In der Zeit, in der sich Abdullah Öcalan in Italien aufhielt, richteten sich die Blicke von Kurd*innen auf der ganzen Welt auf den Mittelmeerstaat. Aus ganz Europa strömten sie zusammen mit ihren Freund*innen nach Rom und belagerten den Platz am Kolosseum, wo sich das Militärkrankenhaus Caelius (Celio) befindet, der erste lange Aufenthaltsort Öcalans. Später sollte der Platz in „Piazza Kurdistan“ umbenannt werden. Schon bald war der Platz gefüllt mit Zelten, Autos und sogar Lieferwagen, in denen Kurd*innen und ihre Unterstützer*innen bei Wind und Wetter ausharrten. Von dort aus wurde Öcalan jeden Morgen kollektiv begrüßt. Mit Parolen, versteht sich.
Das am 9. Oktober 1998 begonnene Komplott hatte bereits zu großer Wut in revolutionären und patriotischen Kreisen geführt. Insbesondere in den Gefängnissen Nordkurdistans und der Türkei, aber auch an vielen anderen Orten der Welt, setzten Menschen unter der Parole „Ihr werdet unsere Sonne nicht verdunkeln können“ ihre Körper als Mittel des Protests ein. Bis zum 19. November 1998 hatten sich 40 Gefangene selbst in Brand gesetzt. In Moskau starben zwei Anhänger der PKK an den Folgen einer Selbstverbrennung. Auch in der Bundesrepublik kam es zu Verbrennungen aus Solidarität mit dem Vorsitzenden der PKK.
Die erste Selbstverbrennung führte der politische Gefangene Mehmet Halit Oral bereits am 9. Oktober im Gefängnis von Gurgum (türk. Maraş) durch. Oral wurde 1971 im Dorf Mehsertê in Omerya bei Mêrdîn (Mardin) geboren und verbrachte seine Kindheit in der Çukurova-Ebene. Er wollte sich der Guerilla anschließen, geriet dabei jedoch in Gefangenschaft. Vor seiner Selbstverbrennung verfasste Oral einen Abschiedsbrief an Öcalan. Darin stand: „Ohne Zweifel wird die Türkei aufgrund meiner Aktion keinen Schritt zurück machen, aber damit kann ihr eines klar gemacht werden: Auch beim kleinsten Schaden, der Ihnen [Öcalan] zustößt, wird sich unser ganzes Volk erheben. Denn wenn die Welt heute von uns spricht, dann haben wir das vollkommen Ihrer großen Mühe und Ihren Anstrengungen zu verdanken.“
© Filippo Thiery (Rom, 18.-20. November 1998)
Am 18. Oktober 1998 folgte die Selbstverbrennung von Murat Kaya in einem Gefängnis in der Schwarzmeerprovinz Bartın. Nur einen Tag später setzte sich der Gefangene Mehmet Gül in Amasya in Brand. Die Selbstverbrennungen weiteten sich während der Tage Öcalans in Rom auch auf Syrien und Iran aus und wurden nicht nur von PKK-Kadern, sondern auch von jungen wie alten kurdischen Patriot*innen verübt.
Öcalan spricht sich für Ende von Selbstverbrennungen aus
Die beiden PKK-Revolutionäre Remzi Akkuş (Jêhat) und Ahmed Yıldırım (Tayhan) setzten sich am 17. November 1998 unter der Parole „Bijî Serok Apo“ vor der russischen Duma in Moskau selbst in Brand. Öcalan stellte sich deutlich gegen diese Aktionsform und erklärte zwei Tage später: „Das große Engagement, das mir entgegengebracht wird, und die Unterstützung werden zweifellos so lange andauern, bis sich die gegenwärtige Situation geklärt hat. Denn es geht nicht um meine Person, sondern um unsere Zukunft in Freiheit, um das Schicksal von uns als Nation. Während wir unseren Kampf ununterbrochen fortsetzen, werden wir uns als ein Volk, das unter dem Terror leidet, diesem entgegenstellen. Wir werden jedoch keine Aktionen durchführen, die unseren Widerstand in ernsthafter Weise belasten. In den letzten Tagen gehen die Selbstverbrennungen weiter. Zuletzt verbrannten sich in den Gefängnissen acht, in Russland zwei und in Deutschland und in Rom sehr wertvolle Freund*innen. In Bezug auf diese Aktion, insbesondere in Rom, wo unserem Volk alle mögliche Wärme entgegengebracht wird, möchte ich meinen Aufruf wiederholen: Ich will, dass die Selbstverbrennungsaktionen auf jeden Fall und sofort aufhören.
