Abdullah Öcalan: Chaosartige Krankheiten breiten sich aus

Chaosartige Krankheiten wie Krebs, AIDS und Stress breiten sich aus. Die Gesellschaft sieht sich elementarer Lebensnotwendigkeiten wie Umwelt, Wohnung, Gesundheit, Bildung, Arbeit und Sicherheit beraubt.

Das 2013 ins Deutsche übersetzte Buch „Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“ von Abdullah Öcalan erschien im Original 2004 in einer Zeit der bisher größten Umbrüche in der kurdischen Befreiungsbewegung. Als roter Faden durch die verschiedenen Kapitel des Buchs zieht sich eine konsequent antietatistische Position, die den Staat nicht als Lösung, sondern als Quelle allen Übels sieht. Wir veröffentlichen einen Ausschnitt:

Marx’ bemerkenswerte Formulierung im Kommunistischen Manifest, „Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört“, ist zwar richtig, jedoch ist dies keine revolutionäre Handlung, sondern eine zerstörerische und gesellschaftsfeindliche (Der vorausgehende Satz im Manifest lautet: „Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt.“). Die Gesellschaft jeglichen Schutzes zu berauben ist keine revolutionäre Handlung, sondern eine gegen jede Menschlichkeit gerichtete. Macht und Ausbeutung entwickelten sich in den Händen der Bourgeoisie zu einem Krebsgeschwür, das die Gesellschaft zerfrisst. Dieser gesellschaftliche Krebs ähnelt in seinen Auswirkungen dem individuellen Krebs oder AIDS und ähnlichen Krankheiten. Zu einer Zeit, als die kapitalistische Gesellschaft erst entsteht, definiert Hobbes eine Macht (den Staat) als Notwendigkeit um „zu verhindern, dass der Mensch dem Menschen zum Wolf wird.“ Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Der Kapitalismus errichtet seine Herrschaft, um den Mensch dem Menschen zum Wolf zu machen. In der Moderne ist der Mensch nicht nur dem Menschen, sondern der ganzen Natur zum Wolf geworden. Was in Gesellschaft und Natur könnte diese Klasse, die nach der Maximierung von Profit und Akkumulation strebt, von der Ausbeutung aus nehmen, wenn sie erst einmal an der Macht ist?

Der Marxismus hat Begriffe wie Wert, Profit, Arbeit, Verteilung, Imperialismus und Krieg gut analysiert. Um aber ihre Funktion im Kapitalismus besser verstehen zu können, muss man sie im hier dargestellten Rahmen betrachten. Die Beschreibungen des „falschen Messias“ in den Heiligen Schriften*, der kurz vor der Apokalypse kommen soll, passen ziemlich gut auf diese Klasse. Kein herrschendes Gesellschaftssystem hat die Grundlagen von Gesellschaft und natürlicher Umwelt derartig angegriffen und zerstört wie der Kapitalismus. Die Nation verwandelte er in einen rassistischen Nationalismus und Faschismus, die Beherrschung der Natur in eine ökologische Katastrophe, den Profit in gigantische Arbeitslosigkeit. Mittlerweile frisst der Kapitalismus sich selbst. Er verliert immer mehr seine spezifischen Eigenschaften und zerfällt. Der Kapitalismus selbst, nicht das Proletariat, macht die Konterrevolution gegen sich. Eine neue gesellschaftliche Ära kann nur durch die Überwindung der kapitalistischen Klassengesellschaft eingeleitet werden.

Dass der Kapitalismus „jeden jedem zum Wolfe“ macht, führt zu einem allgemeinen Sicherheitsproblem. Die gesellschaftliche Sicherheit wird mittlerweile nicht nur von außen, durch Verbrecher oder juristisch definierte Vergehen gefährdet, sondern vor allem der Hunger und die Arbeitslosigkeit, die das System produziert, werden zu elementaren Bedrohungen der Sicherheit. Wegen steigender Kosten einerseits und wachsender Bevölkerung andererseits bleiben die Probleme von Bildung und Gesundheit ungelöst. Chaosartige Krankheiten wie Krebs, AIDS und Stress breiten sich aus. Die Gesellschaft, die sich elementarer Lebensnotwendigkeiten wie Umwelt, Wohnung, Gesundheit, Bildung, Arbeit und Sicherheit beraubt sieht, bemerkt zum ersten Mal in der Geschichte, dass sie keine radikalen Lösungen finden kann, dass sie also im Chaos gefangen ist. Dies ist ein Prozess schwindelerregender Ausweglosigkeit.

Wenn die kommunale Solidarität zerfällt und damit die traditionellen Schutzmechanismen schwächer werden, treten individuelle und bandenmäßige Gewalt an ihre Stelle. Gegen den Terror der Machthaber entfalten sich Stammes- und Sippenterror. In dem Maße, in dem der Militär-Macht-Komplex in den staatlichen Strukturen offener zu Tage tritt, entsteht für die Gesellschaft eine Situation legitimer Selbstverteidigung. In dem Maße, in dem die allgemeinen rechtsstaatlichen Regeln der Gleichheit nicht angewandt werden, Menschenrechte und demokratische Meinungsfreiheit mit Embargos belegt werden, entstehen zwangsläufig auch Volksverteidigungskräfte. Das führt dann zu einer Spirale von Gewalt und Gegengewalt, die statt zu einer Lösung der Krise zu ihrer Verschärfung beiträgt. Wenn der staatliche Nationalismus extrem anwächst, entwickelt sich als Reaktion ein ethnischer Nationalismus. Auch dies ist ein Kanal für Gewalt.

