Abdullah Öcalan: Das Industrialismusproblem der Gesellschaft
So wie Feuer sich nicht mit Feuer bekämpfen lässt, lässt sich auch kein ökologischer Kampf führen, ohne das Leben im Industrialismussumpf infrage zu stellen und auf ihn zu verzichten.
So wie Feuer sich nicht mit Feuer bekämpfen lässt, lässt sich auch kein ökologischer Kampf führen, ohne das Leben im Industrialismussumpf infrage zu stellen und auf ihn zu verzichten.
Im Mai 2020 erscheint mit „Soziologie der Freiheit“ der dritte Band von Abdullah Öcalans „Manifest der demokratischen Zivilisation“ im Unrast Verlag. Übersetzt wurde das Werk aus dem Türkischen von Reimar Heider, dem Sprecher der „Internationalen Initiative: Freiheit für Öcalan – Frieden in Kurdistan“, und Mehmet Salih Akın. Wir veröffentlichen vorab ein Kapitel (Seite 141 bis 146) zum Industrialismusproblem der Gesellschaft:
Von der industriellen Revolution, die genauso wichtig war wie die landwirtschaftliche, kann man behaupten, dass sie am Ende des achtzehnten und zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts auf der Grundlage eines Jahrtausende alten geschichtlichen Reichtums einen qualitativen Sprung vollzog und sich bis heute mit Hochs und Tiefs fortsetzt. Es lässt sich nicht voraussagen, wo, wann und wie sie anhalten oder zum Anhalten gebracht werden wird.
Die analytische Intelligenz zählt einerseits zu den Eigenschaften dieser Revolution, andererseits ist sie ohnehin eines ihrer Produkte. Die industrielle Revolution stand unter der absoluten Herrschaft des Kapitals. Ohne Zweifel war es nicht das Kapital selbst, das die meisten industriellen Mittel erfand, es bemühte sich aber stets sofort darum, diese in profitbringende Mittel zu verwandeln und wenn nötig sich anzueignen. Beschleunigte und billige Produktion stellt eine große Fortschrittschance für die Gesellschaft dar. Genauso wie die Vernunft ist auch die der Gesellschaft dienende Industrie wertvoll. Das Problem liegt nicht in ihr selbst, sondern in ihrer Nutzungsweise. Die Industrie ähnelt der Atomenergie. Wenn sie zugunsten der Monopole verwendet wird, kann sie zu einem Mittel werden, das das Leben mit ökologischen Katastrophen und Kriegen bedroht. Wie es gegenwärtig immer offener zutage tritt, beschleunigt ihre profitorientierte Nutzung die Umweltzerstörung.
Die Industrie lässt die Gesellschaft sich mit hoher Geschwindigkeit auf die virtuelle Gesellschaft zubewegen. Die menschlichen Organe werden zunehmend durch Robotisierung ersetzt. Wenn es so weiter geht, wird auch der Mensch selbst überflüssig werden. Es herrscht darüber Einigkeit, dass der gegenwärtige Zustand der Umwelt nicht nur die Gesellschaft, sondern das Leben aller Lebewesen bedroht. Man muss mit Nachdruck betonen, dass es eine regelrechte Tatsachenverdrehung darstellt, dafür alleine die Industrie verantwortlich zu machen. Die Industrie für sich alleine genommen bildet eine neutrale Möglichkeit. Eine mit der Existenz der Gesellschaft harmonierende Industrie könnte eine bestimmende Rolle bei der Verwandlung der Welt in eine Dritte Natur für den Menschen, ja sogar für alle Lebewesen spielen. Der Industrie wohnt ein solches Potential inne. Wenn dieses Potential wahr werden sollte, wäre die Industrie für heilig zu erklären. Wenn sie allerdings vorwiegend unter die Kontrolle des Profits und des Kapitals gebracht wird, kann sie die Welt für die ganze Menschheit mit Ausnahme einer Handvoll Monopolist*innen zur Hölle machen.
