Unter den schweren Isolationsbedingungen im Inselgefängnis Imrali beschleunigte Abdullah Öcalan im Sommer 1999 seine Friedensbemühungen. Was ihm vorschwebte, waren Schritte von historischer Bedeutung, die den jahrelang bestehenden „gordischen Knoten“ zwischen den Kriegsparteien lösen sowie Frieden und einen Dialog ermöglichen sollten.
Seinen Plan erklärte er erstmalig am 5. Juli 1999 im Gespräch mit seinen Anwält*innen. Um die ins Stocken geratenen Entwicklungen wieder in Gang zu bringen, sollte die Guerilla aus dem Staatsgebiet der Türkei nach Südkurdistan abgezogen und die Reaktion des Staates darauf abgewartet werden. Diesen Rückzugsplan bezeichnete Öcalan als möglichen Fortschritt für die Waffenruhe. Am 7. Juli 1999 erläuterte er seine Gedanken in einem zweiseitigen Brief an den Präsidialrat der PKK:
„Sinnlose Gewalt führt dazu, dass die Probleme ausweglos werden. Die Beendigung der Gewalt ist das grundlegende Element einer Lösung der Probleme. Das Kampfniveau in der kurdischen Frage hat im Übermaß Gewaltinhalte erlebt und ein Friedensprozess ist zum vordringlichen Ziel der Gesellschaft auf allen Ebenen und in ihrer Tiefe geworden. Ein gewalttätiger Umgang führt nicht darüber hinaus, objektiv die Ausweglosigkeit zu vertiefen, eine falsche Profitökonomie und politische Struktur zu produzieren und somit reaktionärsten Konsequenzen den Weg zu ebnen.
Wenn die bestehende Situation nicht überwunden wird, ist die Konsequenz eine Vertiefung der Ausweglosigkeit und eine Wiederholung. Wenn auch verspätet, liegt uns als einziger Weg eine bescheidene und realistische Friedensalternative gegenüber. Es gibt jedoch erhebliche Hindernisse. Wenn die durch die jahrelange Gewalt entstandene Realität überwunden wird, kann ein Weg zum Frieden einfach gefunden werden.
Wenn jedoch die alten Verhaltensweise auch in dieser Zeit auftreten, wäre es sehr schwer. Es ist eindeutig, dass in der Realität der Türkei ein sehr spezifischer Umgang mit der kurdischen Frage nötig ist. Für den vor uns liegenden Frieden müssen sich die Lektionen des zurückliegenden Krieges genau vor Augen geführt werden. Vor allem können sich innen wie außen sehr vielseitige Provokationen aufdrängen.
Dass die Gewalt praktisch und garantiert zum Ende gekommen ist, muss in einer Form bewiesen werden, die keine Zweifel aufkommen lässt. In dieser Situation ist der wirksamste und konstruktivste Weg, der alle Seiten dazu zwingt, das ihnen Zufallende zu tun, und es gleichzeitig einfacher macht, eine Erklärung für den Frieden und zur Beendigung des bewaffneten Kampfes. Am 1. September 1999 zu erklären, dass wir den bewaffneten Kampf beendet haben, unsere Kräfte hinter die Grenzen in den Süden zurückzuziehen, den Entwicklungen entsprechend einzusetzen und vorzubereiten.“
Der türkische Staat hatte andere Ziele
Um eine Atmosphäre des Friedens entstehen zu lassen, appellierte Abdullah Öcalan auf gleiche Weise auch an den türkischen Staat: „Nach dem Rückzug als ersten Schritt werdet auch ihr einen Schritt setzen.“ Er zählte wichtige neue Schritte wie die Rückkehr der Vertriebenen in die Dörfer und die Aufhebung des paramilitärischen Dorfschützersystems auf. Der türkische Staat jedoch beharrte auf einem bedingungslosen Abzug der Guerilla aus den Bergen, ein Rückzug hinter die Grenzen reichte ihm nicht aus. Als Lösung deklarierte er das von ihm geplante „Reuegesetz“. Nach der Meinung Öcalans sollte jedoch kein weiterer Schritt als ein Abzug der Guerilla aus der Türkei stattfinden, er stellte sich dem massiven Druck entgegen.