Während Aktivitäten wie Sport und Kunst eigentlich dazu beitragen sollten, materielle Widersprüche zu mildern und abzubauen sowie gegenseitiges Verständnis zu fördern, werden sie ganz im Gegenteil in Instrumente zur Betäubung verwandelt und tragen zur Schaffung von falschen Illusionen bei. Religion, Bruderschaften und Sekten bekommen eine ähnliche Funktion zugewiesen und verhindern so, dass die Gesellschaft die Realität erkennt. Transzendentale Welten und konservative Gemeinden werden als Hindernisse auf dem Weg zu einer wirklichen Lösung errichtet. Das Trio Sport, Kunst und Religion wird seiner eigentlichen, historisch gesellschaftlichen Essenz beraubt und benutzt, damit die Gesellschaft mit Scheuklappen und steinernen Herzen blind und gefühllos gemacht wird. Durch sie werden illusionäre Paradigmen geschaffen, damit Ausweglosigkeit als Schicksal akzeptiert wird. Diese Art von Widerstand gegen das Chaos erreicht das Gegenteil, sie vermehrt das Chaos noch. Besonders in solchen Zeiten müssten Kunst, Wissenschaft und Technik als Schutzmechanismen einspringen und eine aufklärerische und konstruktive, wegweisende Rolle bei der Umgestaltung spielen. Doch das extreme Monopol der offiziellen Macht hindert sie daran, diese Funktion zu erfüllen und gesellschaftliche Lösungen zu produzieren. Die Rolle, auf die man die Wissenschaft beschränkt, ist die Analyse von Teilaspekten ohne Blick für das Ganze, oder aber mit Kanonen auf Spatzen zu schießen. Enorme Mittel werden statt zur Lösung von dringenden Problemen für sinnlose Hochrüstung und Kriege verschwendet, die Menschen werden auf profitorientierte Produkte fixiert, die den Grundbedürfnissen der Gesellschaft zuwiderlaufen. Das alles hat negative Auswirkungen, dient also dazu, das Chaos zu vertiefen.

Wir könnten die Definition des Chaos, für welches das System verantwortlich ist und in das es die gesamte Gesellschaft einbezieht, noch ausweiten. Aber für diesen Zweck ist diese Beschreibung ausreichend. Wenn wir uns des Chaotischen der Situation nicht bewusst werden, sondern denken und handeln, als lebten wir in einer gewöhnlichen Situation, wird es uns nicht gelingen, grundsätzliche Fehler zu vermeiden und so statt Lösungen ewige Wiederholung zu produzieren. In Zeiten wie diesen sind intellektuelle Anstrengungen um ein Vielfaches wichtiger als zu anderen Zeiten. Besonders, da die herkömmlichen wissenschaftlichen Strukturen wie Universitäten und Religion mehr zu Missverständnissen als zum Verständnis beitragen, wird jede wirklich aufklärerische intellektuelle Bemühung umso wertvoller. Machthörige Wissenschaft und Religion sind höchst effektiv bei der Verbreitung verzerrter und falscher Paradigmen. In Zeiten wie diesen sollten wir genauer auf die konterrevolutionäre Rolle von Religion, Kunst und Sport achten. Es besteht ein immer größerer Bedarf an unbeirrter Wissenschaft und wissenschaftlichen Strukturen, die der Gesellschaft wirkliche Projekte und wahre Paradigmen unterbreiten und die ich „sozialwissenschaftliche Schulen und Akademien“ nennen möchte. Der Kampf muss vor allen auf dem Gebiet des Intellekts, also der Mentalität gewonnen werden. Wir leben in einer Phase, in der die geistige Revolution von entscheidender Bedeutung ist.

Die mentale Revolution muss im Verbund mit moralischen Werten stattfinden. Wenn mit den mentalen nicht moralische und ethische Errungenschaften einhergehen, bleibt das Ergebnis zweifelhaft und allenfalls vorübergehend. Man muss sich nur die enorme moralische Zerrüttung durch das System vor Augen führen und entsprechend die für die Gesellschaft notwendigen und hinreichenden ethischen und moralischen Verhaltensweisen, Persönlichkeiten und Institutionen etablieren. Ein Kampf gegen das Chaos ohne Ethik und Moral kann das Individuum und die Gesellschaft verschlingen. Die Moral darf die gesellschaftlichen Traditionen niemals ignorieren, sondern muss eine neue gesellschaftliche Ethik entwickeln, die mit ihnen harmoniert. Da das herrschende System in der Phase des Chaos die politischen Institutionen und ihre Instrumente nur mehr für Demagogie benutzt, muss man besondere Sorgfalt auf die Wahl der politischen Mittel und Instrumente verwenden. Damit Parteien, Wahlen, Parlamente und kommunale Regierungen ihre Rolle bei der Verwirklichung der demokratisch-ökologischen Gesellschaft spielen können, müssen sie Instrumente zur Problemlösung entwickeln. Es muss eine enge Beziehung zwischen der politischen Organisation mit ihrer Praxis und der demokratischen, kommunalen und ökologisch ausgerichteten Gesellschaft existieren.

*In der Offenbarung des Johannes ist die Rede von einem Tier, das Hörner wie ein Lamm besitzt und redet wie ein Drache. Später wird es dann als „falscher Prophet“ bezeichnet. In der islamischen Tradition ist die Rede vom Daddschal, dem falschen Messias, der die Welt täuschen wird. Im Koran wird der Daddschal aber nicht erwähnt.