Die gegenwärtige Tendenz weist im Grunde genommen in diese Richtung. Zweifellos empfindet die Menschheit angesichts dieser Tendenz eine tiefe Besorgnis. Das industrielle Monopol hat wahrhafte Imperien über der Gesellschaft errichtet. Neben der Superhegemonie der USA existieren Dutzende industrielle Hegemonien. Selbst wenn man den politisch-militärischen Hegemon aufhalten könnte, ließen sich die industriellen Hegemonen schwer aufhalten, da sie sich ebenfalls globalisiert haben. Wenn ihnen ein Land als Zentrum zu eng wird, können sie sofort neue Orte, neue Länder zu ihren Zentren machen. Könnte man behaupten, dass ein US-amerikanisches Industrieimperium morgen nicht China zu seinem Zentrum wählen wird? Es lässt sich bereits heute beobachten, dass dies allmählich möglich scheint, solange dort günstigere Bedingungen vorherrschen.
Der Industrialismus erschütterte die Landwirtschaft in ihren Grundfesten. Die Landwirtschaft, primäres Element und Daseinsvoraussetzung der menschlichen Gesellschaft, erlebt angesichts der Industrie ihre Vernichtung. Diese heilige Aktivität, die der Menschheit seit fünfzehntausend Jahren zur Existenz verholfen hat, ist heute sich selbst überlassen und steht kurz davor, sich der Herrschaft der Industrie zu ergeben. Das Eindringen der profit- und kapitalorientierten Industrie in den landwirtschaftlichen Bereich sollte, im Gegensatz zur weit verbreiteten Annahme, nicht als Entstehung von schnelleren und größeren Produktionsmöglichkeiten interpretiert werden. Wegen genetisch modifizierter Samen wird die Erde von Industriemonopolen in die Rolle einer durch künstliche Befruchtung geschwängerten Mutter versetzt. So wie mit fremdem Sperma keine gesunde Schwangerschaft und Mutterschaft zu erzielen ist, wird auch die Befruchtung mit genetisch modifizierten Samen nicht zu einer guten Mutterschaft der Erde führen. Die Industriemonopole bereiten sich auf diesen landwirtschaftlichen Wahnsinn vor. Die Menschheitsgeschichte wird im landwirtschaftlichen Bereich Zeuge der vielleicht größten Konterrevolution werden; vielleicht hat sie bereits begonnen.
Die Erde und die Landwirtschaft sind nicht einfach irgendein Produktionsmittel und -verhältnis, sondern unzertrennliche Wesensmerkmale der Gesellschaft, mit denen nicht zu spielen ist. Die menschliche Gesellschaft wurde größtenteils über die Erde und die Landwirtschaft konstruiert. Die Gesellschaft von diesen Räumen und dieser Produktion loszureißen, ist der größte Angriff auf ihr Dasein. Die sich krebsartig vergrößernde urbane Realität stellt diese Gefahr bereits heute unverhüllt zur Schau. Die Befreiung davon scheint mit großer Wahrscheinlichkeit in einer entgegen gerichteten Bewegung zu liegen: die Rückkehr von der Stadt zum Land und zur Landwirtschaft. Der Hauptslogan dieser Bewegung wird wohl heißen: ›Entweder Landwirtschaft und Erde für die Existenz oder Vernichtung‹.
