Seit dem 16. Februar 1999 wird Abdullah Öcalan, Vordenker der kurdischen Befreiungsbewegung und Gründer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), als politische Geisel der türkischen Regierung auf der Gefängnisinsel Imrali festgehalten - die meiste Zeit davon in Totalisolation. Im dreizehnten Teil des Dossiers „Kurzgeschichte der Revolution Kurdistans“ widmen wir uns der Entstehung des heutigen Hochsicherheitsgefängnisses.
Die Gefängnisinsel Imrali in der türkischen Provinz Bursa ist eine von 24 Inseln im Marmarameer und mit ihren 25 Quadratkilometern flächenmäßig die viertgrößte. In Nord-Süd-Richtung ist die Insel rund acht Kilometer lang und von West nach Ost drei Kilometer. War die strategisch gelegene Insel, deren antiker Name Aigaion lautete, bereits ab dem siebten Jahrhundert v. Chr. immer wieder Schauplatz bitterer Rivalitäten zwischen dem Königreich Bithynien, in dem der thrakische Stamm der Thynen angesiedelt war, den Persern und dem Römischen Reich, wurde sie laut den Aufzeichnungen des byzantinischen Chronisten Theophanes, der sie Kalonymos oder Kalolimnos nannte, das erste Mal erst im siebten Jahrhundert nach Chr. von Menschen bewohnt. Im 14. Jahrhundert eroberte Emir Ali Bey, einer der ersten osmanischen Admirale, Imrali. Mit der Einnahme der Insel durch die Osmanen diente Imrali, inzwischen umbenannt in Cezire-i Emir Ali, als Marinestützpunkt. Damit wurde die Verbindung Bursas zum Byzantinischen Reich unterbunden. Theophanes war schon zu Beginn des 9. Jahrhunderts aus seinem Kloster verbannt worden.
Bis 1923 wurde Imrali von Griechen bewohnt. Etwa 1.200 Menschen lebten in den knapp 250 Häusern. Zudem gab es eine Schule und drei Klöster. Die Haupteinnahmequelle der Inselbewohner waren der Zwiebelanbau und die Fischerei. Als der Vertrag von Lausanne am 24. Juli 1923 die Staatsgrenzen der heutigen Türkei festlegte, wurde auch eine zwischen Athen und Ankara ein halbes Jahr zuvor vereinbarte Konvention zum Bevölkerungsaustausch umgesetzt. In der Folge wurde die gesamte Insel geräumt und kam unter die Verwaltung der türkischen Marine.
Sicherer Hafen für Deserteure
Zwischen 1924 und 1935 war Imrali unbewohnt und galt als Zufluchtsort für Deserteure und andere Flüchtige. Erst eine Bekanntmachung in der Zeitung Cumhuriyet erweckte am 4. Mai 1935 den Eindruck, dass die Insel mit Gebäuden versehen werden soll. In dem Text hieß es, dass sich arbeitslose Lastenträger aus Istanbul mit dem Wunsch an die Behörden gewandt hätten, das Niemandsland auf der Insel zu bewirtschaften. Diese Personen würden sich in Zukunft auch in der Fischerei betätigen.
Doch schon kurze Zeit nach dieser Verlautbarung beschloss die türkische Regierung, auf Imrali das erste halboffene Gefängnis des Landes zu errichten. Am 11. August wurden 50 wegen Mordes verurteilte Strafgefangene aus Haftanstalten in der Marmararegion auf die Insel verlegt und zunächst in den verfallenen Gebäuden untergebracht. Unter ihnen befand sich auch ein Baumeister namens Fahri Usta. Dieser widmete sich als allererstes dem Wiederaufbau der noch vorhandenen Mauern einer Klosterruine. Damit hatte das halboffene Inselgefängnis Imrali, das später Platz für insgesamt 3.000 Gefangene bieten sollte, seine erste Gemeinschaftszelle.
