Türkei: Isolationsregime umfasst das ganze Land

Die auf Imrali jenseits der Grenzen des geltenden Rechts angewandten „Öcalan-Gesetze“ und die Isolation haben schon längst unmittelbare Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft – ob draußen oder hinter Gefängnismauern. Das wurde 2020 besonders deutlich.

Fast 22 Jahre sind bereits vergangen, seit der kurdische Vordenker Abdullah Öcalan in einem völkerrechtswidrigen Piratenakt aus Kenia in die Türkei verschleppt wurde. Seitdem wird er auf der Gefängnisinsel Imrali festgehalten – die meiste Zeit davon unter schweren Isolationshaftbedingungen. 2020 hat sich die Situation in der Hochsicherheitsvollzugsanstalt im Marmarameer weiter verschärft. Eine juristische Ummantelung für das Unrecht auf Imrali hält die türkische Justiz inzwischen für überflüssig.

Innerhalb der kurdischen Gesellschaft gibt es in diesen Tagen kaum einen Jahresrückblick oder Lagebericht, in dem nicht zu Beginn auf verschlechterte Bedingungen durch die aggressive Imrali-Politik der türkischen Regierung verwiesen wird. In den Gefängnissen der Türkei sind politische Gefangene seit dem 27. November gegen ihre entwürdigende Behandlung im Hungerstreik, weil sie die Anwendung des geltenden Rechts durchsetzen wollen. Sie fordern die Aufhebung der Isolation Abdullah Öcalans und des Konzepts ihrer physischen, psychischen und politischen Vernichtung. Der Hungerstreik wird gruppenweise im Wechsel von fünf Tagen durchgeführt. Mittlerweile hat die siebte Gefangenengruppe den Widerstand übernommen.

Unser Jahresrückblick ist gleichzeitig ein Ausblick auf potenzielle Schlagzeilen des kommenden Jahres. Wie bereits nach dem letzten Anwaltsbesuch bei Öcalan am 7. August 2019 blieben auch die 2020 gestellten Besuchsanträge des Rechtsbüros Asrin, das den PKK-Gründer seit seiner Entführung vertritt, fast immer unbeantwortet. Lediglich in 25 von 93 Fällen verwies die Generalstaatsanwaltschaft Bursa auf eine gegen Öcalan verhängte Disziplinarstrafe, um einen trügerischen Anschein von Rechtsstaatlichkeit zu erzeugen. Auch Öcalans Mitgefangenen Ömer Hayri Konar, Hamili Yıldırım und Veysi Aktaş wird das Recht auf anwaltliche Betreuung verwehrt. Familienangehörige konnten zuletzt am 3. März die Imrali-Gefangenen besuchen. Weitere sieben Besuchsanträge wurden unter Bezugnahme auf Disziplinarstrafen abgelehnt, auf vierzig Anträge erfolgte gar keine Reaktion von Seiten türkischer Behörden.

Brand auf Imrali

Am 27. Februar gab die Erklärung des türkischen Innenministeriums über einen Waldbrand auf Imrali Anlass zur Sorge. Die Forderung von Asrin nach sofortigem Zugang zur Insel wurde abgelehnt, der Antrag der Familienangehörigen hingegen positiv beschieden. Doch schon am 28. Februar ließ die Gefängnisverwaltung telefonisch ausrichten, dass der Besuch abgesagt worden ist. Eine Begründung wurde nicht genannt. Daraufhin stellten die Familien erneut einen Antrag. Abdullah Öcalan konnte am 3. März seinen Bruder Mehmet Öcalan treffen. Auch seine Mitgefangenen Ömer Hayri Konar und Veysi Aktaş bekamen Besuch von ihren Angehörigen. Der vierte Gefangene Hamili Yıldırım bekam keinen Besuch, weil das Familienmitglied krank war.

Stärkung des „dritten Weges“

Im Gespräch mit seinem Bruder ermutigte Abdullah Öcalan die Demokratische Partei der Völker (HDP), ihre Strategie des „dritten Weges“ zu stärken. Seine Gedanken formulierte er mit den Worten: „In der Türkei gibt es einen Tisch mit zwei Beinen. In eurem Zusammenschluss gibt es auch linke Bewegungen. Vor allem gibt es Kurden. Es gibt auch andere Völker. Auch ihr müsst ein Standbein sein. Ihr müsst dort eine Kraft sein. Wenn der Tisch drei Beine hat, fällt er nicht um. Ein zweibeiniger Tisch ist immer zum Zusammenbruch verurteilt, wie sehr ihn das System auch zu schützen versucht. Daher ist unsere Formation, die Kurden, das dritte Standbein. Dieses dritte Bein entsteht durch Wachstum.“

