Mit dem Werk »Die Überwindung der kapitalistischen Moderne: Eine Einführung in die politische Philosophie Abdullah Öcalans« aus der Feder des Berliner Journalisten, Autoren und Aktivisten Peter Schaber erscheint diese Woche im Unrast-Verlag die erste deutschsprachige Einführung in das Gesamtwerk des kurdischen Vordenkers und PKK-Begründers. Abdullah Öcalans Gefängnisschriften sind nicht weniger als der Entwurf einer erneuerten linken Gesamtschau auf die Welt im Ganzen. Nach dem Scheitern des realexistierenden Staatssozialismus hat er die theoretischen Grundlagen der kurdischen Freiheitsbewegung von Grund auf umgekrempelt. In einer Odyssee durch Tausende Jahre Menschheitsgeschichte erforscht er Patriarchat und Klassengesellschaft, aber auch die Perspektiven eines Kampfes für radikale Demokratie, soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit. Die Einführung Schabers ermöglicht einem breiten Publikum einen verständlichen Zugang zu Öcalans umfangreichen Schriften, in denen er so hartnäckig wie optimistisch gegen die vermeintliche Alternativlosigkeit des Bestehenden anschreibt.
Mit Genehmigung des Verlags veröffentlichen wir einen Auszug aus dem 4. Kapitel des Buches »Der Aufbruch: Demokratische Moderne und Sozialismus« vorab:
Wir haben gesehen, wie stark die Kräfte sind, die heute auf der Gesellschaft lasten. Was also tun? Wie könnte ein anderes Zusammenleben aussehen, eines jenseits von Staat, Macht und Gewalt, jenseits von Klassen und Patriarchat? Öcalans These ist, dass das Zusammenleben des Gattungswesen Mensch nach einer bestimmten Form verlangt. Das nennt er Gesellschaftlichkeit überhaupt. Diese Form schließt politische Selbstbestimmung als Kollektiv, Freiheit und Gleichheit, ein. Diese demokratische Kommunalität wird durch den ganzen Zivilisationsapparat der Macht- und Kapitalmonopole bedrängt, verzerrt, geschwächt. Aber sie verschwindet nicht, selbst wenn sie – wie in modernen kapitalistischen Gesellschaften – schon beinahe komatös ist. Öcalan meint nun, das politische Projekt der Emanzipation bestehe nicht in einer Art social engineering, bei dem man eine neue Gesellschaft auf dem Reißbrett entwirft, um sie dann umzusetzen. Vielmehr sei die eigentliche Aufgabe, die Selbstermächtigung der Gesellschaft zu befördern – intellektuell, kulturell, durch den Aufbau geeigneter Institutionen sowie durch politische und – wo unvermeidbar –in letzter Instanz militärische Selbstverteidigung.
Die Gesellschaftsordnung, die der politisch-moralischen Gesellschaft entspricht, kann man Sozialismus nennen. Dass Öcalan den in der Sowjetunion unternommenen Versuch des Aufbaus des Sozialismus für gescheitert hält, ändert daran nichts. Vielmehr will er aus diesem Scheitern die Konsequenzen für einen neuen Anlauf ziehen. Und eine der wichtigsten ist, wie bereits angedeutet, dass dieser neue Sozialismus nicht einfach den Staatsapparat des Nationalstaats übernehmen – und dann noch ausbauen – kann. Das führte historisch zum Tod jener radikalen Demokratie, die Öcalan in den ursprünglichen Sowjets, den Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräten, sieht. Der Sozialismus aber muss demokratisch sein, oder er kann gar nicht sein. »Seinem Inhalt nach hätte der Sozialismus dasjenige System sein müssen, das eine demokratischere Gesellschaft entwickelt als jedes andere«, schreibt er (GE1, S427). Häufig verwendet Öcalan jenes Begriffspaar als Synonym für »Sozialismus«, das er schon für die Beschreibung der kommunalen Urgesellschaft nutzt: Freiheit und Gleichheit. Die dialektische Einheit beider ist Sozialismus. Ein