Angesichts dieser Haltung Öcalans brachen die Verantwortlichen des türkischen Staates für drei Wochen den Kontakt zu ihm ab. An ihn gerichtete Briefe wurden nicht ausgehändigt, seine Notizen zu den stattgefundenen Gesprächen wurden beschlagnahmt. In der Zwischenzeit wurde das Verfahren vor dem Revisionsgericht in Blitzgeschwindigkeit abgeschlossen. Diese Entwicklungen auf Imrali waren ein Vorbote für die Methoden, mit denen in den späteren Jahren versucht werden sollte, Abdullah Öcalans Willen zu brechen und gefangenzunehmen.
Der Aufruf vom 2. August 1999
Trotz dieser Reaktion des türkischen Staates wollte Abdullah Öcalan einen ersten ernsten Schritt auf dem Weg zum Frieden setzen. Bei einem Gespräch mit seinen Anwält*innen forderte er, dass ein von ihm vorbereiteter Text verlesen wird. Diese beschlossen am selben Tag, eine Pressekonferenz in Istanbul zu veranstalten. Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit in Kurdistan, der Türkei und der Welt richtete sich auf diese Presseveranstaltung, auf der die Stärke Imralis sichtbar werden sollten.
In der vom Rechtsbeistand Öcalans verlesenen Erklärung hieß es zusammengefasst: „Die Atmosphäre gewalttätiger Konflikte in der Türkei verhindert Menschenrechte und eine demokratische Entwicklung. Vor allem die aus der kurdischen Frage resultierende Gewalt spielt dabei eine grundlegende Rolle. Für einen Ausweg aus der Sackgasse und eine Lösung der Probleme muss die Gewalt beendet werden.“
Aus diesem Grund rief Öcalan die PKK dazu auf, nach dem einseitig erklärten Waffenstillstand vom 1. September 1998 den bewaffneten Kampf am 1. September 1999 zu beenden und ihre Kräfte für den Frieden aus türkischem Staatsgebiet abzuziehen. Er sei davon überzeugt, dass damit eine neue Etappe des Dialogs und der Einigung auf dem Weg zu einer demokratischen Lösung eingeleitet werden können. Damit einhergehend appellierte Öcalan an alle staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen und Verantwortlichen, einen Prozess des Friedens und der Geschwisterlichkeit zu unterstützen, um seinen Erfolg zu gewährleisten. Die türkische Regierung, ausländische Regierungen und internationale Organisationen wurden zur Hilfestellung aufgerufen.
Positive Antwort der PKK
Die Antwort der kurdischen Befreiungsbewegung auf den Aufruf Öcalans erfolgte schnell. Die PKK und alle anderen Komponenten der Bewegung erklärten nacheinander, dem Aufruf Folge zu leisten. Auch eine erdrückende Mehrheit der Anhängerschaft der PKK unterstützte diese Initiative. In der Hauptstadt des türkischen Staates hingegen herrschte weiterhin eine Atmosphäre, die von der Frage geprägt war, warum es nur einen Rückzug und keine Kapitulation geben solle.
Weitere Erklärung von Abdullah Öcalan
Am 11. August 1999 ergriff Abdullah Öcalan ein weiteres Mal die Initiative und gab über seine Anwälte eine Erklärung ab, die auch in den türkischen Medien für Schlagzeilen sorgte: „Wenn der Staat will, dass die Waffen niedergelegt werden, muss er die Bedingungen dafür schaffen. Es muss Vorbereitungen des Staates geben. Wenn die Türkei morgen einen Schritt setzt, werden auch die Waffen niedergelegt. Es gibt keine richtige gesetzliche Regelung. Sie sollen kommen, aber wo sollen sie hingehen? Eigentlich ist das, was wir getan haben, ein Abwarten für den Frieden. Auch wenn ich vernichtet werde, wenn ich aufgehängt werde, erfordern der Geist und die Logik dieser Zeit eine Lösung. Wir sind bereit, die Waffen herzubringen und abzugeben. Aber welche Ebene im Staat ist dafür verantwortlich? Außerdem wollen wir mit dem Staat Frieden schließen. Aber wo ist das Organ, die Struktur im Staat, die uns empfängt?
