Die Hölle von Nairobi und die kurdischen Aufstände
In der Nacht auf den 16. Februar 1999 meldete MED TV, dass der Aufenthaltsort von Abdullah Öcalan seit Stunden unbekannt ist. In diesem Moment fuhr ein Feuer in die Herzen von Millionen Menschen.
In der Nacht auf den 16. Februar 1999 meldete MED TV, dass der Aufenthaltsort von Abdullah Öcalan seit Stunden unbekannt ist. In diesem Moment fuhr ein Feuer in die Herzen von Millionen Menschen.
Kenias Hauptstadt Nairobi und Daressalam, die Hauptstadt von Tansania, wurden am 7. August 1998 zeitgleich von Bombenanschlägen erschüttert. Die beiden Nachbarländer befinden sich in der zentral-östlichen Region des afrikanischen Kontinents. Durch die Bombenanschläge auf US-Botschaften verwandelten sich beide Hauptstädte in Kriegsschauplätze. Vor allem in Nairobi hatte die Explosion verheerende Auswirkungen: 213 Menschen kamen ums Leben, darunter zwölf Staatsangehörige der USA. Über 4000 Personen wurden verletzt. In Daressalam wurden elf Menschen bei dem Anschlag getötet, weitere 85 wurden verletzt.
Gleich in den ersten Stunden nach den Anschlägen meldeten Nachrichtenagenturen weltweit, dass al-Qaida dafür verantwortlich ist. Die USA leiteten eine markante Änderung ihrer Afrika-Strategie ein. Nairobi und Daressalam wurden zu Zentren des CIA in Afrika. Der US-Geheimdienst war zu jeder Zeit darüber informiert, was in den beiden Städten vor sich geht – einschließlich der Ein- und Ausreisen von Ausländern.
Der CIA wusste auch, wer sich in dem Flugzeug befand, das am 2. Februar 1999 am frühen Morgen auf der griechischen Insel Korfu gestartet war und um 11.33 Uhr in Nairobi landete. Dieses Flugzeug war nirgendwo offiziell registriert, seine Herkunft war nicht gekennzeichnet. Obwohl später behauptet wurde, dass es vom griechischen Geheimdienst gechartert war, handelte es sich eigentlich um ein Flugzeug des Gladio, also der Abteilung für verdeckte Operationen der NATO, und war aus der Schweiz bereit gestellt worden. Abdullah Öcalan wurde seit seinem Auszug aus Syrien von Geheimdiensten überwacht, insbesondere vom Mossad und von der CIA.
Flug nach Nairobi
Während Öcalans Aufenthalt in Kenia wurde die Zusammenarbeit zwischen CIA, Mossad und MIT intensiviert. Öcalan selbst erfuhr erst in der Luft, dass der Flug nach Nairobi geht. Der griechische Geheimdienst-Mitarbeiter Savas Kalenderidis, der Öcalan auf dem Flug begleitete, hatte zuerst behauptet, dass die Reise nach Südafrika führt. Dann hieß es, dass Öcalans Asylgesuch abgelehnt wurde und er eine Weile in Kenia bleiben sollte, um es anschließend erneut zu versuchen.
Abdullah Öcalan berichtete später, dass er sich gegen Afrika ausgesprochen hat: „Kalenderidis machte viele Versprechungen, um meine Zweifel auszuräumen. Er sagte: ,Sie werden in Afrika in unserer Botschaft untergebracht. Es ist griechisches Territorium, das Immunität genießt. Außer uns darf niemand dort intervenieren und Sie sind dort in Sicherheit.' Er fügte hinzu, dass es sich bei dem Zielort um eine Zwischenstation handelt und es Gespräche mit Südafrika geben werde, Kontakte seien bereits hergestellt worden. Kenia wurde überhaupt nicht erwähnt, es wurde nur Afrika genannt. Später sollte sich herausstellen, dass diese Versprechungen Lügen waren.“
Kalenderidis spricht sehr gut Türkisch und es war zweifellos kein Zufall, dass er vom griechischen Geheimdienst ausgesucht wurde. Zu Beginn der 1990 Jahre wurde er in der Türkei festgenommen und kam für vier Jahre ins Gefängnis, weil er mit einem Diplomatenausweis im griechischen Konsulat in Izmir geheimdienstliche Tätigkeiten verrichtete.