staatlich verfasster Sozialismus aber kann beide nicht verwirklichen – und ihre Einheit schon gar nicht. Das Defizit der Bildung und Entwicklung von basisdemokratischen Institutionen kann sich ein erneuter Anlauf zum Sozialismus nicht leisten. »Die Kraft des Sozialismus aber wird sich erst mit einem weitgefassten, tiefen demokratischen Bewusstsein der Gesellschaft, ihrer dementsprechenden Organisierung und Lebensweise entfalten können. Nicht der Staat muss gestärkt werden, sondern die Gesellschaft an Kraft gewinnen. Der Weg dahin ist die demokratische Gesellschaft, der Name des Prozesses die demokratische Zivilisation.« (GE1, S427)
Man muss genau lesen: Der »Weg« zum Sozialismus führt über eine Stärkung der »demokratischen Gesellschaft«, mithilfe des Konzepts, das unter dem Namen »demokratischer Konföderalismus« Bekanntheit erlangt hat. Das »Zeitalter der demokratischen Zivilisation«, schreibt er auch, sei »die Phase des Übergangs zwischen der eskalierenden, permanenten Krise des alten Zivilisationssystems und dem noch nicht konkret herausgebildeten neuen zivilisatorischen Aufbruch« (GE1, S404). Sein Gedanke ist, dass der Weg zum Sozialismus nicht die Machtergreifung im bürgerlichen Staat und der darauf folgende Aufbau des Sozialismus sein kann; so würde man nur den Weg des Staatssozialismus gehen, der »eine grundlegende gesellschaftliche Arbeit wie den Aufbau des Sozialismus, der vollständig durch die demokratische Moderne erfolgen muss, durch die ›sozialistische Macht‹ von vornherein vereitelte« (DKZ, S263). Oder anders ausgedrückt: »Ebenso wenig man aus dem Maultier ein Pferd machen kann, kann man auch den Nationalstaat sozialistisch machen oder als sozialistisch betrachten!« (SdF, S277)
Man kann Öcalan hier so verstehen: Es gibt eine (lange) Übergangsperiode von der zugrunde gehenden etatistischen Zivilisation, die ihren Höhepunkt in der kapitalistischen Moderne erreicht hat. Das heißt aber nicht, dass man nun rasch die staatliche Macht erobern kann und dann führt man den Sozialismus ein. Sondern zunächst muss noch innerhalb der alten Gesellschaft ein radikaler Demokratisierungsprozess eingeleitet werden, der die Voraussetzungen des Sozialismus erst schafft. Die Politisierung der Gesellschaft und die Überwindung liberaler, individualistischer, patriarchaler, kolonialistischer, rassistischer Bewusstseinsformen ist Teil dieses Prozesses. Ohne die Arbeit am Bewusstsein der Gesellschaft können nicht einmal die Voraussetzungen für den Sozialismus geschaffen werden. Es sei »einer der größten Fehler der marxistischen Methode« gewesen, »ohne zunächst die Revolution in der geistigen Sphäre zu konzentrieren, den gesellschaftlichen Aufbau von den Proletariern zu erwarten, die tagtäglicher Repression und Ausbeutung ausgesetzt waren.« (ZuW, S53) Die Zurichtungen der Menschen durch die patriarchalen, staatlichen Klassengesellschaften verschwinden nicht einfach durch die Übernahme der Staatsmacht – im Gegenteil. Was so geschaffen wird, trägt nicht nur die Muttermale der alten Gesellschaft, es wird ihr ähnlicher und ähnlicher. Die Schaffung tatsächlich demokratischer Institutionen, die Stärkung der Gesellschaft gegenüber Staat, Patriarchat und Kapital, die Entwicklung eines neuen gesellschaftlichen Bewusstseins durch eigenständige, nicht in den Institutionen der feindlichen Zentralzivilisation (offizielle Schulen und Universitäten) durchgeführte Bildung sind die Eckpunkte eines langwierigen Übergangsprozesses zum Sozialismus, wie sie die Keimformen des Neuen im Alten selbst sind. Revolution ist in dieser Perspektive keine