Per Gladio-Flug nach Kenia

Im zehnten Teil der Serie zur Geschichte des kurdischen Befreiungskampfes geht es um die Odysee Abdullah Öcalans zur Jahreswende 1998/1999 und das mysteriöse Flugzeug, das ihn nach Nairobi brachte.

Für die Türkei begann das Jahr 1999 ohne Regierung. In diesen Tagen, die aufgrund der Anwesenheit des kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan in Italien von dem angespannten Verhältnis zwischen Ankara und Rom geprägt waren, zog die CHP ihre Unterstützung für die aus den drei Parteien ANAP, DSP und DTP bestehende Regierungskoalition zurück und die Regierung unter Ministerpräsident Mesut Yilmaz verlor am 25. November 1998 ein Vertrauensvotum im Parlament.

Daraufhin erteilte der damalige Präsident Süleyman Demirel unerwartet dem DSP-Vorsitzenden Bülent Ecevit den Auftrag der Regierungsbildung. Die DSP war die viertstärkste Partei in der türkischen Nationalversammlung. Da Ecevit bis Ende des Jahres keine Regierung aufstellen konnte, gab er den Auftrag zurück. In der ersten Woche des neuen Jahres wurde ihm der Auftrag erneut übertragen und Ecevit stellte mit Unterstützung von ANAP und DYP eine Minderheitsregierung zusammen, die am 11. Januar 1999 von Demirel bestätigt wurde. Am 17. Januar wurde der neuen Regierung mit überwältigender Mehrheit im Parlament das Vertrauen ausgesprochen. Nach 45 Tagen der Suche nach einer Regierung war ein weiteres Mal Bülent Ecevit in die Pflicht gerufen worden, ein Politiker, der seit den siebziger Jahren in den kritischsten Momenten der Republik auf die Bühne getreten und als „Kader des Staates“ bekannt war. Die auf Vorschlag militärischer und ziviler Strukturen innerhalb des Staates gebildete 56. Regierung blieb bis zu den Wahlen am 18. April 1999 im Amt. In Erinnerung bleibt sie weniger als Minderheitsregierung, sondern vielmehr als wichtigste Architektin des in der Person Öcalans gegen das kurdische Volk gerichteten Komplotts.

Ausreise aus Rom und ein unterzeichnetes Dokument

Zur Zeit des Antritts der Ecevit-Regierung in der Türkei zog sich die Schlinge um die italienische Regierung unter Ministerpräsident Massimo D'Alema immer enger zusammen. Die Anwesenheit Abdullah Öcalans war für Rom, eine der ältesten Hauptstädte der Welt, eine zu schwere Last. Um D'Alema nicht länger zu belasten, beschloss Öcalan, Italien zu verlassen. Das teilte er den italienischen Verantwortlichen am 15. Januar mit. Als ob die italienische Regierung das weitere Geschehen ahnen würde, wollte sie den PKK-Vorsitzenden eine Erklärung unterschreiben lassen, dass er Italien auf eigenen Wunsch verlässt.

Zu dieser kritischen Zeit erklärte Öcalan später: „Während meiner 66 Tage in Italien wurde ich psychisch stark unter Druck gesetzt. Es fand eine sehr intensive Kontrolle durch gut ausgebildete Polizeigruppen statt. Mir wurde nicht einmal zugestanden, den Raum zu verlassen. Die Polizei kam bis in mein Schlafzimmer. Wenn ich darauf beharren sollte, weiter zu bleiben, müsste ich wegen der Entführungsgefahr in eine sehr strikte Überwachung einwilligen, wurde mir gesagt. Letztendlich trat Ahmet Yaman auf den Plan und ich musste mit einem vom italienischen Ministerpräsidentenamt gestellten Flugzeug erneut nach Russland ausreisen.

