Todestrakt

Auf Imrali wurde 2005 ein Hochsicherheitsvollzugsregime errichtet. Dieses Regime sieht eine lebenslange Haftstrafe bis zum Tod vor. Die Todesstrafe wurde in der Türkei abgeschafft, stattdessen sollte eine Hinrichtung auf Raten stattfinden.

Als der französische Schriftsteller Victor Hugo 1829 seinen Roman „Der letzte Tag eines Verurteilten“ vollendete, konnte er sich sicherlich nicht vorstellen, dass dieses Werk zur Inspirationsquelle der Rechtsnormen Europas werden sollte. Bei dem Roman, eines der Hauptwerke der klassischen Weltliteratur, handelt es sich um die literarische Darstellung des „Todestrakt-Phänomen“ (Death Row Phenomenon). Hugo beschreibt darin den letzten Tag eines seit fünf Wochen auf die Hinrichtung wartenden Gefangenen.

159 Jahre nach Erscheinen des Romans, der das Warten auf die Hinrichtung als ebenso tödlich wie die Vollstreckung der Todesstrafe beschreibt, sollte das „Todestrakt-Phänomen“ in das europäische Recht eingehen. Der des Doppelmordes beschuldigte Jens Söring wurde nach einer Grundsatzentscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte von 1989 unter der Voraussetzung, nicht zum Tode verurteilt zu werden, von Großbritannien an die USA ausgeliefert. Der EGMR berücksichtigte bei seiner Entscheidung, dass der Zeitpunkt zwischen Todesurteil und Hinrichtung in den USA im Durchschnitt zwischen sechs und acht Jahren beträgt. Diese Zeit der Angst wurde als Death Row Phenomenon als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung gewertet.

Hinrichtung auf Raten

Auch der Rechtsbeistand Abdullah Öcalans bezog sich in seinem Antrag an den EGMR darauf, dass sein Mandant trotz der aufgeschobenen Hinrichtung im Todestrakt ausharren müsse und es sich dabei um einen unmenschlichen Zustand handele. Der EGMR hatte auf den ersten Antrag Öcalans hin eine einstweilige Verfügung gegen die Vollstreckung der Todesstrafe erlassen. Unterdessen wurde der Fall nicht an das türkische Parlament verwiesen, sondern war weiter im Ministerpräsidentenamt anhängig. Mit der einstweiligen Verfügung des EGMR entstand auch in der internationalen Öffentlichkeit eine Sensibilität für das Thema. Aus diesem Grund wurde am 3. August 2002 mit dem Gesetz Nr. 4771 die Todesstrafe in der Türkei formal aufgehoben. Mit dem gleichen Gesetz wurde jedoch die Todesstrafe in eine Strafe umgewandelt, die keine vorzeitige Entlassung erlaubt und bis zum physischen Tod andauert.

EGMR-Urteil vom 12. März 2003

Das mit Spannung erwartete Urteil des europäischen Menschenrechtsgerichtshofes wurde am 12. März 2003 verkündet. In dem Urteil wurde festgestellt, dass trotz des veränderten Status der türkischen Staatssicherheitsgerichte im Prozess gegen Öcalan die Europäische Menschenrechtskonvention in mehreren Artikeln verletzt wurde. Das betraf Artikel 6 zu einem fairen Prozess, Artikel 5 zum Recht auf Freiheit und Sicherheit sowie Artikel 3 zum Verbot von Folter und Misshandlung. Die Rechtsverletzungen, auf die der EGMR hinwies, waren wie eine Zusammenfassung des unmenschlichen Zeugnisses des türkischen Staates auf Imrali:

*Der veränderte Status der Staatssicherheitsgerichte reichte für einen fairen Prozess nicht aus. Die Frage war nicht, wann ein ziviler Richter in dem Prozess eingesetzt wurde, sondern die prinzipielle Feststellung, dass ein Militärangehöriger nicht an einem Verfahren gegen Zivilisten beteiligt sein darf. Als Ergebnis wurde festgestellt, dass ein Gericht mit einem Militärrichter nicht unabhängig und unparteiisch sein kann und damit Artikel 6, Absatz 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt wurde.

*Nach seiner Verschleppung in die Türkei hatte Öcalan lange Zeit keinen Kontakt zu seinem Rechtsbeistand. An den Anwaltsgesprächen nahmen auch Sicherheitskräfte teil oder zumindest wurden die Gespräche abgehört. Uneingeschränkte Mandantengespräche sind in demokratischen Gesellschaften Voraussetzung. Somit wurde Artikel 6, Absatz 3 der Menschenrechtskonvention verletzt.