Der Profit und das Kapital integrieren weder die Erde in die Industrie noch stellen sie ein symbiotisches Verhältnis zwischen den beiden her, sondern sie machen sie zu Feinden, indem sie riesengroße Widersprüche zwischen ihnen anhäufen. Die Klassen-, ethnischen, nationalen und ideologischen Widersprüche und Auseinandersetzungen in der Gesellschaft können bis hin zu Kriegen führen. Diese sind aber keine unlösbaren Widersprüche. Da sie von Menschenhand stammen, können sie auch von Menschenhand aufgelöst werden. Der Mensch kann aber den Widerspruch zwischen der Industrie als Mittel des Kapitals und der Erde und der Landwirtschaft nicht kontrollieren. Die Erde und die Landwirtschaft haben sich Millionen Jahre lang ökologisch entwickelt. Wenn sie aus den Fugen geraten sollten, können sie von Menschenhand nicht wiederhergestellt werden. So wie Menschen keine Erde produzieren können, können landwirtschaftliche Produkte und andere Lebewesen, zum Beispiel Pflanzen, zur Zeit ebenfalls nicht von Menschenhand geschaffen werden, und es ist auch nicht zu erwarten, dass dies möglich wird. Dieses Potenzial wurde durch die Entstehung des Menschen verwirklicht. Es ist weder möglich noch ergibt es Sinn, das Verwirklichte zu wiederholen. Da dies eine tiefergehende philosophische Diskussion darstellt, werde ich nicht weiter darauf eingehen.
So wie die Pharaonen durch pyramidenartige Gräber ihre Zukunft nicht wirklich vorbereiten konnten, kann auch die roboterisierende Weise des Industrialismus keine lebenswerte Zukunft schaffen. Diese Weise stellt dem Menschen gegenüber eine Respektlosigkeit dar. Welchen Sinn und welche Bedeutung können Kopien und Roboter haben, während ein so perfektes Wesen wie die Natur existiert? Wir begegnen hier wieder dem Profitwahn des Kapitals. Nehmen wir an, Roboter verwirklichten die billigste Produktion. Wozu wären aber die Produkte nützlich, wenn es ihre Nutzer nicht mehr gäbe? Der Industrialismus ist in dieser Hinsicht der Hauptfaktor, der die Gesellschaft zur Arbeitslosigkeit verdammt, die größte Waffe des Kapitals gegen die gesellschaftliche Produktivität.
Das Kapital setzt häufig die Waffe der Industrie ein, indem es einerseits eine niedrige Anzahl von Arbeitern beschäftigt, andererseits den Markt mit Preissenkungen ihren Wünschen entsprechend manipuliert. Monopolpreise machen (Überproduktions-)Krisen, die die Hauptursache der Arbeitslosigkeit bilden, unumgänglich. Schließlich fallen verrottende Waren und arbeitslose, hungernde und arme Millionen diesen Krisen zum Opfer. Die Gesellschaft als Zweite Natur kann ihre Existenz nur in enger Verbindung zu ihrer Umwelt fortsetzen, die Produkt von günstigen Räumen und Millionen von Jahren ist. Kein Industrieerzeugnis kann die Umwelt, das perfekte Erzeugnis des Universums, ersetzen. Der Land-, Luft-, See- und Weltraumverkehr hat bereits katastrophale Dimensionen angenommen. Die mit fossilen Brennstoffen betriebene Industrie vergiftet stets das Klima und die Umwelt. Das Gegenstück zu all diesen Katastrophen bildet die zweihundertjährige Profitakkumulation. Ist diese Akkumulation all diese Zerstörungen wert? Während die Zerstörungen, die deswegen erfolgten, jene aller Kriege in der Geschichte übersteigen, wurden von keinem anderen Ereignis, sei es menschengemacht sei es naturgemacht, so hohe Verluste an Lebewesen verursacht.
Der Industrialismus als monopolistische Ideologie und Apparat ist eines der grundsätzlichsten gesellschaftlichen Probleme. Es gilt, ihn tiefgehend infrage zu stellen. Alleine die Gefahren, die er erzeugt, stellen einen hinreichenden Grund dazu dar. Wenn dieses Monster sich weiter vergrößern und außer Kontrolle geraten sollte, könnte es zu spät werden, sodass seine Infragestellung und die dagegen zu unternehmenden Maßnahmen keinen Sinn mehr ergäben. Um zu verhindern, dass die Gesellschaft aufhört, sie selbst zu sein, und zur virtuellen Gesellschaft wird, ist es an der Zeit, dieses Monster aus den Händen der Monopole zu reißen und zunächst zu zähmen, um es danach in einen Freund der gesellschaftlichen Natur zu verwandeln.