Erstes Telefonat nach 21 Jahren

Vor dem Hintergrund der sich spätestens ab März weltweit rasend schnell ausbreitenden Corona-Pandemie setzten sich der Rechtsbeistand der Imrali-Gefangenen sowie ihre Angehörigen intensiv für eine sofortige Kontaktaufnahme ein. Erstmals und bisher das einzige Mal wurden am 27. April Telefongespräche ermöglicht. Öcalan betonte im Gespräch mit seinem Bruder die Bedeutung einer Verständigung unter den kurdischen Parteien auf ein gemeinsames Vorgehen. Mit Blick auf die Spannungen in Südkurdistan sagte der PKK-Gründer, dass Kurden gegen Kurden ausgespielt würden und aus einem solchen Konflikt nichts für die Kurden zu gewinnen sei. Diese Politik werde aber auch der Türkei nicht zum Vorteil gereichen. Weder die PDK noch die YNK oder irgendeine andere kurdische Bewegung solle dem Trugschluss aufsitzen, dass ihnen für ihre Unterstützung das Recht auf einen eigenen Staat gewährt werde. Das sei weder akzeptabel noch realistisch. Öcalan forderte, auf der Grundlage kurdischer Einheit zu agieren.

Abdullah Öcalan wies in dem zwanzigminütigen Telefonat darauf hin, dass ein Blutvergießen in Südkurdistan dem kurdischen Volk als Ganzes eine Niederlage einbringen würde. Seine Botschaft richtete sich sowohl an Qendîl als auch an die Regionalregierung in Hewlêr. Die Kurden bräuchten keinen Krieg und kein Blutvergießen, sondern Frieden. Öcalan schlug zudem eine Aktualisierung des Protokolls von 1982 vor, einem Zehn-Punkte-Abkommen, das mit Idris Barzani, dem Vater von Neçirvan Barzani, geschlossen worden war.

CPT-Bericht

Seit dem Telefonat mit den Imrali-Gefangenen im April herrscht wieder totale Funktstille. Auch das Antifolterkomitee des Europarats (CPT) kritisiert inzwischen dieses Vorgehen der türkischen Behörden. In einem im August 2020 veröffentlichten Bericht hat das CPT zum ersten Mal die Isolation auf Imrali als solche benannt und die Zustände dort als „nicht hinnehmbar“ bezeichnet. Das Komitee fordert „ein Gleichgewicht zwischen solchen Sicherheitserwägungen und den grundlegenden Menschenrechten der betroffenen Gefangenen“ und appelliert an die türkische Regierung, ein „nachhaltiges System“ regelmäßiger Besuche von Familienmitgliedern und Anwälten auf Imrali zu schaffen.

Verbotspraxis hält an

Entgegen den Erwartungen des CPT erteilte das Vollzugsgericht in Bursa am 23. September auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft ein sechsmonatiges Besuchsverbot für die Gefängnisinsel Imrali. Begründet wurde das Verbot mit den Disziplinarstrafen gegen die Gefangenen in den Jahren 2005 bis 2009 und der 2009 von Abdullah Öcalan verfassten „Roadmap für Verhandlungen“, die dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) als Verteidigungsschrift vorgelegt wurde. In deutscher Übersetzung ist die Schrift 2019 als Buch veröffentlicht worden. Das Verbot umfasst auch Telefonkontakte der Imrali-Gefangenen.

Isolation betrifft das ganze Land

Die auf Imrali jenseits der Grenzen des geltenden Rechts angewandten Gesetze haben inzwischen unmittelbare Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft. Das Festhalten der türkischen Regierung am Isolationsregime, die damit einhergehende ungelöste kurdische Frage und eine auf Krieg und Konflikte ausgelegte Eskalationspolitik haben das Land wirtschaftlich und politisch in eine chaotische Lage versetzt und spiegeln sich vor allem in der besorgniserregenden Beschneidung von Grundfreiheiten wider. Das ganze Jahr über sind Kampagnen initiiert worden, um die Isolation Abdullah Öcalans und damit einhergehende direkte Auswirkungen auf die Gesellschaft zu beenden und der Forderung nach Freiheit für den PKK-Gründer zum Ausdruck zu bringen. Den letzten Schritt in diese Richtung machten die politischen Gefangenen mit ihrem Hungerstreik, an dem sich inzwischen 2.500 Inhaftierte beteiligen. Zwar wird die Aktion derzeit noch im Wechsel durchgeführt, Mitte Dezember hatten die Gefangenen allerdings davor gewarnt, zu einem dauerhaften Hungerstreik ohne Ablösung überzugehen, sollte der Widerstand in Gruppen nicht wirken.

Zusammenfassung der wichtigsten Ereignisse in und um Imrali in 2020:

31. Januar: Die HDP-Abgeordnete Feleknas Uca reicht beim Justizministerium eine Anfrage zur juristischen Grundlage der Isolation auf Imrali ein.

15. Februar: Anlässlich des Jahrestags des internationalen Komplotts wird die Beendigung der Isolation sowie die Freiheit von Abdullah Öcalan gefordert. +++ Die „Internationale Friedensdelegation nach Imrali“ äußert bei ihrem Türkei-Besuch ihre „Besorgnis” angesichts des Abbruchs der Gespräche mir Öcalan. Eine Anfrage an das Justizministerium, Verantwortliche des Ministeriums sowie Abdullah Öcalan auf Imrali zu treffen, bleibt unbeantwortet.