In Nairobi wurde Öcalan von Kostoulas, dem griechischen Botschafter in Kenia, empfangen. Kostoulas begegnete Öcalan am Flughafen zum ersten Mal und sprach ihn mit den Worten an: „Ich leite eine Einheit der NATO, die seit zwanzig Jahren zu Ihnen recherchiert. Während ich Sie im Himmel gesucht habe, habe ich Sie jetzt auf dem Boden gefunden.“
Vom Flughafen aus wurde Öcalan in eine Unterkunft der Botschaft gebracht. So begannen die 13 Tage in Kenia, die Öcalan später als die „Hölle von Nairobi“ bezeichnete.
Bewegungen in Nairobi und Ankara
Am nächsten Tag fanden rege Bewegungen der an dem Komplott beteiligten Kräfte statt. Der griechische Botschafter Kostoulas führte ein geheimes Gespräch mit dem kenianischen Außenministerium, zeitgleich fand eine Sitzung von Mossad-Mitarbeitern mit Vertretern des türkischen Außenministeriums, des MIT und der Operationsabteilung des Generalstabs in Ankara statt.
Während diese Kräfte das weitere Vorgehen besprachen, erklärte der US-Botschafter in Griechenland, Nicholas Burns: „Ich denke, dass Griechenland zum Thema Öcalan das Notwendige getan hat.“ Diese Entwicklungen zeigten auf, dass Kenia im Rahmen eines Plans ausgesucht wurde.
Kritischer Tag: 4. Februar
Der 4. Februar 1999 sollte als kritischster Tag der Kenia-Etappe in die Geschichte eingehen. Der griechische Botschafter Kostoulas hielt sich für ein Gespräch im kenianischen Außenministerium auf, wo ihm gesagt wurde: „Gebt ihn uns und mischt euch nicht weiter ein.“ Am Abend desselben Tages kamen ein CIA-Mitarbeiter und der MIT-Funktionär Şenkal Atasagun in dessen Haus zusammen. Bei diesem Gespräch wurde dem MIT der Plan vorgelegt, mit dem Abdullah Öcalan auf direkten Befehl von US-Präsident Bill Clinton gefangen genommen werden sollte.
Der türkische Staat akzeptierte den Plan. Der damalige türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit sollte später erklären: „Am 4. Februar bekamen wir die Nachricht, dass Öcalan aus Afrika geholt werden kann. Daraufhin ist dieser Mechanismus in Gang gesetzt worden.“
Am 4. Februar fand noch eine weitere wichtige Entwicklung statt. Die Insel Imrali, die später immer mit Öcalan in Verbindung gebracht werden sollte, wurde geräumt. Die dortigen Häftlinge wurden in andere Gefängnisse verlegt. Am nächsten Tag erschienen Kurzmeldungen darüber in den türkischen Zeitungen. Noch ahnte niemand, was auf Imrali später geschehen sollte.
Die griechische Botschaft in Nairobi
Und was geschah zu dieser Zeit im Haus der griechischen Botschaft in Nairobi? Das beschrieb Abdullah Öcalan später unter der Überschrift „Die Hölle von Nairobi“: „In der Hölle von Nairobi wurden mir drei mögliche Wege vorgelegt. Der erste: Der nach langer Befehlsverweigerung als Gefecht verschleierte Tod. Der zweite: Das Befolgen des Befehls der CIA und die Kapitulation. Der dritte: Meine längst vorbereitete Auslieferung an eine türkische Spezialkriegseinheit. Dilan, eine der Personen, die in Nairobi bei mir waren, war in angespannter Stimmung.
Wenn sie ihre Gedanken vollständig offengelegt hätte und es vermocht hätte, zivilgesellschaftliche Organisationen in Bewegung zu versetzen, hätte das Komplott vielleicht teilweise zerstört oder ins Leere geführt werden können. Ich fand ihren Vorschlag befremdlich, uns mit einer Pistole zu verteidigen. Das hätte für uns und für mich Selbstmord bedeutet. Selbstmord stand nicht in meiner Absicht. Sie schwirrte um mich herum und beharrte bis zum letzten Moment darauf, dass ich die Waffe an mich nehme. Wenn ich die Waffe bei mir getragen und sie gezogen hätte, hätte diese Haltung mit Sicherheit den Tod bedeutet. Im Verhör wurde später gesagt, dass es einen Schießbefehl für den Fall gab, dass ich eine Waffe benutzten sollte. Sie sagten auch, dass das Verlassen der Botschaft den Tod bedeutet hätte. Sie teilten mit, dass ich das klügste Verhalten gezeigt habe. Inwieweit das stimmt, können wir nicht wissen.