Die Gefechte werden aufhören. Es kann zu umfassenden Entwicklungen für die Türkei kommen. Die finsteren Kräfte, die das verhindern wollen, begehen Morde wie im Fall von Şemsi Denizer [am 6. August 1999 ermordeter Generalsekretär der Gewerkschaft Türk-İş]. Ich bin besorgt, dass Vorfälle dieser Art die Atmosphäre der Sicherheit zerstören. Die gesamte Öffentlichkeit muss diesem Thema Aufmerksamkeit widmen, das ist eine Zwangsläufigkeit für den Frieden. Unsere Position ist strategisch. Es mag sein, dass einige das zerstören wollen, aber ich glaube fest daran, dass der Friedensprozess und die Entwicklung anhalten. Als Konsequenz aus diesem Schritt kann es zu großen und begeisternden Entwicklungen kommen. Es hat eine neue Zeit begonnen. Ohne Frieden ist nichts möglich. Dieses Land braucht Frieden mehr als Luft und Wasser. Frieden erfordert einen großen Willen, Geduld und Verständnis.”
Reuegesetz als Antwort auf den vorgezogenen Rückzug
Der PKK-Präsidialrat maß den Friedensappellen Öcalans große Bedeutung bei und erklärte aufgrund der Erdbebenkatastrophe vom 17. August, den für den 1. September geplanten Rückzug aus der Türkei bereits am 25. August eingeleitet und den Krieg beendet zu haben. Die türkische Regierung reagierte keine 24 Stunden nach dieser Erklärung mit dem Erlass des „Reuegesetzes“. Diese Regelung sah vor, dass PKK-Mitglieder, die sich an keinen bewaffneten Angriffen beteiligt haben, sich ergeben, ihre Waffen abgeben und mit ihren Aussagen weitere Straftaten verhindern, amnestiert werden. Während sich die kurdische Guerilla gruppenweise auf den Weg gemacht hatte, um das türkische Staatsgebiet zu verlassen, wollte das Regime in Ankara ihr die Kapitulation und Denunziantentum aufdrängen.
Darüber hinaus setzte die türkische Armee während des Rückzugs an vielen strategisch wichtigen Punkten in Nordkurdistan auf Angriffe, Hinterhalte und Militäroperationen. Auf den ersten Friedensplan Abdullah Öcalans auf Imrali reagierte der türkische Staat mit einem Vernichtungsplan. Doch trotz vieler Todesopfer gelang es der Guerilla, den Rückzug bis zum Ende des Herbstes zu vollenden. Es war kein vollständiger Rückzug, kleine Guerillagruppen blieben im Norden. Die PKK zog ihre Kräfte zurück, um auf den Frieden zu warten. Wenn die Atmosphäre dafür bereit sein sollte, sollten diese Kräfte in die Türkei gehen und sich an der demokratischen Politik beteiligen. Abdullah Öcalan machte dafür eine demokratische Justizreform und eine Generalamnestie zur Bedingung.
Friedensgruppen werden in die Türkei geschickt
Um die eigene Aufrichtigkeit zu zeigen, wollte Abdullah Öcalan, dass von der Guerilla Friedensgruppen in die Türkei geschickt werden. Als das Kalenderblatt den 1. Oktober 1999 anzeigte, ging eine aus acht Personen bestehende Guerillagruppe über die offizielle türkische Grenze in ein Dorf nach Şemzînan (türk. Şemdinli). Diese Guerillakämpfer*innen gingen als erste Gruppe für Frieden und eine demokratische Lösung in die Geschichte ein. Eine weitere Gruppe machte sich am 29. Oktober aus Europa auf den Weg. Öcalan machte sich Hoffnungen deswegen. Die Mitglieder der Gruppen, die mit der eindeutigen Botschaft in die Türkei einreisten, sich an die Gesetze einer demokratischen Republik zu halten, wurden festgenommen und ins Gefängnis geworfen.
Todesstrafe im Parlament und Antrag beim EGMR
Die neunte Strafkammer des Kassationsgerichts bestätigte am 25. November 1999 einstimmig die vom Gericht auf Imrali verhängte Todesstrafe gegen Abdullah Öcalan. Laut der vom Kammervorsitzenden abgegebenen einminütigen Erklärung lag der Fall jetzt im Parlament. In denselben Tagen beantragte der Rechtsbeistand von Öcalan beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine Interimsentscheidung, damit die Todesstrafe nicht vollstreckt wird. Die Augen waren jetzt auf Ankara und auf den EGMR gerichtet.