einmalige Machtübernahme, sondern eine lange Transformation mit quantitativen Veränderungen, die in qualitative umschlagen. Allerdings, das muss man auch gleich dazu sagen, anders als viele linksliberale Theorien der »Transformation« vollzieht sich diese bei Öcalan gerade nicht als Beteiligung an den Institutionen des bürgerlichen Staates – sondern besteht im Aufbau und der Organisierung eigener demokratischer, ideologischer, ökonomischer Institutionen sowie deren Verteidigung. Bildlich ausgedrückt, wird der bürgerliche Staatsapparat nicht »erobert« und dann »zerschlagen«, wie das in der leninistischen Tradition der Fall ist, sondern ihm wird Stück für Stück Gebiet abgetrotzt, bis er sich als der Anachronismus erweist, der er ist: »In der zeitgenössischen demokratischen Zivilisation wird der Staat nicht auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen, indem er zerschlagen und zerkleinert wird, sondern nachdem er langsam aber sicher zu Altmetall, zu Maschinenschrott gemacht worden ist.« (GE1, S457) Das geschieht dadurch, indem sich die Gesellschaft ihr eigenes System gibt und es dem der Zentralzivilisation entgegensetzt. Der Trias Kapitalismus – Industrialismus – Nationalstaat muss die politisch-moralische Gesellschaft ihr eigenes System entgegenstellen, das seinerseits durch drei Begriffe umschrieben werden kann: »Demokratische Gesellschaft, Öko-Industrie und demokratischer Konföderalismus können wir unter dem Namen ›demokratische Moderne‹ als Gegensystem vorschlagen.« (SdF, S450).
Die Wiederbelebung der demokratischen Gesellschaft
Die Basis dieses Konzepts ist die »politisch-moralische Gesellschaft«. Wir haben bereits oben gesehen: Die politisch-moralische Gesellschaft ist die nicht tot zu kriegende DNA der demokratischen Zivilisation. Überall, wo Gemeinschaften gegen die staatlich-kapitalistische Zivilisation Widerstand leisten, sieht Öcalan sie in Aktion. Die Zentralzivilisation allerdings hat über die Jahrtausende ein striktes Regime über sie errichtet, die Gesellschaft nahezu vollständig ihrer Kräfte beraubt und sie den Zwecken der Monopole unterworfen. Manchmal beschreibt Öcalan dieses Verhältnis als innere Kolonisierung (SdF, S450), manchmal spricht er von einer »Herdengesellschaft« (SdF, S58). Durch die ideologische Hegemonie des Systems, durch brutale Unterdrückung der Widerständigen, aber auch durch die freiwillige Unterwerfung – Konsumismus, Karrierismus, Staatsgläubigkeit – hat die Gesellschaft an Raum gegenüber dem System der Monopole eingebüßt. Vielerorts ist sie zu einem »Kadaver« (SdF, S320) geworden, unfähig zu politischer Selbstbestimmung. Die Wiederbelebung der Gesellschaft ist die erste der drei Aufgaben, die Öcalan als notwendig für den systematischen Gegenentwurf zur kapitalistischen Moderne ansieht. Dies ist zuallererst auch eine intellektuelle Aufgabe. Die geistige Renaissance, die nötig ist, damit die Gesellschaft zum Subjekt des Wissens über sich selbst wird, kann sich dabei nicht in den Institutionen der kapitalistischen Moderne vollziehen. Die offiziellen Schulen und Universitäten bringen »intellektuelle Kapitalisten und Packesel« (SdF, S406) hervor, sie verbleiben in ihrer Form und Methode gebunden an die Monopole. Dagegen schlägt Öcalan eine Konföderation von »demokratischen Akademien« (SdF, S423) vor, global verbunden und eine Art Schule für »organische Intellektuelle« der Gesellschaft – wenn man einen Begriff Antonio Gramscis verwenden will. Ihre Aufgabe ist eine »radikale aufklärerische Revolution« (SdF, S424), ohne die die demokratische Moderne nicht gestärkt werden kann.