Es ist von Wert, das Verhalten des Botschafters Kostoulas in der Nairobi-Zeit zu verstehen. Ist er wohl benutzt worden? Oder ist er viel früher als Teil des Plan vorbereitet worden? Ich bin mir nicht sicher. Vor meiner Auslieferung kam er überhaupt nicht in das Haus, das sein eigener Wohnort war. Weil ich in gewisser Weise gewalttätig aus der Botschaft geholt werden sollte, hat er sich dem Höllenwärter von Nairobi gegenüber ziemlich hart verhalten. Es kann jedoch auch sein, dass dieses Verhalten gespielt war. Und dieses Mal sollte angeblich Pangalos die Genehmigung für meine Reise nach Holland erwirkt haben. Ich habe das nicht wirklich geglaubt, denn eine griechische Sondereinheit wartete im Hinterhalt, um mich mit Gewalt aus dem Haus zu holen, sollte ich nicht herauskommen. Auch die kenianische Polizei war darauf vorbereitet, dasselbe zu tun. Die Reise in die Republik Südafrika war ohnehin schon längst eine betrügerische Geschichte. Vorschläge wie Asyl bei der Kirche oder der UNO waren immer verdächtig. Ich beharrte darauf, [die Botschaft] nicht zu verlassen.“
Was Essa Moosa berichtete
Details zu dem von Öcalan erwähnten Plan, nach Südafrika weiterzureisen, sollten erst Jahre später bekannt werden. Essa Moosa, Rechtsanwalt von Nelson Mandela, erklärte 2016 in einem Interview in der Zeitung Özgür Gündem, dass die Entwicklungen in Nairobi in Südafrika beobachtet wurden: „Weil die PKK illegal war, musste Öcalan im Exil leben. Die Türkei übte Druck auf andere Länder aus, deshalb wollte kein Land Öcalan politisches Asyl gewähren. Er reiste von einem Land in das nächste und niemand nahm sein Asylgesuch an. Südafrika war dazu bereit, aber er musste einen Weg nach Südafrika finden. Wenn er von Kenia aus Südafrika hätte erreichen können, hätte die Geschichte anders ausgehen können.“
5. Februar: Das Flugzeug eines türkischen Geschäftsmanns
Der erste praktische Schritt des zusammen mit der CIA und dem Mossad erstellten Verschleppungsplans wurde am 5. Februar gesetzt. Für den Flug einer aus neun Personen bestehenden türkischen Gruppe wurde von dem Geschäftsmann Cavit Çağlar ein Privatflugzeug vom Typ Falcon 900B angefordert. Çağlar gehörte jahrelang zur Mannschaft von Demirel und Çiller. Das Flugzeug traf am 10. Februar in Uganda ein. Am Abend des 14. Februar wurde der Flug nach Nairobi befohlen. Die Flagge und die Hecknummer wurden ausgetauscht, das Flugzeug wurde mit der Fahne von Malaysia und einer gefälschten Nummer versehen.