D'Alema stellte bei meiner Ausreise aus Italien beharrlich die Bedingung, dass ich ein unterzeichnetes Papier hinterlasse, aus dem hervorging, dass ich das Land auf eigenen Wunsch verlassen habe. Das tat er, weil ihm bewusst war, dass meine Ausreise andernfalls ungesetzlich gewesen wäre. Ich erinnere mich daran, dass ich erleichtert geseufzt habe, als ich mit D'Alemas Sonderflugzeug das NATO-Terrain verließ. Es bedeutete jedoch, vom Regen in die Traufe zu kommen.“

Der Milliardenkredit des IWF

Dass Italien grünes Licht für die Ausreise gab und die Primakow-Regierung ein zweites Mal die Einreise nach Russland zuließ, war das Ergebnis von fast einmonatigen schmutzigen Verhandlungen hinter verschlossenen Türen. Die italienische Zeitung Il Giorniale schrieb in ihrer Ausgabe vom 2. Dezember 1998, dass Außenminister Lamberto Dini Russland als Bonus für die Rücknahme von Öcalan einen Kredit in Höhe von acht Milliarden Dollar als ersten Teil der vom Internationalen Währungsfonds (IWF) blockierten Zahlung für das Jahr 1998 vorgeschlagen hat.

Russland war in jenen Jahren von einer schweren Wirtschaftskrise geplagt und nahm den „unmoralischen Vorschlag“ aus Rom an. Daraufhin sollte der zwischen Dini und seinem russischen Amtskollegen Iwanow ausgehandelte Plan zur Vertreibung Öcalans aus Europa umgesetzt werden. Falls es Russland gelingen sollte, Öcalan in die Ukraine, nach Georgien, Kasachstan oder Tadschikistan zu schicken, sollte ein Milliardenkredit des IWF erfolgen. Dieser Plan wurde damals von Moskau dementiert. Die russischen Medien räumten dem Thema großen Raum ein und schrieben: „Moskau will Öcalan nie wieder in Russland sehen.“

Der D'Alema hinterlassene Brief

Die Entwicklungen in den ersten Wochen des Jahres 1999 zeigten, dass sich die Regierungen in Rom und Moskau bei ihren Verhandlungen geeinigt hatten. Bevor Öcalan Italien am 16. Januar verließ, bedankte er sich in einem Brief bei D'Alema für die über zwei Monate gewährte Gastfreundschaft in Italien. Er brachte sein Bedauern über den dadurch entstandenen Druck auf den Ministerpräsidenten zum Ausdruck und erklärte, er sei überzeugt davon, dass diese ungerechtfertigten Schwierigkeiten in der Zukunft durch das Glück über den humanitären und hohen politischen Wert wettgemacht würden. Er verlasse Italien aus freiem Willen und bewahre weiterhin die Hoffnung auf eine Rückkehr nach Europa für die anvisierte Konferenz für eine Lösung der kurdischen Frage. „Ich glaube daran, dass wir der Schlüssel zum Frieden im Mittleren Osten sind und die Führungsposition Italiens mit seiner Politik zur kurdischen Frage als konsequenten und praktischen Wert der EU einen wichtigen Beitrag darstellt. Ich bin immer dazu bereit, meinen Anteil für eine Zusammenarbeit zu erfüllen. Auch bin ich fest davon überzeugt, dass Sie wissen, welch schwierige Zeit wir durchmachen, und dass Sie uns Ihren Beitrag nicht versagen“, so der Brief von Öcalan an D'Alema.

Erklärung aus dem Weißen Haus

Eine erneute Erklärung aus dem Weißen Haus am Tag der Abreise Öcalans aus Rom belegt ein weiteres Mal, dass die US-Regierung die Hauptrolle bei dem Komplott spielte. In dem vom nationalen Sicherheitsberater Sandy Berger am 16. Januar abgegebenen Statement hieß es: „Abdullah Öcalan muss vor Gericht gestellt und zur Rechenschaft gezogen werden. Wir haben die Auslieferung Öcalans an die Türkei im Rahmen des internationalen Rechts und der Gesetzeslage der involvierten Länder gefordert.“ In Italien sei das jedoch nicht geschehen.

Öcalan in Nairobi © Serxwebûn/ANF

Chronologie der nächsten 17 Tage

17. Januar 1999: Als Öcalan in Moskau ankommt, wird ihm von russischen Sicherheitsverantwortlichen gesagt, dass die Regierung seinen Aufenthalt nicht duldet und er Russland innerhalb von drei Tagen verlassen muss. Der Zielort werde von ihnen festgelegt.