Öcalan macht eine Reihe von sehr konkreten Vorschlägen für diese Akademien: Akademien, die sich autonom organisieren, in denen Frauen überwiegen, die Rotation der Rolle von Lehrenden und Lernenden usw. Der systematisch relevante Punkt ist, dass sie ein Element des Widerstands der Gesellschaft sein müssen. Und zwar insofern als sie die Einheit von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt herstellen, denn in den demokratischen Akademien erkennt die Gesellschaft sich selbst, ihre eigene Geschichte, Gegenwart und Zukunft: »Zweifellos vernachlässigen wir nie und nirgends, dass die Haupteinheit, die beobachtet und beobachtet wird, die moralische und politische Gesellschaft ist.« (SdF, S421) Die demokratische Gesellschaft braucht zugleich und verbunden mit der intellektuellen Erneuerung eine »moralische«, wie Öcalan betont. Öcalan versteht das kodifizierte Recht seit dem Codex Hammurapi als eine Form der Herrschaft der Monopole über die Gesellschaft. »Recht« sieht Öcalan in erster Linie als Klassenrecht, als Zustand »in dem die Handlungen der politischen Macht des Staates eine dauerhafte, geregelte und institutionalisierte Form angenommen haben« (DKZ, S99). Gesellschaften, in denen das Recht die zwischenmenschlichen Beziehungen regelt, sind solche, »in denen die Moral erodiert, die Rolle der Gewalt zunimmt und zu Chaos führt und sich Probleme der Ungleichheit stark bemerkbar machen.« (ebd.) »Recht« hat seine Quelle in der klassen- und staatsbasierten Zivilisation. »Moral« dagegen sieht Öcalan als die Gesamtheit der Regeln, Sitten und Bräuche, die aus der »Gesellschaft an sich« erwachsen. Moral definiert Öcalan als »den besten Weg zur Befriedigung der vitalen Grundbedürfnisse« (SdF, S427). Die Moral entstehe in der natürlichen Gesellschaft als Reflex der gelingenden gesellschaftlichen Arbeit (im weitesten Sinne): »Das heißt also, dass Moral und Demokratie denselben Ursprung teilen: den kollektiven Verstand und die Arbeitsfähigkeit der gesellschaftlichen Praxis.« (SdF, S428) Öcalan lehnt – das legen andere Passagen nahe – nicht »Recht« im allgemeinen Sinne als Formalisierung eines Regelwerks in einer Gesellschaft ab: «Zweifellos hat das Recht seinen Platz in der Gesellschaft, wenn es denn gerecht ist; in diesem Sinne ist das Recht unverzichtbar. Doch das Recht, das unter der Bezeichnung ›positives Recht‹ vom Staat der Gesellschaft aufgezwungen wird, ist keine Gerechtigkeit, sondern der in Recht gefasste Monopolismus der herrschenden Klasse und Nation, das Regelwerk des Nationalstaates.« (SdF, S319) Nur insofern als es die Formalisierung der Regeln der Klassenzivilisation ist, trägt es nicht zum Leben der Gesellschaft bei, sondern ist im Gegenteil ein Hindernis. Nicht nur sind die Gesetze Mittel zur Durchsetzung der Monopolherrschaft, sie erziehen der Gesellschaft auch die Fähigkeit ab, nach einer immanenten Ethik moralisch zu handeln. Intellektuelle und moralische Wiederbelebung der Gesellschaft sind miteinander und mit der politischen Erneuerung eng verbunden. Die Gesellschaft, gewohnt ihre Angelegenheiten an ihre Unterdrücker zu delegieren, muss die ihr eigene Kraft zu kollektiver Willensbildung wiederentdecken und entfalten.
