Öcalan lesen, nicht nur über ihn reden
Die Redaktion vom Kurdistan Report führte ein Interview mit Reimar Heider, dem Übersetzer der Schriften Abdullah Öcalans, und sprach mit ihm über seine Eindrücke während der Öcalan-Lesereise.
Die Redaktion vom Kurdistan Report führte ein Interview mit Reimar Heider, dem Übersetzer der Schriften Abdullah Öcalans, und sprach mit ihm über seine Eindrücke während der Öcalan-Lesereise.
Du hast nun eine Tour durch ganz Deutschland hinter dir, auf der du den neuen zweiten Band vorgestellt hast. Wie viele Städte hast du besucht und auf welches Interesse bist du gestoßen?
Ich war in sechsundzwanzig Städten in Deutschland und der Schweiz und habe insgesamt achtundzwanzig Veranstaltungen gemacht. Das Interesse war insgesamt groß; Öcalan ist als Autor mittlerweile bekannter als noch vor ein paar Jahren. Inzwischen kommen viel mehr Menschen, die nicht kurdischer Abstammung sind. Allerdings war in vielen Städten die Teilnahme auf das direkte Umfeld der organisierenden Gruppe beschränkt.
Um welche Fragen drehten sich die Diskussionen während deiner Lesungen? Sind bestimmte Fragestellungen in allen Städten hervorgetreten?
Es gibt ein großes Interesse an der Revolution in Rojava und dem Zusammenhang mit Öcalans Büchern. Viele Nachfragen kamen auch zu Öcalans Kapitalismusbegriff, der an den des französischen Historikers Fernand Braudel angelehnt ist, der im deutschsprachigen Raum recht unbekannt ist. Besonders häufig kamen aber auch Fragen zum Begriff des »Personenkults«. Ich habe dann immer zurückgefragt: »Was soll das eigentlich sein? Und gegen wen richtet sich diese Kritik eigentlich? Gegen Öcalan?« Ich denke, wenn Menschen sich wundern, warum sich so viele Kurdinnen und Kurden so positiv auf Öcalan beziehen, dann sollte man doch darüber mit ihnen ins Gespräch kommen, anstatt durch solch einen Begriff eine Mauer hochzuziehen. Öcalan organisiert ja keinen Kult um sich, er sitzt schließlich seit zwanzig Jahren in Isolationshaft!
»Deutschland hinkt hinterher, wie nicht zuletzt die aktuellen, absurden Bilderverbote zeigen. Trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – ist auch hier jenseits von HDP-Solidarität, Kobanê-Solidarität, Rojava-Solidarität, Kurdistan-Solidarität und Frauen-Solidarität ein besonderes Eintreten für die Freiheit von Abdullah Öcalan gefragt. Wir rufen alle dazu auf, örtliche »Freiheit für Abdullah Öcalan«-Komitees zu gründen oder zumindest die Freiheitskampagne zu einem zentralen Baustein jeglicher Solidaritätsarbeit zu machen.« So deine Überlegungen zur neuen »Free Öcalan«-Kampagne vor zwei Jahren in unserer Zeitschrift. Hast du in diesem Kontext eine Veränderung wahrgenommen? Wird Öcalan selbst dank seiner Bücher zunehmend anders gesehen? Also nicht nur als Guerilla-Anführer, sondern als ein schreibender Politiker und Denker?
In gewisser Weise erfolgt das automatisch, je länger die Zeit zurückliegt, in der er aktiv die Bewegung geleitet hat. Seit mittlerweile mehr als zwanzig Jahren wirkt er hauptsächlich über seine Bücher. Je mehr Menschen sie lesen – und das sind erfreulich viele –, desto mehr verstehen seine Bedeutung als Denker und Vor-Denker. Es gibt da eine erfreuliche Entwicklung: In einer Reihe von Städten haben sich Lesekreise gebildet, die Jenseits von Staat, Macht und Gewalt oder auch Zivilisation und Wahrheit und Die kapitalistische Zivilisation lesen. Ich finde diese Bücher dafür auch wunderbar geeignet, da sie viele vermeintliche Selbstverständlichkeiten hinterfragen und viel Anlass zur Diskussion bieten können. Lokale »Freiheit für Öcalan«-Komitees gibt es in Deutschland zwar noch nicht, aber ich denke, das ist ein nächster, logischer Schritt, der spätestens dann aktuell werden wird, wenn es wieder zu einem Dialogprozess oder anderen politischen Entwicklungen kommt.
Außerhalb von Deutschland existiert eine Reihe von Vorurteilen so gar nicht. Dort ist Öcalan vor allem als der Vordenker der Revolution in Rojava bekannt und wird viel mehr als Denker und Autor wahrgenommen als hierzulande.
Deine Öcalan-Lesereise hat im Schatten der andauernden Hungerstreikaktionen in den türkischen Gefängnissen stattgefunden. Wie stand es um die Vermittlung der Forderungen des Hungerstreiks?
Die Lesereise passte sehr gut zu den Hungerstreiks. Einen Abend lang über Öcalans Ideen und seine politische Rolle zu diskutieren, hilft dabei zu verstehen, warum er bei vielen Mensch solch ein immenses Ansehen genießt und warum seine Rolle derart wichtig ist. Das gilt sowohl für die Revolution in Rojava als auch für friedliche politische Lösungen im gesamten Mittleren Osten. Ich denke, die Veranstaltungen und Diskussionen haben viel zum Verständnis der Hungerstreiks beigetragen. Vielleicht wären sie zu einem früheren Zeitpunkt noch hilfreicher gewesen.
Wo können sich Menschen hinwenden, die sich näher mit den Ideen Öcalans auseinandersetzen wollen? Gibt es wieder Veranstaltungen?
Es gibt manchmal die Tendenz, eine Informationsveranstaltung zu besuchen, anstatt Bücher zu lesen. Ich empfehle ganz entschieden die tatsächliche Lektüre von Öcalans Gefängnisschriften. Im Lower Class Magazine gab es letztens einen sehr lesenswerten Artikel von Peter Schaber, der mit »Lest Öcalan!« überschrieben war und viele gute Gründe dafür aufzeigt. Am besten geht die Lektüre natürlich in einem Lesekreis, den jede und jeder übrigens auch selbst gründen kann.
Es gibt auch immer wieder Veranstaltungen und Bildungsangebote von verschiedenen Seiten, allerdings werde ich mich in den nächsten Monaten überwiegend mit der Übersetzung des dritten Bandes des »Manifests der demokratischen Zivilisation« beschäftigen, »Soziologie der Freiheit«. Ich hoffe, dann im nächsten Jahr dazu ganz viele Veranstaltungen machen zu können. Wir bemühen uns auch darum, dass Ostern 2020 wieder eine große Konferenz stattfinden kann. Das ist aber noch nicht hundertprozentig sicher.
Im Original erschien das Interview in der Juli/August-Ausgabe des Kurdistan Report.