Ich begrüße diese selbstlose Verbundenheit mit ganzem Herzen, aber diejenigen, die wirklich mit uns verbunden sind, sollten Selbstverbrennungen unterlassen. Es ist ein Befehl, mit solchen Aktionen sofort aufzuhören. Mir geht es in jeder Hinsicht gut, eure Entschlossenheit weckt unsere Leidenschaft und kündigt die Nähe der Freiheit an. Ich grüße euch und schicke euch meine Liebe von ganzem Herzen und in der Überzeugung, dass diese Selbsttötungen aufhören.“
Erwartung einer Internationalen Konferenz oder eines Gerichtsverfahrens
Trotz dieses Appells und Befehls weiteten sich die Selbstverbrennungsaktionen noch eine lange Zeit aus. Die Kurd*innen gingen in Italien auf die Straße, um die Sicherheit Öcalans zu garantieren. Von Rom bis London, von Amsterdam bis Athen, von Berlin bis Stockholm, von Silêmanî bis Teheran erreichten die Proteste alle Groß- und Hauptstädte und viele weitere Orte. Vielerorts fanden Hungerstreiks und Demonstrationen statt.
Die Erklärungen von Rom
Gleich nach seiner Ankunft in Italien hatte Öcalan erklärt: „Wir wollen einen Friedensprozess starten, die politische Lösung des Problems ist äußerst dringlich.“ Weitere wichtige Statements sollten in den Tagen danach folgen. Diese „Römischen Gespräche“, wie sie von der kurdischen Gesellschaft genannt wurden, sind später in Form eines Buches veröffentlicht worden. Zudem wurden sie von Medieneinrichtungen wie MED-TV oder Özgür Politika rezipiert. Gleichzeitig gab Öcalan vielen internationalen Zeitungen und Fernsehsendern lange Interviews. Jedes dieser Interviews wurde zu einem Faktor auf der europäischen Tagesordnung.
© Filippo Thiery (Rom, 18.-20. November 1998)
In den letzten Tagen des Jahres 1998 sprach Öcalan mit der Nachrichtenagentur Reuters. Er äußerte: „Ich bin bereit in einem gerechten, unparteiischen Land vor Gericht zu stehen. Es kann Österreich oder irgendein anderes europäisches Land sein. Manche sagen Holland, andere Spanien. Für mich ist das zweitrangig.“ In diesen Tagen versuchten kurdische Organisationen, die Chance zu einer politischen Lösung zu nutzen. Unterstützende des kurdischen Befreiungskampfes in den Reihen der deutschen Parteien sahen die Zeit für eine Aufhebung des PKK-Verbotes gekommen. Abgeordnete der Grünen, der PDS, aber auch der SPD, forderten eine internationale EU-Konferenz. In einem Brief deutscher Politiker*innen und Kunstschaffender wurde UNO-Generalsekretär Kofi Annan zum diplomatischen Einschreiten aufgefordert. Da auf der Konferenz sowohl die Kriegsverbrechen der Türkei in Kurdistan und die Lösung der kurdischen Frage behandelt sowie die Lage Öcalans geklärt werden sollte, intervenierten die USA erneut, um die Entwicklung des Komplotts der Situation anzupassen.
US-Präsident greift ein
Am 21. November 1998 erklärte US-Außenministerin Madeleine Albright, kein Land dürfe Öcalan aufnehmen, und entsandte den US-Diplomaten Strobe Talbott nach Rom. Auf Druck Washingtons schlug Rom vor, Öcalan in die ehemalige italienische Kolonie Libyen zu schicken. Die USA bezeichneten das Libyen unter der Herrschaft Muammar al-Gaddafis als Land „außer Kontrolle“ und verwiesen auf Deutschland oder die Türkei. Als Bundeskanzler Gerhard Schröder erklärte, „Wir wollen Öcalan nicht“, schrumpften die Optionen Italiens auf ein Minimum.