In der Zeit, als das türkische Flugzeug in Afrika ankam, verstärkten die Griechen und Kenianer zunehmend den Druck auf Öcalan. Inzwischen waren der griechische Außenminister Pangalos und der kenianische Geheimdienstchef Noan Arap Ta persönlich mit im Spiel. Pangalos rief ständig die Botschaft an und gab den Befehl, Öcalan aus dem Bereich der „nationalen Symbole“ zu schaffen. Der erwartete Überfall auf die Botschaft fand am 15. Februar statt. Morgens kamen hochrangige Vertreter des kenianischen Außenministeriums und Geheimdienstes in die Botschaft. Botschafter Kostoulas sagte zu Öcalan: „Die Zeit, die wir Ihnen gewährt haben, ist heute abgelaufen. Sie müssen das Haus der Botschaft jetzt verlassen.“
Das Gesuch Öcalans auf einen weiteren Tag Aufenthalt wurde abgelehnt. Abends fuhren fünf Fahrzeuge mit kenianischen Polizisten vor dem Haus des griechischen Botschafters vor. Unter den Kenianern befand sich auch der Geheimdienstchef Noan Arap Ta. In diesen Minuten, die zu den kritischsten Momenten des kurdischen Befreiungskampfes zählten und später dazu führten, das der 15. Februar als „Roja reş“ (Schwarzer Tag) in der jüngeren Geschichte Kurdistans bezeichnet wurde, versuchte Öcalan weiter, einen Ausweg zu finden, und sagte zu den Kenianern: „Ohne eine Garantie der Regierung gehe ich nicht hinaus.“
„Das Flugzeug steht bereit, gehen Sie!“
Der kenianische Geheimdienstchef erhöhte den Druck auf Öcalan und drohte: „Das Flugzeug ist bereit, gehen Sie sofort. Es wird Nacht und ich kann nicht dafür garantieren, was nachts geschieht.“
Später sagte Botschafter Kostoulas in einem in Griechenland laufenden Ermittlungsverfahren zu diesen Momenten aus: „Ich wollte Öcalan mit meinem Dienstfahrzeug zum Flughafen bringen, aber das wurde nicht akzeptiert. Die Polizei sagte, dass sie Öcalan ein Auto schickt, es kam zu einer Auseinandersetzung. Die Kenianer gaben auch keine Informationen über den Flugzeugtyp. Ich ging zu Öcalan und berichtete ihm von der Lage. Er sagte: Wenn ich mich noch länger widersetze, wird es noch schlimmer. Fünf Autos kamen an die Tür. Öcalan wurde in einen Toyota Land Cruiser gesetzt. Der Konvoi fuhr los. Aber das Fahrzeug, in dem Öcalan saß, fuhr gesondert. Wir kamen am Flughafen an. Die Kenianer sagten, dass Öcalans Auto aus Sicherheitsgründen über einen anderen Ort gebracht wird. Wir begannen zu warten. Um 20.30 Uhr war Öcalan immer noch nicht da. Ich rief Athen an und mir wurde gesagt, dass ich zur Botschaft zurückkehren soll.“
Eigentlich hatte Öcalan die Botschaft mit der von Kalenderidis im Namen des griechischen Staates gegebenen Garantie verlassen. Zu seiner Verschleppung und der Auslieferung an den türkischen Geheimdienst sagte Öcalan: „Die mich mit einem Jeep gewaltsam entführt haben, waren Verantwortliche der Sicherheit und des Geheimdienstes von Kenia. Alle Männer im Fahrzeug waren Farbige, es waren vier Personen. Es war bemerkenswert, als wir am Flughafen ankamen, gab es überhaupt keinen Polizeiposten oder Kontrollpunkt. Wir gingen direkt in den Flughafen und ich wurde direkt zum Flugzeug gebracht. Das war ein weiterer Hinweis darauf, dass alles vorab geplant war. Die farbigen Männer fuhren das Auto bis zur Tür des auf dem Flughafen stehenden Flugzeugs. Alle um das Flugzeug herum waren bewaffnet. Ich stellte fest, dass diese zivil gekleideten Personen, einige davon mit schwarzen Sonnenbrillen, andere mit grünen Augen, blond, braunhaarig, kraftstrotzend und hochgewachsen, mit Automatikgewehren ausgerüstet waren. Es hätten auch Israelis sein können, aber sie sahen eher wie Amerikaner aus. Mit großer Wahrscheinlichkeit waren es Mitarbeiter des CIA und des Mossad. Bis zu dem Moment des Einstiegs in das Flugzeug waren keine Türken da. Die Türken waren im Flugzeug. Als ich das Flugzeug betrat, stürzte sich die türkische Sondereinheit ohne Worte auf mich und warf mich zu Boden. Sie nahmen mir alles ab, was ich bei mir hatte, wickelten mich überall mit Klebeband ein, klebten auch meine Augen mit demselben Band zu und ließen mich im Heck des Flugzeugs zurück. Mein Bewusstsein war fast ganz weg, ich konnte noch laufen, aber nicht mehr denken. Zwei Stunden später wachte ich auf.“
Kurdistan im Aufstand
Ein Anführer, der sich auf den Weg gemacht hatte, ein Volk zu befreien, wurde durch die Machenschaften globaler Mächte einem Staat ausgeliefert, den er jahrelang bekämpft hatte. Er wurde mit verbundenen Augen und gefesselten Händen und Füßen gefangen genommen. In der Nacht vom 15. auf den 16. Februar meldete MED TV, dass der Aufenthaltsort von Abdullah Öcalan seit Stunden unbekannt ist. In diesem Moment fuhr ein Feuer in die Herzen von Millionen Menschen. Die Kurden waren ohnehin seit Tagen auf den Plätzen unzähliger Hauptstädte auf der Welt und bereiteten sich auf den nächsten Tag und einen Serhildan (Volksaufstand) vor, der die Welt erschüttern sollte.