18. Januar 1999: Der russische Botschafter in Ankara verspricht der türkischen Regierung, dass Öcalan nach seiner Festsetzung umgehend abgeschoben wird. Am selben Tag erklärte Ecevit gegenüber den Medien: „Es sieht so aus, dass die russischen Behörden Öcalans Reise genehmigt haben. Es wird vermutet, dass die Reise auf dem Zweck eines Transits basiert.“

19. Januar 1999: US-Außenministerin Madeleine Albright kündigt einen Besuch am 26. Januar in Moskau an, um Öcalans Ausreise aus Russland durchzusetzen.

20. Januar 1999: Öcalan wird aus aus seiner Unterkunft in Moskau geholt und in ein Transportflugzeug gezwungen, das ihn an einen Ort außerhalb Russland bringt. Später sollte sich herausstellen, dass es sich um Tadschikistan handelte.

21. Januar 1999: Ministerpräsident Ecevit trifft den türkischen Geheimdienstchef Şengal Atasagun und Staatspräsident Demirel und erklärt: „Wir sind uns sicher, dass Russland den Aufenthaltsort Öcalans feststellen und ihn ergreifen wird.“

22. Januar 1999: Der russische Außenminister Igor Iwanow gibt offiziell bekannt, dass Öcalan sich nicht in Russland aufhält.

26. Januar 1999: US-Außenministerin Albright trifft in Moskau mit Ministerpräsident Primakow zusammen. Hauptthema des Gesprächs ist Abdullah Öcalan.

28. Januar 1999: Sobald Albright Moskau verlassen hat, wird Öcalan nach einwöchiger Isolation in Tadschikistan von den Russen zurück nach Moskau gebracht.

29. Januar 1999: Öcalan besteigt eine über die Vermittlung des pensionierten griechischen Admirals Naksakis nach Russland geschickte Sondermaschine und reist zum zweiten Mal nach Griechenland, wo er vierzig Kilometer entfernt von Athen im Dorf Nea Makri untergebracht wird.

30. Januar 1999: Naksakis spricht mit Außenminister Teodoros Pangalos über den weiteren Aufenthalt Öcalans in Griechenland. Pangalos lässt ausrichten, dass er persönlich mit Öcalan sprechen will. Als Öcalan in Begleitung von Naksakis zum vereinbarten Treffpunkt kommt, wird er anstelle von Pangalos von den Geheimdienstmitarbeitern Stavrakakis und Kalenteridis empfangen.

31. Januar 1998: Öcalan bricht mit einem Regierungsflugzeug nach Minsk auf, die Hauptstadt von Belarus. Angeblich soll ihn ein zweites Flugzeug von Minsk nach Den Haag bringen.

1. Februar 1999: Das niederländische Radio meldet, dass Öcalan nach Holland kommen wollte, das jedoch abgelehnt worden ist. In jener Nacht wird für Öcalan der gesamte Luftraum Europas geschlossen. In Minsk weigert sich Öcalan, das Flugzeug zu verlassen und wird gegen vier Uhr morgens zurück nach Athen gebracht.

Bei der Ankunft in Athen wird Öcalan erneut von Stavrakakis empfangen. In derselben Nacht wird er nach Korfu ausgeflogen. Auf der Insel befinden sich britische und US-amerikanische Militärstützpunkte. Pangalos teilt am Morgen des 1. Februar dem US-Botschafter in Athen, Nicholas Burns, telefonisch mit, dass Öcalan in Griechenland ist. Burns gibt Pangalos die Anweisung, Öcalan aus Griechenland zu schaffen und sich nicht weiter einzumischen.

2. Februar 1999: Öcalan verlässt seine Unterkunft auf Korfu, um ein Flugzeug nach Afrika zu besteigen. Um 5.30 Uhr landet ein Flugzeug auf einem Militärflughafen, um Öcalan abzuholen. Es hat keine Erkennungsmerkmale, die auf das Herkunftsland hinweisen. Dieses vom Gladio (Abteilung für verdeckte Operationen der NATO) oder der CIA bereitgestellte mysteriöse Flugzeug fliegt in die kenianische Hauptstadt Nairobi.

Öcalan bezeichnete diese Phase später als „Vorbereitung auf eine Kreuzigung“.

Nächster Teil: Die Hölle von Nairobi und Massenproteste