Demokratie ohne Staat
Wie sieht nun die politisch-institutionelle Form der »demokratischen Gesellschaft« aus, die Abdullah Öcalan vorschlägt? Er nennt sein Konzept »demokratischen Konföderalismus«. Dieser sei eine »nichtstaatliche politische Administration« oder »Demokratie ohne Staat« (DemKonf, S21) – wobei wir bei Öcalans Demokratie begriff immer im Hinterkopf behalten müssen, dass er gerade nicht den real existierenden bürgerlichen Parlamentarismus meint. Der Kern dieses Konzepts knüpft an die rätedemokratische Tradition der Arbeiterbewegung an: »Im Gegensatz zu einem zentralistisch-bürokratischen Verständnis von Verwaltung und der Ausübung von Macht stellt der Konföderalismus eine Art der politischen Selbst-erwaltung dar, bei der sich alle Gruppen der Gesellschaft und alle kulturellen Identitäten auf regionalen Treffen, allgemeinen Versammlungen und in Räten äußern können.« (DemKonf, S26) Öcalan wendet sich gegen »Zentralisierung«, insofern sie Machtmonopolisierung ist. Er ist aber zugleich kein Advokat einer puren Regionalisierung, in der die einzelnen Gemeinschaften nichts miteinander zu tun haben, für sich entscheiden und unverbunden nebeneinander her existieren. Im Gegenteil. »Ich habe bereits den Punkt thematisiert, dass auf der regionalen Ebene die Entscheidungen getroffen werden. Dennoch müssen sich die Überlegungen, die zu diesen Entscheidungen führen, im Einklang mit globalen Aspekten befinden«, erinnert er (DemKonf, S27). Die Räte verlagern den demokratischen Prozess in die gesellschaftliche Basis, aber sie sind überregional zusammengeschlossen – bis hin zum »Globalen Demokratischen Konföderalismus« (DKZ, S371). Was Öcalan »Demokratie« nennt, ist »die Anwendung demokratischer Entscheidungsprozesse von der lokalen bis zur globalen Ebene im Rahmen eines kontinuierlichen politischen Prozesses.« (DemKonf, S27)
Die Grundidee von Öcalans Alternative ist simpel. Und sie ist nicht neu, sondern die Aktualisierung der rätedemokratischen Idee der Arbeiterbewegung, die er an die Gegebenheiten des Nahen Ostens anpasst. Sein Konzept sieht deshalb nicht nur Arbeiter-, Bauern- oder Soldatenräte vor, sondern er betont, dass alle gesellschaftlichen Gruppen nach Bedürfnis eigene Rätestrukturen gründen können – was unter den Gegebenheiten des Nahen Ostens vor allem auch Ethnien und Religionsgruppen einschließt, die traditionell sowohl von den lokalen Regimen wie von den globalen imperialistischen Mächten gegeneinander ausgespielt werden. Die Demokratisierung kann sich aber nicht alleine im Bereich des im engeren Sinne Politischen vollziehen. »Die programmatische Grundhaltung für den ökonomischen Bereich sollte der Übergang von einer Wirtschaft, die auf Verdinglichung, also der Verwandlung aller Dinge und Beziehungen in Waren, und Profit beruht, zu einer Wirtschaft sein, die auf dem Gebrauchswert und dem Teilen basiert«, schreibt Öcalan ( JSMG, S468). Diese Rücknahme der Ökonomie in die Entscheidungsmacht der Gesellschaft soll nicht nur die ökonomischen Probleme des Kapitalismus, sondern auch die mit ihm einhergehende Naturzerstörung beenden. Die »Wirtschaftspolitik des Sozialismus« bestehe im »langsamen Übergang von der Warengesellschaft zu einer Gesellschaft, die für den Gebrauchswert produziert« (ebd.). Dieser Übergang bedeutet zugleich die Aufhebung der ausgebeuteten Arbeiterklasse: »Eine echte Volksdemokratie akzeptiert Sklaven, Leibeigene und Arbeiter nicht, wie es sie im System der Sklaverei, des Feudalismus und des Kapitalismus gibt, sondern lehnt sie ab. (...) Wo sich (...) Demokratie entwickelt, dort hören Sklaverei, Leibeigenschaft und Proletariertum zu existieren auf. Man wird immer noch arbeiten. Aber als Herr der eigenen Arbeit, als Mitglied der eigenen Arbeitskommune. Kommunalismus und Demokratie sind so fest miteinander verbunden wie Finger und Nagel.« ( JSMG, S178) Die »Arbeitskommune« als an das Rätesystem angeschlossene Wirtschaftseinheit nennt Öcalan auch »Kooperative«. Sie ist das ökonomische Komplement zu den politischen Institutionen Rat und Kommune.