Selbst dem Tod einen Sinn geben
Abdullah schrieb in den 2001 unter dem Namen „Gilgameschs Erben – Bd. II: Vom sumerischen Priesterstaat zur demokratischen Zivilisation” veröffentlichten Verteidigungsschriften über die gegen ihn verhängte Todesstrafe und die damalige Haltung:
„Es war klar, dass man aus dem Todesurteil politisches Kapital schlagen konnte und dies nicht nur in Verbindung mit der Verschwörung. Es könnte auch ein Meilenstein auf dem Weg zu einer demokratischen Einigung sein, solange dies mit dem Willen zum Frieden geschah und unter Beteiligung einsichtiger Menschen. Dies als Intrige zu bezeichnen, sollte denjenigen vorbehalten bleiben, die daraus einen Vorteil ziehen wollten.
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich noch nicht entschieden, ob ich weiterleben oder sterben wollte. Wenn ich mich wirklich zu einer kollektiven Persönlichkeit entwickelt habe, so waren persönliches Heldentum und der Tod als Herausforderung für mich keine Option. Nachdem Richter Turgut Okyar das Todesurteil gesprochen hatte, zerbrach er seinen Bleistift nicht. Später gestand er ein, dass er persönlich gegen die Todesstrafe sei. Warum ich immer noch lebe, ist mir ein Rätsel. Mein Leben ist zu einer starken politischen Trumpfkarte geworden. Die Gefahren hatten sich abgezeichnet. Die PKK und die Kurden richteten sich bei einem Schuldspruch auf einen neuen Aufstand ein. Die türkischen reaktionären und chauvinistischen Kreise versprachen sich von einer Vollstreckung des Urteils einen Vorteil für die bevorstehende Wahl.
Auf beiden Seiten zeigten sich Rachegelüste. Die internationalen Kräfte erwogen die möglichen Folgen eines Schuldspruches. So war klar, dass ich weit über meine persönlichen Sorgen hinaus überlegt handeln musste. Es erschien mir richtiger, mich jeden weiteren Tag meines Lebens für einen würdigen Frieden und einen demokratischen Kompromiss einzusetzen. Auch in moralischer und politischer Hinsicht wäre es nicht richtig gewesen, meine persönlichen Interessen in den Vordergrund zu stellen. Deshalb hätte ich meinem Umfeld, das gespannt auf jedes Zeichen wartete, niemals eine Botschaft gegeben, die zu falschen Reaktionen geführt hätte. Es war klar, dass ich die PKK nicht mit primitiven Taktiken würde führen können. Für derartige Überlegungen gab es keinen Raum und sie wären fehl am Platze gewesen.
So habe ich mir, was den Tod angeht, eine Haltung zu eigen gemacht, die man als sokratisch bezeichnen könnte: „Selbst der Tod muss einen Sinn haben! Das Wie und Warum muss in der Philosophie seinen Ausdruck finden.“ Ich hätte nie geglaubt, dass ich noch so lange lebe. Unter dem Eindruck des Todesurteils, das ständig wie ein Damoklesschwert über meinem Haupt schwebt, begegne ich dem Geist, der sich ständig weiter entwickelt, mit zunehmender Demut. Auf diese Weise hat eine Form des Lebens ihren Sinn gefunden, die man unter normalen Umständen nur wenige Wochen würde aushalten können. Das Todesurteil hat mich nicht besiegt, sondern ich habe das Todesurteil besiegt. Woher er auch kommen mag, wie er auch geschehen wird, ob morgen oder erst in ein paar Jahren: Für mich bedeutet der Tod kein wirkliches Problem mehr. Ich habe einen Punkt erreicht, an dem ich sagen kann: herzlich willkommen! Dies unseren Völkern, unseren Freunden, der PKK und dem Staat zu erklären, ist allerdings schwierig. Soweit es mir möglich war, habe ich dies aber getan. Dabei ging es teilweise um eine tief greifende Veränderung von einer Philosophie des ‚Lebens und Lebenlassens‘. Wenn beide Seiten daran arbeiten, wird es möglich sein, gemeinsam den Sieg oder den Frieden zu teilen.“