„Einer der einflussreichsten Denker unserer Zeit”

Mit „Die Überwindung der kapitalistischen Moderne. Eine Einführung in die politische Philosophie Abdullah Öcalans“ liegt erstmals ein deutschsprachiger Einstieg in das Gesamtwerk des PKK-Gründers vor. Wir haben mit dem Autoren Peter Schaber gesprochen.

Im Münsteraner Unrast-Verlag ist im Oktober erstmals eine deutschsprachige Zusammenfassung der Theorie der kurdischen Freiheitsbewegung erschienen: „Die Überwindung der kapitalistischen Moderne: Eine Einführung in die politische Philosophie Abdullah Öcalans" aus der Feder von Peter Schaber ermöglicht einem breiten Publikum einen verständlichen Zugang zu den umfangreichen Schriften des PKK-Begründers, in denen er so hartnäckig wie optimistisch gegen die vermeintliche Alternativlosigkeit des Bestehenden anschreibt. Wir haben mit Peter Schaber darüber gesprochen, welche Motivation sich hinter dem Projekt verbirgt und was er selber über die Ideen Öcalans denkt.

Warum wolltest du dieses Buch schreiben?

Das Ziel des Buches ist sehr simpel: Seit der Schlacht um Kobanê haben sich auch in Deutschland immer mehr Menschen für die kurdische Bewegung zu interessieren begonnen. Aber auch in internationalistischen Kreisen ist der Zugang zu Öcalans Schriften oft schwer für die neu Interessierten. Die Bücher sind lang und oft schwierig. Die Idee einer Einführung kam aus diesem Bedürfnis: Einen kurzen Einstieg in das Gesamtwerk, einen Überblick zu geben, um zum Weiterlesen anzuregen.

Erstaunlich war für mich, als ich das erste Mal mit Genoss*innen der Internationale Initiative „Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan” über die Idee sprach, dass es wirklich kaum Einführungen gibt, nicht auf Deutsch, nicht auf Englisch. Öcalan ist ja – egal, ob man ihm zustimmt oder nicht – einer der einflussreichsten linken Denker unserer Zeit. Für die meisten anderen Philosophen und Denker seines Ranges existiert eine breite Palette an Sekundärliteratur, bei ihm nicht. Da wollte ich einen Beitrag leisten, um diese Lücke zumindest ein wenig zu schließen.

Ist es schwer, die politische Philosophie Öcalans zu verstehen?

Ich finde, viele der Gedanken Öcalans sind sehr leicht zugänglich. Und das ist auch gut so. Wenn man eine gute Idee hat, gibt es keinen Grund, sie unnötig kompliziert aufzuschreiben, nur um irgendein akademisches Publikum zu begeistern. Gerade eine politische Philosophie, die Massen erreichen will, muss klar und deutlich formuliert sein.

Aber natürlich, wenn jemand über alle möglichen Themen von der menschlichen Frühgeschichte über Ökonomie bis zu Quantenphysik und Dialektik schreibt, ist das nicht voraussetzungslos. Man muss schon an der ein oder anderen Stelle auch die Werke lesen, auf die sich Öcalan bezieht.

Viele der Kernideen sind aber, wie Brecht sagen würde, das Einfache, das schwer zu machen ist. Die Idee einer geschlechtergerechten, ökologisch nachhaltigen kommunalen Demokratie etwa ist zwar leicht nachzuvollziehen, aber das Schwierige ist ja, die Strategien und Taktiken zu entwickeln, um sie auch wirklich zu erkämpfen.

An der Verschleppung Abdullah Öcalans in die Türkei waren viele Staaten beteiligt. Warum wurde er für sie zu einem Angriffsziel?

Öcalan ist der erklärte Gegner der kapitalistischen Moderne. Und so ist es ganz selbstverständlich, dass die imperialistischen Nationen ihn einsperren und versuchen, mundtot zu machen. Bei seiner Verhaftung spielte sicherlich der Versuch, die PKK zu zerschlagen, die Hauptrolle. Sie dachten, wenn Öcalan im Gefängnis sitzt, kann die Partei nicht weiter bestehen oder gar kämpfen. Heute, zwei Jahrzehnte später, ist allen klar, dass diese Rechnung nicht aufgegangen ist. Im Gegenteil. Die Partei ist wirkmächtiger denn je und Öcalan hat sogar aus dem Knast heraus eine umfassende theoretische Erneuerung durchgesetzt.