*Dem Rechtsbeistand wurde nicht ausreichend Vorbereitungszeit für den Prozess eingeräumt. Die Anzahl und Dauer der Mandantengespräche waren begrenzt, das Verteidigerteam konnte nicht alle Prozessakten einsehen. Auch das widersprach Artikel 6.

*Der Prozess gegen Öcalan fand nicht vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht statt und das Verfahren war nicht gerecht. Bis zur Bestätigung der Aufhebung der Todesstrafe durch das türkische Verfassungsgericht am 27. Dezember 2002 bestand weiterhin das Risiko der Hinrichtung. Dass Öcalan lange Zeit von seiner bevorstehenden Hinrichtung ausgehen musste, bedeutete gemäß Artikel 3 der Menschenrechtskonvention Folter und Misshandlung.

Europarat missachtet seinen Menschenrechtsgerichtshof

Der EGMR verkündete in einem weiteren Urteil vom 12. Mai 2005, dass der Prozess gegen Öcalan nicht unabhängig und unparteiisch gewesen sei. Im gleichen Urteil wurde festgestellt, dass das Recht auf einen fairen Prozess auf Imrali verletzt wurde. Bei drohender Todesstrafe sei eine freie und wirksame Verteidigung nicht möglich gewesen. Der EGMR entschied, dass das Verfahren neu aufgerollt werden müsse, wenn ein entsprechender Antrag gestellt werde.

Nach diesem EGMR-Urteil beantragte das Verteidigerteam Öcalans bei der elften Strafkammer des Schwurgerichts Ankara einen neuen Prozess. Das Gericht wies den Antrag am 5. Mai 2006 mit der Begründung zurück, dass auch ein neu aufgerollter Prozess das bereits gefällte Urteil nicht ändern werde. Daraufhin wandte sich das Verteidigerteam an das Ministerkomitee des Europarats. Das Komitee entschied, dass eine Neuverhandlung des Öcalan-Falls nicht notwendig sei. Damit missachtete das Gremium das Urteil des EGMR und löste einen internationalen Justizskandal aus. Gemäß der normalen Prozedur hätte die Türkei wegen Missachtung des EGMR-Urteils zunächst verwarnt werden müssen, anschließend wäre ihr das Stimmrecht im Europarat aberkannt worden. Sollte sie sich dennoch nicht an das EGMR-Urteil halten, hätte die Türkei aus dem Europarat ausgeschlossen werden müssen.

Verschärftes Hochsicherheitsvollzugsregime

Auf gleiche Weise ignorierte die Türkei den EGMR und erließ mit Rechtskraft vom 1. Juni 2005 den als „Öcalan-Gesetz“ bekannt gewordenen 47. Artikel im neuen Strafgesetzbuch. In dem Artikel ist festgelegt, dass ein zu „erschwerter lebenslänglicher Haftstrafe“ Verurteilter das Gefängnis nicht vor seinem Tod verlassen darf. Zum gleichen Datum trat das Vollzugsgesetz in Kraft, laut dem eine vorzeitige Haftentlassung nicht möglich ist und der Verurteilte bis zum Tod für 22 bis 23 Stunden am Tag in einer Einzelzelle verbringen muss.

Mit diesen Regelungen machte der türkische Staat aus dem Gefängnis auf Imrali ein „erschwertes Hochsicherheitsvollzugsregime“, das spezifische Folter- und Isolationsmethoden für Öcalan vorsah. Die gegen Öcalan ausgesprochene Todesstrafe wurde in eine Strafe umgewandelt, die dem vom EGMR als rechtswidrig befundenen Todestrakt entsprach.