Anfang Februar fanden in Athen Massenproteste, Hungerstreiks und Selbstverbrennungen statt, um die Forderung nach Sicherheit für Öcalan und die Anerkennung seines Asylgesuchs durchzusetzen. Am Morgen des 16. Februar gab es in vielen Städten Aktionen des zivilen Ungehorsams vor griechischen Botschaften und Konsulaten, die teilweise gewalttätig ausfielen.
Unterdessen landete das Flugzeug mit Abdullah Öcalan nach einem sechseinhalbstündigen Flug um 3.30 Uhr in Istanbul. So endeten die 129 Tage, die nicht nur im Leben und in der Kampfgeschichte Öcalans, sondern auch in der Geschichte des kurdischen Volkes eine der wichtigsten Episoden darstellten. Öcalan wurde aus dem Flugzeug nach Imrali gebracht. Am 16. Februar trat der türkische Ministerpräsident Ecevit, der später erklären sollte, er habe selbst nicht verstanden, warum Öcalan an die Türkei ausgeliefert wurde, vor die Kameras und sagte: „Abdullah Öcalan ist in der Türkei.“ Diese Erklärung des türkischen Staates führte dazu, dass es vor allem in den Metropolen der Türkei und in allen vier Teilen Kurdistans, aber auch überall sonst auf der Welt, wo sich Kurden aufhielten, zum Aufstand kam. In der Geschichte Kurdistans stand ein neuer Serhildan bevor.
Das Massaker vom 17. Februar
Die Zeitung Özgür Politika erschien mit der Schlagzeile „Schluss mit Worten, Zeit der Aktion“ und in Hunderten Städten in Dutzenden Ländern auf der Welt waren Parolen für Abdullah Öcalan zu hören. Von Afghanistan bis zu den Kaukasus-Ländern, von Kanada bis nach Australien, von Europa bis in die Länder des Mittleren Ostens forderten Hunderttausende Menschen Rechenschaft von den am Komplott beteiligten Mächten. Wer bis zu jenem Tag noch nicht von den Kurden gehört hatte, erfuhr jetzt durch die Aktionen für Öcalan von der kurdischen Existenz und Geschichte.
Die Wut richtete sich nicht nur auf den türkischen Staat, sondern auch auf Griechenland, die USA, Russland, Kenia, Israel und weitere europäische Staaten. In diesen Tagen, die als „Serhildan vom 15. Februar“ in die kurdische Kampfgeschichte eingehen sollten, fand die einzige gegen Israel gerichtete Aktion in Berlin statt. Die Aktion des zivilen Ungehorsams einer Gruppe Kurdinnen und Kurden am israelischen Konsulat endete blutig. Eine Kurdin und drei Kurden wurden durch Schüsse israelischer Kräfte getötet. Sema Alp, Mustafa Kurt und Ahmet Acar starben noch am Tatort, Sinan Karakuş zehn Tage später im Krankenhaus. 18 weitere Personen wurden verletzt.
Das Feuer des Serhildan erfasste ganz Kurdistan von Efrîn nach Mahabad, von Amed nach Hewlêr, von Qamişlo nach Serhat. Es war eine der kritischsten Phasen der kurdischen Geschichte.
Einer derjenigen, die das kurdische Volk zum Aufstand aufrief, war der kurdische Dichter Şêrko Bêkes aus Silêmanî. In den finsteren Tagen nach dem 15. Februar trug er auf MED TV die Zeilen vor: „Hier ist Silêmanî, diese Stadt ist seit Tagen von großer Trauer erfasst. Vor den Augen der Welt haben sie Öcalan genommen, aber die kurdische Seele können sie nicht zur Kapitulation zwingen. Wie kann Amed von Silêmanî getrennt werden, wie kann Newroz ohne Feuer sein? Wie kann der Wan-See ausgetrocknet werden? Hier ist Silêmanî und alle Herzen dieser Stadt zittern wie Äpfel an einem Baum und trauern über die Einsamkeit eines Volkes. Diese Trauer ist eine nationale Trauer. Ich habe den Traum eines Schmetterlings geträumt. Ich weine nicht, mein Auge ist auf Amed gerichtet.“
Nächster Teil: Rojhilat bricht das Schweigen