25. Februar: Das Rechtsbüro Asrin fordert das CPT auf, den Bericht über die fast ein Jahr zuvor durchgeführte Inspektion im Inselgefängnis Imrali zu veröffentlichen.

27. Februar: Der türkische Innenminister gibt bekannt, dass auf Imrali ein Brand ausgebrochen ist.

28. Februar: Die Angehörigen der Imrali-Gefangenen machen sich nach einem genehmigten Besuch auf den Weg nach Imrali, müssen jedoch wieder umkehren, nachdem der Termin kurzfristig abgesagt wird.

3. März: Ein erneuter Besuchsantrag wird schließlich angenommen, sodass zumindest bei drei Imrali-Gefangenen ein persönlicher Kontakt ermöglicht wird.

27. April: Erstmals seit seiner Verschleppung in die Türkei wird Abdullah Öcalan telefonischer Kontakt zu seinen Angehörigen erlaubt. Auch seine Mitgefangenen dürfen mit ihren Familien telefonieren.

19. Juni: Die Anwälte von Asrin ziehen für die Aufhebung der Kontaktsperre für Abdullah Öcalan und seine drei Mitgefangenen vor das Verfassungsgericht.

16. Juli: Im Rahmen der Kampagne „Freiheit für Abdullah Öcalan“ initiieren britische Gewerkschaften eine virtuelle Kundgebung. Die international geführte Initiative wird in Großbritannien von führenden Gewerkschaften getragen.

22. Juli: Das türkische Verfassungsgericht lehnt die Aufhebung der Kontaktsperre für Abdullah Öcalan und seine drei Mitgefangenen auf Imrali ab.

29. Juli: Das Rechtsbüro Asrin bringt die Kontaktsperre auf Imrali in einem Eilantrag vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg.

5. August: Das Antifolterkomitee CPT veröffentlicht seinen Bericht zur Situation im Inselgefängnis Imrali.

6. August: Für die Anwälte von Asrin erscheint der CPT-Bericht zur Lage Abdullah Öcalans und seiner drei Mitgefangenen „mangelhaft”. Zu „zaghaft” werde auf das in dem Inselgefängnis umgesetzte Foltersystem hingewiesen, kritisieren die Juristen. Internationale Menschenrechtsorganisationen werden aufgerufen ihre Mission zu erfüllen und wirksamere Mechanismen in Kraft zu setzen, die Misstände auf der Gefängnisinsel aus dem Weg räumen.

12. September: Der Exekutivrat der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) startet eine Offensive unter dem Motto „Schluss mit Isolation, Faschismus und Besatzung – Zeit für Freiheit“. Die Offensive richtet sich gegen das Regime in der Türkei und wird weltweit geführt.

2. Oktober: Die HDP initiiert zusammen mit ihrer Schwesterpartei DBP, dem Demokratischen Gesellschaftskongress (KCD) sowie der kurdischen Frauenbewegung TJA die Kampagne „Unsere Einheit gründen, die Isolation durchbrechen, Freiheit erreichen”. +++ Das mehr als eine Woche zuvor durch ein Vollzugsgericht angeordnete sechsmonatige Besuchsverbot für das Anwaltsteam der Imrali-Gefangenen wird bekannt.

7. Oktober: Das Rechtsbüro Asrin legt Beschwerde gegen das Besuchsverbot ein.

10. Oktober: Den Imrali-Gefangenen wird ein sechsmonatiges Telefonverbot erteilt. Der Beschluss wurde am 7. September vom Verwaltungs- und Beobachtungsausschuss des Hochsicherheitsgefängnisses angeordnet.

23. Oktober: Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) verabschiedet eine Resolution zur Repression gegen die Opposition in der Türkei. Erwähnung findet auch die Isolation Abdullah Öcalans: „Die Versammlung ist zutiefst besorgt über glaubwürdige Anschuldigungen von Folterungen in Polizei- und Haftanstalten und erwartet von den türkischen Behörden eine rasche Reaktion auf diese Anschuldigungen. Die Versammlung begrüßt die Veröffentlichung von zwei Berichten, die 2017 und 2019 vom Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) erstellt wurden, im August 2020 und wiederholt ihre Forderung an die türkischen Behörden, diese ohne weitere Verzögerung zu genehmigen, die Veröffentlichung des CPT-Berichts 2016 und die Umsetzung aller verbleibenden CPT-Empfehlungen, einschließlich derjenigen, die sich auf die Situation von Herrn Abdullah Öcalan und anderen Gefangenen beziehen, die weiterhin von Kontakten zur Außenwelt abgeschnitten sind, in dem bereits in der Resolution 2260 (2019) genannten geschlossenen Hochsicherheitsgefängnis vom Typ F Imrali.“

27. November: Die politischen Gefangenen aus PKK- und PAJK-Verfahren starten einen vorerst befristet und gruppenweise durchgeführten Hungerstreik gegen die Isolation auf Imrali.

4. Dezember: Den Angehörigen der Imrali-Gefangenen wird mit Verweis auf Disziplinarstrafen, die am 30. September verhängt worden seien, ein Besuchsverbot erteilt.