Das ist global sehr bedeutend. Denn in einer Zeit, in der weltweit eher faschistische, liberale oder islamistische Kräfte einflussreich sind, ist eine sozialistische, linke Kraft, die weiter kämpft, den Herrschenden natürlich besonders ein Dorn im Auge. Das zeigt sich ja auch in dem Ausmaß, das die Kriminalisierung Öcalans und seiner Schriften erreicht hat. Der deutsche Staat kriminalisierte den Verlag, der seine Bücher herausgab, und beschlagnahmte ganze Auflagen. Und auf Demonstrationen ist es sogar verboten, sein Bild zu zeigen - was schon ganz gut die Angst zeigt, die die Herrschenden hierzulande vor ihm haben.

Also ist die Furcht der Herrschenden der Grund dafür, warum er noch im Gefängnis ist?

Meiner Meinung nach ist das, was Öcalan vorschlägt, heute der einzig sinnvolle Weg für den Mittleren Osten. Der arabische Sozialismus hat sich überlebt und in der ganzen Region gibt es die Frontstellung zwischen autoritären Regimen, islamistischen Terrorbanden und imperialistischen Mächten von außen. Ein progressiver Impuls für eine wirkliche Demokratisierung des Mittleren Ostens jenseits der alten Kolonialgrenzen und jenseits der ethnischen sowie religiösen Konflikte ist bitter nötig.

Und Öcalans Vorschlag ist zugleich ja nicht nur eine Idee irgendeines Akademikers. Sie hat bereits in der Praxis, im demokratischen Aufbau in Nord- und Ostsyrien erwiesen, dass sie zur Versöhnung von Kurden, Arabern, Christen, Eziden, Männern und Frauen beitragen kann. Sogar unter ständigen Angriffen der türkischen Armee und des IS wurde dieser Beweis erbracht. Man kann sich leicht in anderen Regionen vorstellen, wie eine verstärkte Rezeption Öcalans festgefahrene Fronten aufbrechen könnte - man denke nur an Palästina und die fruchtlose Debatte um eine längst nicht mehr realisierbare „Zwei-Staaten-Lösung”.

Seine Thesen könnten also die Grundlage für eine Lösung der Krise im Mittleren Osten bieten?

Die kurdische Bewegung ist in vier der wichtigsten Länder der Region aktiv: In Syrien, dem Irak, der Türkei und dem Iran. Und in all diesen Ländern bestehen ungelöste Konflikte. Wenn diese Staaten eine Lösung wollten, müssten sie Öcalan frei lassen und ihn als legitimen Vertreter des kurdischen Volkes an den Verhandlungstisch einladen. Wenn er freigelassen würde, würde sich jedenfalls die Situation fundamental verändern.

Aber meiner Meinung nach hat die Türkei keinerlei Interesse an einem gerechten Frieden und somit auch nicht an der Freilassung Öcalans. Die einzige Chance für seine Freilassung wäre eine Revolution in der Türkei selbst.


Peter Schaber, Jahrgang 1983, hat Philosophie studiert, bevor er einige Jahre als Redakteur und Journalist für die Tageszeitung Junge Welt arbeitete. Danach machte er eine Umschulung in einen Handwerksberuf. Seit etwa 15 Jahren ist er in verschiedenen Organisationen der deutschen Linken aktiv, recht früh gehörte die Kurdistan-Solidarität zu einem seiner Schwerpunkte. Nach einigen Reisen in die Türkei und nach Bakur (Nordkurdistan) in den Jahren 2013 bis 2016 reiste er im Jahr 2017 nach Rojava, wo er in der Internationalistischen Kommune mitarbeitete. Gegen Sommer 2017 absolvierte er eine militärische Ausbildung bei den ezidischen Widerstandseinheiten YBŞ (Yekîneyên Parastina Şengalê) in der Şengal-Region. Danach ging er nach Raqqa in Nordsyrien und beteiligte sich an der Befreiung der Stadt.

Peter Schaber ist Redakteur beim internationalistischen Medienkollektiv lower class magazine und hat insgesamt an drei Büchern zu Kurdistan mitgewirkt: „Hinter den Barrikaden”, das vom Städtekrieg in Bakur erzählt, „Konkrete Utopie”, ein Reisetagebuch durch Rojava und aktuell „In Verteidigung der Demokratischen Zivilisation”. Schaber lebt und arbeitet in Berlin.