Der türkische Staat konnte die Todesstrafe nicht vollstrecken und setzte vor den Augen der Weltöffentlichkeit eine Form der Hinrichtung auf Raten um, indem er die Haftbedingungen weiter verschlechterte und seine psychologischen Angriffe fortsetzte, worunter die Gesundheit Öcalans litt. Die staatlichen Verantwortlichen erklärten in der aufgeheizten Debatte im türkischen Parlament, die Gesetze, denen jegliche ethische Grundlage fehlte, seien speziell für Öcalan erlassen worden

Die Bedingungen der Gefangenschaft auf Imrali

Nach 2005 verschlechterten sich die Haftbedingungen auf Imrali. Der Menschenrechtsverein IHD (İnsan Hakları Derneği) und das Rechtsbüro Asrin machten in Berichten auf folgende Umstände der Gefangenschaft Öcalans aufmerksam:

*Mit den Neuregelungen von 2005 wurden die Anwaltsgespräche von einem gerichtlich bestellten Beamten abgehört und aufgezeichnet. Damit einhergehend wurden Ermittlungsverfahren gegen die Anwältinnen und Anwälte, die Öcalan besuchten, eingeleitet, in einigen Fällen wurde die juristische Vertretung untersagt.

*Laut dem vorherigen Vollzugsstatut war eine Verlegung in ein anderes Gefängnis mit einem Großzellensystem gesetzlich möglich. Mit den Neuregelungen vom 1. Juni 2005 wurde die Bestimmung umgesetzt, dass Öcalan 23 Stunden am Tag in einer Einzelzelle verbringen muss.

*Besuche des Rechtsbeistands und der Angehörigen wurden unter dem Vorwand widriger Wetterbedingungen oder eines Defekts der für die Überfahrt nach Imrali vorgesehenen Fähre häufig verhindert. Während das ehemalige Haftstatut wöchentliche Familienbesuche für jeweils einer Stunde vorsah, wurde das Recht auf einstündige Besuche im Abstand von zwei Wochen beschränkt. In der Praxis ließ die Gefängnisleitung nur halbstündige Besuche zu.

*Das Recht auf zweistündigen Hofgang wurde auf eine Stunde gemindert.

*Die Einzelzelle Öcalans auf Imrali bekommt nicht ausreichend Tageslicht und Luftzufuhr, der Bewegungsspielraum ist auf vier Schritte begrenzt. Erschwert werden die Bedingungen durch das feuchte Klima auf der Insel.

*Der Bereich des Hofgangs ist von hohen Mauern umgeben und wirkt wie ein Loch. Der Boden ist für sportliche Betätigung nicht geeignet.

*Abdullah Öcalan wurde 24 Stunden am Tag mit einer Kamera und durch ein Sichtfenster in der Zellentür überwacht. Diese Überwachung dauert auch heute noch an.

*Die Mahlzeiten sind von minderer Qualität und werden oft auf erniedrigende Weise übergeben. Einkaufsmöglichkeiten gibt es nicht, es können auch keine gesundheitsfördernde Lebensmittel bestellt werden.

*Öcalan hatte jahrelang nur ein Radio mit einer Frequenz. Das Radiohören wurde häufig durch Signale von außen gestört. Erst nach vier Jahren bekam Öcalan einen Fernseher.

*Die Rechte von Gefangenen auf Tageszeitungen, Bücher, Telefongespräche oder Faxverkehr wurden teilweise oder gänzlich eingeschränkt. Zeitungen wurden oft gar nicht ausgehändigt oder nur in alten und zensierten Ausgaben.

*Briefe an Öcalan wurden ihm in den meisten Fällen nicht ausgehändigt, von ihm selbst geschriebene Briefe wurde teilweise so stark zensiert, dass nur noch wenige Wörter lesbar waren. Beleidigende und bedrohliche Briefe hingegen wurden Öcalan von der Gefängnisleitung übergeben, obwohl diese gesetzlich nicht dazu berechtigt ist.

*Viele der an Öcalan geschickten legalen Bücher wurden Öcalan auf Beschluss der Gefängnisleitung nicht ausgehändigt.

*Das Fenster in der Zellentür wurde Tag und Nacht lautstark geöffnet und geschlossen. Öcalan wurden gewaltsam die Haare geschoren. Auf dem Weg zum Hofgang und in den Besuchsraum wurde er mit lauter Stimme und in harter Form angesprochen. Dieses Vorgehen wurde systematisch fortgesetzt.

Dieses unmenschliche Vorgehen sollte vor den Augen Europas, dessen Rechtssystem auf den Worten des italienischen Denkers Dantes aufbaut, dass Gefängnisse nicht das Tor zur Hölle sein sollten, fortgesetzt werden. Abdullah Öcalan hingegen sollte weiter auf Imrali, seinem Tor zur Hölle, mit seiner Gedankenwelt und seinen Initiativen für Frieden und eine Lösung Kurdistan, die Türkei und die Region beeinflussen.