Regierung konkretisiert Pläne für Arbeitserziehungslager
Als die verurteilten Mörder als Bauarbeiter auf die Insel verfrachtet worden waren, hatte man ihnen auch Handwerkszeuge für den Fischfang und Geräte für den Landschaftsbau mitgegeben. Denn zusätzlich zu dem Gefängnis sollte nach den Plänen der Regierung ein Zuchthaus auf Imrali errichtet werden. Der Justizminister Şükrü Saraçoğlu sprach ganz offen von seinen Wünschen eines „Arbeitserziehungslagers“ im Marmarameer. Am 5. September 1936 wurde er von der Cumhuriyet mit folgenden Worten zitiert:
„Verbrecher, die ins Gefängnis kommen, verbüßen den ersten Teil ihrer Strafe in einer Einzelzelle. Sie erhalten nur Obst und eine Scheibe Brot, dürfen weder rauchen noch Kontakt zur Familie haben. Sind sie gehorsam, wird der zweite Teil ihrer Strafe etwas gelockert. Der dritte und vierte Abschnitt der Haft wird den persönlichen Verhältnissen der Gefangenen entsprechend gestaltet, sodass sie gewisse Privilegien erhalten und ihre Strafe durch Arbeiten absitzen. Ungehorsame Gefangene können mit harten Maßnahmen rechnen. Unser Hauptaugenmerk hinsichtlich der Gefängnisse liegt darin, dass die Häftlinge, ohne dass sie eine Belastung für die Regierung und ihre Familien darstellen, beschäftigt werden und für ihre eigenen Unkosten und die ihrer Anstalt aufkommen sollen. Die Gefangenen werden essen und tragen, was wir ihnen geben, den Weg gehen, den wir ihnen aufzeigen und ihr Leben arbeitend verbringen. In naher Zukunft werde ich Imrali persönlich besuchen und das von den Häftlingen erbaute Gefängnis sowie die anderen Einrichtungen inspizieren. Die Strafgefangenen sind perfekt beschäftigt. Die Zahl aller Häftlinge in unserem Land beträgt derzeit 35.000, etwa 17.000 von ihnen sind verurteilt. In diesem Jahr wollten wir eigentlich auch das Anwaltsgesetz im Parlament einbringen. Allerdings haben wir erfahren, dass die Deutschen ein neues Gesetz vorbereiten. Da wir sehr wahrscheinlich davon profitieren können, warten wir ab bis zu seiner Bekanntmachung.“
Saraçoğlu glühender Verehrer von Hitlerdeutschland
Şükrü Saraçoğlu galt als ein glühender Verehrer von Hitlerdeutschland. Während an den nationalsozialistischen Konzentrationslagern die zynische und Opfer verhöhnende Toraufschrift „Arbeit macht frei“ prangerte, lautete Saraçoğlus Phrase für die Verschleierung der menschenunwürdigen Bedinungen und Behandlung in den Gefängnissen und Arbeitslagern ab 1936 „Arbeitend leben”. Nach einem Besuch auf Imrali schwärmte er davon, dass es sich um ein „Mustergefängnis“ für die gesamte Welt handele.
Von 1938 bis 1942 war Saraçoğlu, der auch Vorsitzender der CHP war, Außenminister. Unter seine pro-deutsche Amtszeit fiel die Unterzeichnung des deutsch-türkischen Freundschaftsvertrags und damit auch die Verschlechterung der türkisch-sowjetischen Beziehungen. Als Ministerpräsident der Türkei führte er 1942 die „Vermögenssteuer“ ein, die offiziell zur Kriegsfinanzierung bei einer möglichen Involvierung in den Zweiten Weltkrieg diente, aber sich vor allem für die Minderheiten desaströs auswirkte. Die Steuersätze waren für Nichtmuslime, also Juden, Griechen und Armenier, um ein Vielfaches höher als für Muslime. Der eigentliche Zweck dahinter war die Türkisierung der Wirtschaft – Saraçoğlu hatte den nationalistisch geprägten Turanismus in das Regierungsprogramm aufgenommen –, deshalb mussten die nichtmuslimischen Minderheiten verdrängt werden. Wer nicht in der Lage war, die astronomische Vermögenssteuer zu bezahlen, wurde festgenommen und zur Zwangsarbeit geschickt. In der Praxis diente das Gesetz de facto zur Enteignung der Minderheiten. 1944 wurde es wieder aufgehoben.
„Erziehung durch Arbeit“
Nach den Regeln von Saraçoğlu hatte das Arbeitserziehungslager auf Imrali binnen kurzer Zeit begonnen, seine Aufgaben zu erledigen. Nach einer Weile gründete die türkische Regierung in Bursa sogar eine Genossenschaft, um die von den Gefangenen angebauten Produkte aus der Landwirtschaft sowie Produkte aus der Fischerei zu verkaufen. Als der Umsatz des ersten Jahres unerwartet hoch ausfiel, erteilte Saraçoğlu die Anweisung, das „Imrali-Modell“ an weiteren Orten zu installieren. Zuerst wurden in Edirne und Isparta je 250 Gefangene in Teppichwebereien geschickt. Weitere 150 Gefangene mussten fortan in Kohlengruben in Zonguldak arbeiten. Die nationalistische Haltung von Saraçoğlu machte sich auch in der Namenswahl für Orte auf der Gefängnisinsel Imrali bemerkbar: Atatürk-Gipfel, Inönü-Gipfel, Kap Mete, Saraçoğlu-Tal oder ein Brunnen benannt nach Saraç Ahmet Usta, dem Großvater Saraçoğlus.