Wenn man nun zwar sagen kann, dass Räte und Kooperativen den Kern der »Demokratie ohne Staat« darstellen, so erschöpft sich das aus Sicht Öcalans aufzubauende Institutionengeflecht keineswegs in diesen beiden. Vielmehr ist der Inhalt des »demokratischen Konföderalismus« der Aufbau der »organisierten« oder auch »politisierten« / »moralischen« Gesellschaft – also der Überwindung der durch die etatistische und kapitalistische Zivilisation geschaffenen Unmündigkeit der Massen. Insofern betont Öcalan – wie wir bereits oben gesehen haben – die Wichtigkeit des Aufbaus von kulturellen und Bildungsinstitutionen, Akademien. Diese werden ergänzt durch weitere zivilgesellschaftliche Zusammenschlüsse. Es müsse eine gesellschaftliche Moral wiederhergestellt werden, die durch die Machtübernahme am Ende der Kommunalgesellschaft verloren gegangen ist (bzw. durch Klassenmoral, Religionen und Gerichtsurteile ersetzt worden ist). Ohne eine verbindliche Ethik sei Gesellschaftlichkeit nicht möglich: »Eine Gesellschaft drückt ihre Freiheit im Grunde durch ihre Moral aus. Daher hat, wer keine Freiheit besitzt, auch keine Moral. Der effektivste Weg, um eine Gesellschaft zu zerrütten, ist, ihre Verbindung zur Moral zu kappen.« (DKZ, S100) Umgekehrt ist eine kollektive gesellschaftliche Ethik notwendig für die Ausübung der Freiheit der verschiedenen Gruppen: »Es ist ein natürliches Recht, die eigene kulturelle, ethnische oder nationale Identität mit Hilfe politischer Vereinigungen zum Ausdruck zu bringen. Allerdings bedarf dieses Recht einer moralischen und politischen Gesellschaft.« (DemKonf, S22) Die entweder ohnehin geteilten oder in einem Gesellschaftsvertrag festgelegten politisch-moralischen Rahmenbedingungen formulieren die der Ausübung der Freiheitsrechte zugrundeliegende Ethik.
Eine besondere Rolle nimmt in Öcalans Konzept des demokratischen Konföderalismus die Selbstbestimmung der Frauen ein. »Das Maß der Freiheit in einer Gesellschaft wird durch das Maß der Freiheit der Frauen in ihr bestimmt«, schreibt Öcalan ( JSMG, S466). Die »Frauenfrage« stellt den »Dreh- und Angelpunkt der gesellschaftlichen Transformation« (ebd.) dar. Der Kampf um die Freiheit der Frau müsse geführt werden »durch den Aufbau eigener politischer Parteien (...), durch eine im Volk verankerte Frauenbewegung, den Aufbau eigener zivilgesellschaftlicher Organisationen und Strukturen der demokratischen Politik.« (RdF, S66) Daraus folgt zum einen die Notwendigkeit von autonomen Frauenorganisationen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Auch die in der kurdischen Bewegung übliche Einführung eines geschlechterparitätisch besetzten Ko-Vorsitzes in allen politischen Gremien hat hier ihre Wurzeln. Zum anderen fordert Öcalan die Schaffung eines eigenen Zweigs der Wissenschaften, der jineoloji. Diese soll als »Wissenschaft der Frau« zur »Grundlage der Lösung unserer gesellschaftlichen Probleme« werden, indem sie eine dezidiert weibliche Perspektive entwickelt. Die jineolojî ist kein Nischenprojekt. Es geht nicht darum, dass sich Frauen mit »Frauenthemen« beschäftigen, sondern um die Wiederaneignung der Geschichte und Gegenwart aus »weiblicher« Perspektive. Öcalan erhofft sich davon Impulse für das Zurückdrängen jener patriarchalen Mentalität, die seit Jahrtausenden der Herrschaft in der Zivilisation zugrunde liegt. Es geht um nicht weniger, als darum, herauszufinden, »wie wir in der ideologischen Arena gegen die herrschsüchtige und machthungrige Mentalität des Mannes gewinnen« (RdF, S59). Wenn wir Öcalans Idee der jineolojî mit seiner Analyse des Niedergangs der ursprünglichen Kommunalgesellschaft in Verbindung setzen, können wir sehen, was der Kern dieses Anliegens ist. Öcalan hatte ja erklärt, die kommunale Urgesellschaft sei durch eine an der Zentralstellung der Frau orientierte Ethik