Die Öcalan-Gesetze als Lackmustest für das Rechtssystem

Newroz Uysal, Anwältin des auf Imrali isolierten kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan, spricht über die Isolation ihres Mandanten und die juristische, menschenrechtliche und universelle Dimension von Imrali.

Seit mehr als 21 Jahren befindet sich der kurdische Repräsentant Abdullah Öcalan in Totalisolation im Sondergefängnis auf der Insel Imrali. Nur durch massive Protestaktionen konnte die Isolationsfolter in den letzten Jahren durchbrochen werden. Nach einem weltweiten Hungerstreik konnte Öcalans Rechtsbeistand seinen Mandanten einige wenige Male im Jahr 2019 besuchen. Diese Treffen wurden im August 2019 abgebrochen. Seitdem ist Öcalan wieder vollständig isoliert. Die Sondergesetze und Regelungen, die Öcalan und damit den Repräsentanten von Millionen Kurdinnen und Kurden betreffen, gelten als Maßstab für die Kurdenpolitik des Erdoğan-Regimes. Das Rechtsbüro Asrin, das den kurdischen Vordenker vertritt, bezeichnet diese Regelungen als „Öcalan-Gesetze“. Rechtsanwältin Newroz Uysal hat Öcalan 2019 mehrfach besuchen können. Im ANF-Gespräch erläutert sie die Bedeutung der Isolation Öcalans.

 

Die kurdische Frage und Imrali

Uysal sieht Parallelen zur Isolation Nelson Mandelas auf Robben Island und dem rechtsfreien Status von Guantanamo: „Diese Vergleiche sind teilweise zutreffend, aber auf Imrali handelt es sich um eine sehr spezielle Situation. In der Geschichte waren Führungspersönlichkeiten in nationalen Befreiungskämpfen immer der Repression ausgesetzt und haben dagegen Widerstand geleistet. Neben diesem Widerstand von Einzelpersonen haben Bewegungen für ihre Rechte gekämpft. Damit einhergehend finden in den jeweiligen Regionen und weltweit Entwicklungen statt. Hinsichtlich der Situation von Herrn Öcalan lässt sich feststellen, dass die kurdische Frage sowohl im Mittleren Osten als auch in der Türkei ihre Schärfe bewahrt. Weltweit gibt es keine politische Kraft, die einer demokratischen Lösung der kurdischen Frage zugeneigt ist. Im Gegenteil, wir befinden uns in einem von einer antidemokratischen Tendenz geprägten Prozess, durch den eine Lösung durch Integration in die kapitalistische Moderne aufgezwungen werden soll. Unter diesem Gesichtspunkt können wir in Bezug auf Herrn Öcalan leider nicht von einem Entwicklungsprozess sprechen, wie es ihn bei den anderen Beispielen politischer Gefangener gegeben hat. Es findet keine Entwicklung statt, in der eine friedliche Lösung geschaffen und schließlich die Freilassung erreicht wird. Selbst wenn man annimmt, dass diese Möglichkeit im Friedensprozess zwischen 2013 und 2015 bestanden hat, ist dennoch zu bezweifeln, dass eine ausreichende politische Vorbereitung oder juristische Basis existiert hat.“

Die Freiheit von Herrn Öcalan ist möglich“

Uysal weist darauf hin, dass die Haft Öcalans politische Gründe hat und die juristische Dimension anders als in ähnlichen Fällen weltweit kaum eine Rolle spielt: „Wir sagen seit 22 Jahren, dass die Haftbedingungen Öcalans ein politisches Fundament haben und das juristische System zum Mittel der Politik gemacht wird.“ Auch wenn die Haftbedingungen jeglicher rechtlicher Basis entbehrten und juristisch nicht existieren dürften, würden diese aufgrund politischer Entscheidungen fortgesetzt. Daher sei ein paralleler politischer Prozess notwendig. Die Rechtsanwältin führt aus: „In allen Beispielen weltweit war das so. Es gab eine Änderung des Rechts aufgrund einer Revolution, eines Putsches oder der Stärke, die ein Kampf erreicht hat. Als Herr Öcalan zum Tode verurteilt wurde, ist die Gesetzeslage geändert und seine Strafe in eine verschärfte lebenslängliche Freiheitsstrafe umgewandelt worden. Nach 2014 hätte aufgrund einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte eine Neuregelung der lebenslänglichen Haftstrafe getroffen werden müssen. Mit einer Gesetzesänderung wäre es zu jeder Zeit möglich, einen Kontrollmechanismus zu schaffen und Herrn Öcalan freizulassen. Dafür muss jedoch eine politische Kraft existieren, die eine Grundlage dafür schafft. Leider gibt es diese nicht.“

Was sind die „Öcalan-Gesetze“?

