalig ihr Recht auf telefonische Kommunikation wahrnehmen. Diese auf zwanzig Minuten beschränkten Gespräche stellen eine Premiere in der Geschichte der Gefängnisinsel dar, es ist jedoch auch der letzte Kontakt mit Imrali.

19. 2020 wird über hundert Mal eine Genehmigung für telefonische Anwalts- und Familiengespräche beantragt.

20. Auch briefliche Kommunikation kann 2020 nicht durchgesetzt werden. Das Rechtsbüro schickt dreißig Schreiben an seine Mandanten, wo sie landen, ist unbekannt. Auch von Imrali aus kommt keine Post. Es gibt überhaupt keine Informationen.

Juristische Verfahren und Gerichtspraxis

21. Das Gefängnis Imrali ist ein juristisches schwarzes Loch. In gewissen Abständen gibt es neue Verfügungen, die keiner juristischen Kontrolle unterliegen. Früher wurden Kontakte mit Imrali mit defekten Booten und schlechtem Wetter begründet, heute gibt es Anordnungen vom Disziplinarausschuss oder Gerichten, die im Copy-Paste-Verfahren hergestellt werden.

22. Der Rechtsbeistand der Imrali-Gefangenen hat keine vollständige Akteneinsicht, in jüngster Zeit erfährt das Rechtsbüro nicht einmal mehr die Aktenzeichen der laufenden Verfahren. Durch die juristische Isolation soll die Lage auf Imrali zum Dauerzustand gemacht werden.

23. Auch bei übergeordneten juristischen Stellen und Kontrollgremien kommt der Rechtsbeistand nicht weiter. Das Vollzugssystem auf Imrali unterliegt keiner juristischen Kontrolle. Einem internationalen Konzept folgend ist die Insel zum rechtsfreien Raum erklärt worden. Die Große Kammer des EGMR stellt in ihrem Urteil vom 12. Mai 2005 fest, dass Abdullah Öcalans Verfahren in der Türkei nicht vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht stattgefunden hat und sein Recht auf Verteidigung verletzt wurde. Laut Urteil muss der Prozess neu aufgerollt werden. In der Türkei wird pro forma ein neues Verfahren eingeleitet, ein neuer Prozess findet nicht statt. Der EGMR und der zuständige Ministerrat erkennen die Maßnahme trotzdem als ersten Schritt an. Dieser juristisch fragwürdige Kompromiss führt aktuell dazu, dass die für alle Mitglieder des Europarats verbindlichen Urteile des EGMR in mehreren Verfahren in der Türkei missachtet werden.

Auch hinsichtlich des EGMR-Urteils vom 18. März 2014 zur Menschenrechtswidrigkeit einer bis zum physischen Tod verhängten Freiheitsstrafe ohne Hoffnung auf Entlassung gibt es keine Entwicklungen. Diese Situation führt dazu, dass Tausende neue Bestimmungen im türkischen Strafvollzugssystem eingeführt werden.

24. Das türkische Verfassungsgericht hat hinsichtlich des Verbots von Öcalan-Büchern im Juni 2014 festgestellt, dass damit seine Gedanken- und Ausdrucksfreiheit verletzt worden ist. Trotz dieses Urteils sprechen untergeordnete Stellen weitere Verbote aus. Das Prinzip der Verbindlichkeit von Urteilen des Verfassungsgerichts wird damit außer Kraft gesetzt, was heute in vielen ähnlichen Verfahren sichtbar wird. Diese Beispiele zeigen auf, dass sich das spezifische Vorgehen gegen Öcalan nicht auf Imrali beschränkt und das gesamte Rechtssystem der Türkei umfasst.

25. Dass Gerichtsurteile nicht umgesetzt werden und auch andere juristische Verfahren in einer Dauerschleife festgehalten werden, ermutigt die zuständigen Stellen zu rechtswidrigem Vorgehen. Ein 2011 beim EGMR gestellter Antrag zur Isolation ist immer noch anhängig. Dabei handelt es sich um ein konkretes Beispiel für die gegenwärtige Situation. Die Kontaktsperre auf Imrali dauert trotz der genannten CPT-Berichte seit 21 Jahren auf willkürliche Weise an.

26. Das Rechtsbüro Asrin stellt 2020 neben den laufenden Verfahren vor regionalen Gerichten im Zusammenhang mit seinen Mandanten auf Imrali 19 Anträge vor dem Verfassungsgericht und einen beim EGMR. Zum Ende des Jahres liegen 39 Akten beim Verfassungsgericht und sieben beim EGMR. Die aus dem EGMR-Urteil von 2014 hervorgehenden Bestimmungen sind nach wie vor nicht erfüllt.

Schlussfolgerungen

27. Das Inselgefängnis Imrali unterliegt weiterhin einem spezifischen Status. Das Isolations- und Foltersystem basiert auf dem rechtswidrigen Vorgehen nicht nur der türkischen Justiz, sondern auch des internationalen Rechtssystems. Es fällt in die Verantwortung des Europarats, für die Umsetzung der Entscheidungen des EGMR und des CPT zu sorgen. Das Imrali-System konnte nur mit Einwilligung oder völliger Missachtung internationaler Institutionen etabliert werden.

28. Das Imrali-System spiegelt die Politik zur kurdischen Frage wider. Eine demokratische Lösung der kurdischen Frage als eines der Hauptprobleme im Mittleren Osten wird von Mächten abgelehnt, die von dem Kriegszustand profitieren. Abdullah Öcalan hat mit seinem demokratischen Gesellschaftsmodell eine Lösung für die seit Jahrhunderten andauernden nationalstaatlichen Konflikte vorgelegt, die vom kurdischen Volk gemeinsam mit seinen Nachbarvölkern gelebt wird.

29. Mit dem Imrali-System soll das von Öcalan vorgelegte Lösungsmodell isoliert werden. Es ist nicht zu übersehen, dass sich Abdullah Öcalan bei jeder möglichen Gelegenheit beharrlich für eine demokratische Lösung einsetzt. Das hat jeder Kontakt mit ihm bewiesen.

30. Als eine weitere wichtige Entwicklung im Jahr 2020 ruft eine internationale Aktionsgruppe den 10. Oktober zum globalen Tag für die Freiheit von Abdullah Öcalan aus. Weltweit fordern Kurd*innen und Gleichgesinnte seine Freilassung.

31. Um das Isolationssystem auf Imrali zu überwinden, müssen vor allem die jedem Menschen zustehenden universellen Rechte anerkannt werden. Es muss eine Kommunikation mit Anwälten und Angehörigen stattfinden können und die unmittelbaren Isolationsmaßnahmen müssen aufgehoben werden. Für eine wirkliche Überwindung dieses sich ständig erneuernden und reproduzierenden Systems müssen jedoch Abdullah Öcalan, das mit ihm verbundene kurdische Volk und alle anderen Völker und Menschen juristisch gleich und frei sein. Das Rechtsbüro Asrin ruft dazu auf, zu diesem Kampf für Recht und Gerechtigkeit beizutragen.