Im Kampf gegen den Industrialismus stellt die Unterscheidung zwischen der ideologischen Herangehens- und Nutzungsweise der industriellen Technologie durch den Monopolismus und die dem gesellschaftlichen Gemeinwohl entsprechende Struktur und Nutzungsweise der industriellen Technologie die wichtigste Aufgabe diesbezüglicher wissenschaftlicher Arbeiten und des ideologischen Kampfes dar. Es ist nicht zu erwarten, dass Gruppen, die auf der Grundlage des Humanismus gegen einen von gesellschaftlichen und Klassenpositionen unabhängigen Industrialismus zu kämpfen behaupten, ihr Ziel erreichen werden. Solche Gruppen kommen nicht umhin, objektiv entgegen ihr eigenes Ziel zu arbeiten und in eine Lage zu geraten, in welcher sie dem Industrialismus als Monopolismus dienen. Der Industrialismus hat einen viel stärker ideologischen, militaristischen und Klassencharakter als häufig angenommen. Als Ideologie ist er Wissenschaft und Technologie; er repräsentiert sogar die gefährlichsten Dimensionen der in diesem Sinne eingesetzten Wissenschaft und Technologie.
Das Industriemonster ist nicht von alleine entstanden. Rufen wir uns in Erinnerung: Als die englische Bourgeoisie ihre imperialistische Offensive auf der Insel, in Europa und der ganzen Welt unternahm, bildete sie die Klasse, die sowohl den Industrialismus organisierte als auch von ihm am umfangreichsten und am schnellsten Gebrauch machte. Industrialismus wurde später zur gemeinsamen Waffe der Bourgeoisien aller Länder. Die im Rahmen des Trios Finanz, Handel und Industrie im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, den Jahrhunderten der Industrie, weltweit errichtete bürgerliche Hegemonie beweist diese Tatsache. Dass die realsozialistische Bewegung nicht-kapitalistische Gesellschaften zu rückständigen erklärte und den Schulterschluss mit der Industriebourgeoisie strategisch in Erwägung zog, führte dazu, dass sie, wenn auch unabsichtlich, in totalen Widerspruch zu ihren eigenen Zielen geriet. Dieser Umstand führte sogar dazu, dass die realsozialistische Bewegung unter den Bewegungen, die objektiv einen Verrat ausübten, die tragischsten Konsequenzen erlebte – genauso wie das Christentum, das dreihundert Jahre lang eine Friedensreligion gewesen war, später ein Bündnis mit dem Staat und der Macht einging und objektiv und größtenteils auch wissentlich mit ihren eigenen Zielen in Widerspruch geriet und sie schließlich verriet. Auch das Christentum konnte in letzter Instanz der Anziehungskraft des Machtmonopols nicht widerstehen und geriet so in Widerspruch mit seinem ursprünglichen Ziel und kam nicht darum herum, eine Zivilisationsreligion zu werden. Das gleiche Schicksal ereilte den Islam bereits zu Lebzeiten des Propheten Mohammed. Schließlich erlagen beide der Machtindustrie.
Wenn heute die ganze Menschheit angesichts der Umweltzerstörung so aufschreit, als nahte der jüngste Tag, ist es unabdingbar, die Zerstörung durch den Industrialismus in ihren historisch-gesellschaftlichen und Klassendimensionen im Lichte ähnlicher Bewegungen zu begreifen, den Kampf gegen den Industrialismus als Existenzbewegung der Gesellschaft anzunehmen und ihn im Stil einer neuen heiligen religiösen Bewegung zu bekämpfen. So wie Feuer sich nicht mit Feuer bekämpfen lässt, lässt sich auch kein ökologischer Kampf führen, ohne das Leben im Industrialismussumpf infrage zu stellen und auf ihn zu verzichten. Wenn wir nicht die gleichen Tragödien wie das Christentum, der Islam und der Realsozialismus erleben wollen, müssen wir aus ihnen Lektionen ziehen und den wissenschaftlich-ideologischen und moralisch-politischen Kampf richtig angehen.