Uysal beschreibt den Komplex der „Öcalan-Gesetze“ mit den Worten: „Mit der Ergreifung von Herrn Öcalan hat ein Prozess begonnen, in dem das Recht vollkommen missachtet wird. Seine Ergreifung, die Inhaftierung auf der Insel, das Fehlen eines Status als Haftanstalt für das Einpersonengefängnis auf Imrali und eine ganze Serie von rechtswidrigen Praktiken sind Teil dessen, was wir als ‚Öcalan-Gesetze‘ beschreiben. Dieser Prozess hat im Laufe der Zeit zu Änderungen in der Gesetzgebung geführt. Es handelt sich um ein Konglomerat an Rechtsbrüchen, das wir als ‚Öcalan-Gesetze‘ beschreiben. Beispielsweise werden einige der Gesetze nur auf Imrali angewendet. Das Anwaltsverbot auf Imrali im Jahr 2005 ist ein Beispiel dafür. Bis zum Putschversuch 2016 ist die Prozedur des Anwaltsverbots nur gegen Herrn Öcalan angewendet worden. Auch das Abhören von Mandantengesprächen hat offiziell das erste Mal auf Imrali stattgefunden. Viele der heutigen Rechtsverletzungen in den Gefängnissen sind erstmalig auf Imrali praktiziert worden und haben sich dann auf alle anderen Vollzugsanstalten ausgebreitet. Die Gesetze, die formal für alle gelten, aber nur auf Imrali Anwendung finden, nennen wir Öcalan-Gesetze.“

13 Monate keine Reaktion auf Besuchsanträge

Zum Abbruch des Kontakts zu Öcalan seit August 2019 sagt Uysal: „Schon vor dem Hungerstreik 2019 hatte es ab 2016 aufeinanderfolgende sechsmonatige Besuchsverbote gegeben. Aber nach unserem letzten Besuch am 7. August 2019 wurden bis September 2020 sämtliche unsere Anträge einfach ignoriert. Das war auch ein Novum in der Geschichte von Imrali. Wir erhielten 13 Monate lang keinerlei Antwort. Anschließend wurde wieder ein sechsmonatiges Anwaltsbesuchsverbot verhängt. Das Verbot wird mit Disziplinarstrafen gegen Herrn Öcalan aus dem Jahr 2009 begründet. Das gleiche gilt für das Besuchsverbot für Angehörige.“

Menschenrechtler schweigen

Die Anwältin geht auch auf die Rolle von Menschenrechtsorganisationen in der Türkei und Nordkurdistan ein und kritisiert deren Haltung: „Unabhängig von der politischen Rolle, die Herr Öcalan als Vertreter eines Volkes und dessen Anführer einnimmt, ist er juristisch betrachtet ein Strafgefangener. Dies betrifft sowohl die Strafgesetzgebung als auch die Regelungen des Strafvollzugs. Wenn wir von seiner Ergreifung und Verschleppung ausgehen und seine 22-jährige Isolation betrachten, dann kann hier nur von einer sehr zweifelhaften Situation gesprochen werden. Es gibt Personen und Institutionen, die sich Herrn Öcalans juristische Position vor Augen führen und dieser das Recht missachtenden, einseitigen juristischen Interpretation ein ‚Aber‘ gegenüberstellen. Zu diesen gehören auch das Antifolterkomitee des Europarats und der Europarat selbst. In Bezug auf Guantanamo haben weltweit Kampagnen stattgefunden. In Gerichtsurteilen wird Guantanamo als ‚schwarzes Loch‘ bezeichnet. Zu Imrali, dem Prototyp von Guantanamo, schweigen die genannten Institutionen jedoch.

In den Berichten des Europarats kann man viele Beispiele von Gefängnissen finden, aber eben nichts zu Imrali. Dahinter steckt eine bewusste politische Entscheidung. Herrn Öcalans politische Position ist in den letzten 22 Jahren nicht schwächer geworden, im Gegenteil. Er hat selbst vom Gefängnis aus eine fundierte gedankliche Analyse des Problems betrieben und sich für eine konkrete Lösung auf demokratischer und friedlicher Grundlage eingesetzt. Er selbst beschreibt diese Phase als ‚Fortsetzung des Verständigungsprozesses‘. Diese Rolle als Ansprechpartner hat viele Menschen und Institutionen vor allem im menschenrechtlichen Bereich dazu bewegt, der rechtswidrigen Situation zu widersprechen. Für seine Situation gibt es keine moralische, ethische oder juristische Begründung. Weil es praktisch keine oder nur unzulängliche Proteste gegeben hat, hat sich die Praxis auf Imrali mit dem Ausnahmezustand auf alle Gefängnisse ausgeweitet. Ein Unrecht bringt unweigerlich das nächste hervor. Herr Öcalan ist ein Lackmustest für die türkische Justiz – diese entscheidende Rolle Öcalans ist unbestreitbar.“