Im Jahr 1939 – auf Imrali gab es inzwischen etwa tausend Gefangene – wurde die Insel ein zweites Mal von einem führenden Regierungsvertreter besucht: Fethi Okyar, seit kurzem Justizminister im Kabinett von Refik Saydam, war begeistert von den Gefangenen, die ihn in Häftlingskleidung in einer Reihe aufgestellt begrüßt hatten. Am 19. August zeigte die Cumhuriyet auf ihrer Titelseite ein Foto von Okyar beim Inspizieren der Zwiebelernte. Als Widmung in das Erinnerungsbuch des Inselgefängnisses schrieb er vor seiner Abreise: „Ich bin höchst erfreut darüber, diese Einrichtung, die den erfolgreichen Anfang des Systems der Erziehung von Gefangenen darstellt, deren Defizite durch Arbeit statt durch reguläre Haft und Repression behoben werden und die sich dadurch zu nützlichen Elementen für die Gesellschaft entwickeln, gesehen zu haben. Die Ordnung bei der Arbeit und die Sauberkeit der Einrichtung ist bewundernswert.“
Nationalistischer Schriftsteller lobt Imrali-Modell
Es gab eine ganze Reihe von Menschen, vor allem prominente Persönlichkeiten, die zu jener Zeit das „Imrali-Modell“ unterstützten. Unter ihnen war auch der Schriftsteller Peyami Safa, der einige Jahre Feuilletonredakteur der Cumhuriyet war. Safa hatte im Laufe seines Lebens mehrfach seine weltanschaulichen und politischen Überzeugungen geändert und sich vom „kemalistischen Sozialisten“ zum Verehrer des liberalen Panturkismus entwickelt, bevor er islamischer Nationalist wurde. Er erwähnte in seiner Kolumne vom 5. September 1938 unter dem Titel Experiment Imrali ein Theaterstück von Vedad Nedim Tör: „Dieses Schauspiel führt uns vor Augen, dass Arbeiten im Strafvollzug deutlich positivere Ergebnisse bei der Erziehung bringen als Folter. Nachdem wir auch von Nadir Nadis [Journalist bei der Cumhuriyet] Beobachtungen auf Imrali und seine Ideen zu diesem Thema erfahren haben, können wir nicht viel hinzufügen, um zu beweisen, dass dieses hübsche Verfahren dort eine sehr notwendige und vorteilhafte Änderung im Strafvollzug war (ich sage dies, um das Wort Reform nicht zu verschwenden). Wir gratulieren unserem Justizminister bedingungslos, ohne zu zögern und mit Begeisterung.“
Zu Anfang der 1940er Jahre hatte sich Imrali zu einem Standort für die Herstellung arbeitsintensiver Produkte entwickelt. In den Webstätten und Textilfabriken auf der Insel wurden qualitativ hochwertige Tischdecken, Bettwäsche, Handtücher und Strümpfe produziert, die sich landesweit verkauften. 1958 vereinbarte die staatliche Fleisch- und Fischbehörde mit dem Justizministerium, dass fortan auch mit Frischfisch von Imrali-Kuttern gehandelt wird.
Berühmte Insassen: Menderes, Güney, Balaban, Stafonodis
Nicht nur durch das Arbeitserziehungslager trat die Gefängnisinsel Imrali immer wieder in Erscheinung. In unzähligen Jahren war sie ein zentraler Wendepunkt der jüngeren türkischen Geschichte. Nach dem Militärputsch von 1960 wurden der zum Tode verurteilte ehemalige Ministerpräsident Adnan Menderes sowie Ex-Außenminister Fatin Rüştü Zorlu und Ex-Finanzminister Hasan Polatkan auf Imrali gehängt. Andere bekannte Insassen waren der Filmemacher, Drehbuchautor und Schauspieler Yılmaz Güney, der als Wegbereiter des kurdischen Kinos gilt, der türkische Maler Ibrahim Balaban und der griechische Maler Angulos Stafonodis.
Imrali im „Midnight Express“ von Billy Hayes
Nicht nur Zeitungen, auch das türkische Kino griff das Thema Imrali hin und wieder auf. 1947 erschien der Film Yara (deut. Wunde), der die Lebensgeschichte von den Insel-Gefangenen dokumentierte. Seyfi Havaeri drehte 1952 die Romanze İmralı’da Doğan Güneş (Die aufgehende Sonne über Imrali), Kitschkino über die Liebesbeziehung zwischen einem ehemaligen Häftling und einer Gefängnisdirektorin.
Außerhalb der Türkei wurde Imrali durch den Film 12 Uhr nachts – Midnight Express bekannt. Das Werk erzählt die fiktionale Geschichte des real existierenden Studenten William „Billy“ Hayes, der zwei Kilogramm Haschisch aus der Türkei schmuggeln wollte und zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt wurde. Nachdem Hayes nach seiner Verurteilung zunächst im Istanbuler Sağmalcılar-Gefängnis und später im Irrenhaus von Bakırköy landete, wurde er auf Imrali verlegt. 1975 gelang ihm, zur Dockarbeit eingeteilt, mit einem Ruderboot die Flucht. Hayes setzte von Bandırma über nach Griechenland, von dort aus ging es weiter nach Deutschland und in die Niederlande, bevor er zurück in die Vereinigten Staaten gelangte. Dort angekommen schrieb er über diese Erfahrung das Buch „Midnight Express“, das die Vorlage für das Drehbuch des Films lieferte.
Die erste Flucht von der Insel gelang allerdings knapp vierzig Jahre zuvor: 1936 waren es die Gefangenen Şaban, Osman und Halil, die sich nach nur sechs Monaten Haftzeit in Eigenregie dem Imrali-Sytem entzogen hatten. Die Cumhuriyet, die das Gefängnis damals als „zu luxuriös“ bezeichnete, titelte nach der Dreier-Flucht: „Undankbarkeit gegenüber dem Guten.“