zusammengehalten worden. Diese sei durch die entstehende staatliche Klassenzivilisation zerschlagen, diffamiert und aus der Geschichte verdrängt worden. Der jineolojî geht es um die Ausgrabung dieses verschütteten Erbes: »Die Frau als Hauptkomponente der moralischen und politischen Gesellschaft hat eine entscheidende Rolle bei der Bildung einer Ethik und Ästhetik des Lebens, die Freiheit, Gleichheit und Demokratisierung widerspiegeln. Ethische und ästhetische Wissenschaft sind ein integraler Bestandteil der jineolojî. Wegen ihrer gewichtigen Verantwortung im Leben wird sie zweifellos die treibende intellektuelle und umsetzende Kraft hinter Fortschritten und Chancen sein.« (RdF, S60f ) Auch die Ökonomie sollte schwerpunktmäßig zum Gegenstand der jineolojî gemacht werden, was mit Öcalans Überzeugung, dass die Frau die wirtschaftliche Hauptkraft der Gesellschaft darstellt, zusammenhängt. Ausgehend von Öcalans Vorschlag ist in den vergangenen Jahren in der kurdischen Bewegung und in Zusammenarbeit mit internationalistischen Frauen eine umfassende Forschungstätigkeit unter dem Dach der jineolojî entstanden. Magazine werden herausgegeben, in Bereichen wie Geschichte und Archäologie findet Grundlagenforschung statt und in Rojava eröffnete eine eigene Akademie, die den Namen der deutschen Internationalistin Andrea Wolf trägt.
Öko-Industrie und Öko-Gemeinschaften
Der neue Gesellschaftsentwurf muss auch das auf eine Katastrophe zusteuernde Mensch-Natur-Verhältnis neu bestimmen. Die maßlose Vernutzung der gesamten Natur im Dienst der Kapitalakkumulation der Monopole hat die Menschheit an die Grenze der drohenden Auslöschung geführt. Der Mensch zerstört die Natur und damit seine eigene Lebensgrundlage. Dementsprechend betont Öcalan: »Eine Ökologiebewegung gehört zu den unverzichtbaren Bestandteilen der neuen Gesellschaft, die wir errichten wollen.« ( JSMG, S300) Die selbstmörderische Beziehung des Menschen zur Natur hat tief in die Prinzipien der etatistischen Zivilisation reichende Gründe. Wir haben gesehen, wie bereits institutionalisierte Religion, mehr aber noch der positivistische Szientismus die Natur auf eine tote Masse verwertbarer Materie reduzieren. Und wir haben gesehen, wie sich mit der Möglichkeit der Produktion von Mehrwert Klassen über die Gesellschaft erheben und Akkumulation von Werten zum Leitfaden von Entwicklung machen. Für Öcalan erreicht diese Missachtung der Natur mit der »industriellen Revolution« im 18. und 19. Jahrhundert eine neue Qualität. Die aus Maschinenproduk-tion und immer rasanterer technischer Entwicklung resultierenden Möglichkeiten werden unter kapitalistischen Rahmenbedingungen zu Gefahren für die gesamte Menschheit. Ganze Landstriche veröden, Meere, Flüsse und Seen sind überfischt und verschmutzt. Der Mensch ist technisch in der Lage, das Leben auf der Erde vollständig auszulöschen. Der »Industrialismus« gibt auch dem Stadt-Land-Verhältnis ein neues Gesicht. Er entwertet die ruralen Gegenden und gestaltet sich die urbanen nach seinem Zweck: »Die lawinenartig anwachsenden Industrieanlagen entsprachen gemäß ihrer Natur nicht den Bedürfnissen des Lebens, sondern den Bedürfnissen des Profits.
Über den Autor
Peter Schaber ist Mitglied des linken Medienkollektivs lower class magazine. Er schrieb mit an zwei Büchern zum Kampf der Kurd*innen gegen Faschismus und Besatzung: Hinter den Barrikaden. Eine Reise durch Nordkurdistan im Krieg (edition assemblage 2015) und Konkrete Utopie. Die Berge Kurdistans und die Revolution in Rojava (Unrast 2017). Im Zuge seiner Kurdistanaufenthalte engagierte sich Schaber in zivilen und militärischen Organisationen der kurdischen Freiheitsbewegung. Nach einem Artikel zu seinen Erfahrungen im Krieg gegen den Islamischen Staat leitete die Bundesanwaltschaft ein Terrorismusverfahren gegen ihn ein.