Italiens Ministerpräsident Massimo D’Alema sollte in einem Interview 2003 selbst zugeben, dass er unter massiven Druck des Weißen Hauses agierte. „Die Türkei schrieb uns eine Note nach der anderen. Wir suchten nach Lösungsmöglichkeiten. In dieser Zeit intervenierte US-Präsident Bill Clinton. Er rief mich an und forderte Öcalan, den ‚Terroristen‘, an die Türkei auszuliefern. Ich machte ihm unmissverständlich klar, dass mir das nicht möglich sei, weil es in der Türkei immer noch die Todesstrafe gebe. Ich glaube, das hat ihm nicht gefallen.“
„Wenn ich verliere, dann habt auch ihr verloren“
Abdullah Öcalan kommentierte am 25. Dezember 1998 den wachsenden Druck auf D’Alema und die Entwicklungen des Komplotts. Er sagte: „Das Komplott wurde beschlossen, als ich noch in der Luft war. Das zeigt, wie geplant diese Angelegenheit ist. Der weltweite Interpol-Haftbefehl gegen mich ist auf den 9. Oktober datiert. Wie dieser Haftbefehl innerhalb eines Tages an die ganze Welt geschickt wurde, zeigt die globale Zusammenarbeit der Reaktionäre. Um die aktuelle Situation zu begreifen, sind diese Dokumente meiner Meinung nach ausreichend. Die Haltung von Jewgeni Maximowitsch Primakow (russischer Außenminister) und diejenige von Konstantinos Simitis (griechischer Premierminister) zeigt, wie zentral gesteuert vorgegangen wurde. Herr D’Alema wollte vielleicht ein oder zwei Schritte im Sinne der Demokratie gehen, aber nach kurzer Zeit wurde klar, dass man ihn mit Druck zum Schweigen bringen wollte. Diese Phase des Terrors, die bis zu einem Weltkrieg hin führen konnte, zu stoppen, hing von meiner Haltung ab. Etliche Zeitungen wiesen ebenfalls darauf hin. Warum hat es ein solches Echo gegeben? Sie sagten ‚Du schlägst ein wie eine Friedensbombe‘. Die folgenden Ereignisse hingen mit dem Terror zusammen.
© Filippo Thiery (Rom, 18.-20. November 1998)
Jetzt kämpfen sie im Dunkeln, ihre Pläne sind geheim und sie wollen sie um jeden Preis durchsetzen. Ich werde ebenfalls weiter für den Frieden eintreten. Das wäre eigentlich auch passend für Europa. Ich habe gesagt, der Vorteil Europas ist der Frieden, aber sie versuchen das Problem in die falsche Richtung zu kanalisieren. Nach Neujahr werden sie etwas tun, aber vor Neujahr gehen manche Dinge nicht. Danielle Mitterrand ist rasend vor Wut. Sie sagt, ihr Mann würde sich wegen der Politik Europas im Grabe herumdrehen. Niemand wird auf sie hören.
Andererseits lassen sie Raketen und Bomben regnen und das wird noch zunehmen. Unser Schritt zum Frieden war angemessen. Er war meiner Meinung nach zumindest notwendig, dass wir unser Bestehen auf den Frieden Europa zeigen. Deutschland sagt, im neuen Jahr werde es die Situation klären. Die Raketen töten Menschen, was hat das mit Neujahr zu tun. Es ist notwendig, hier eine würdige Entscheidung zu treffen. Die Sache darf nicht völlig aus den Fugen geraten. Wenn ich bleibe, dann ist das vielleicht ein Beitrag zum Frieden. Deshalb möchte ich in Europa bleiben und das wollen auch manche Freund*innen.
Ich werde auf Frieden bestehen. Der Frieden ist sinnvoll. Eigentlich kennen alle die konkrete Bedeutung davon und engagieren sich dementsprechend. In der Türkei erreicht der Chauvinismus neue Höhenflüge. Es wurde eine regelrechte kannibalistische Philosophie ins Leben gerufen. Der Grund dafür ist die Angst derjenigen, die sich für den Krieg entschieden haben. Manche lieben es, im Hintergrund zu arbeiten. In der Türkei gibt es diese Kriegsclique, die davon profitiert und im Frieden ihre Macht verlieren würde. Die Völker in der Türkei sollten das genau wissen. An das kurdische Volk möchte ich auf diesem Weg folgendes sagen: Auch wenn ich verliere, habt ihr gewonnen. Aber damit ihr diesen Sieg umsetzen könnt, müsst ihr intelligent handeln und in der Lage sein, auf die richtige Weise zu arbeiten.“
Zum neuen Aufbruch gezwungen
Trotz dieses historischen Aufbruchs von Seiten Öcalans wollten die Kräfte hinter dem Komplott nicht von ihrem Ziel abweichen. In diesen Tagen befand sich Öcalan unter schwerer Bewachung in einer Villa an der Via Male in der Ortschaft Infernetto – auf deutsch: die kleine Hölle. Die ruhige Siedlung liegt etwa eine halbe Autostunde von Rom entfernt. Alle Personen, die das Haus betraten oder verließen, wurden genauestens kontrolliert, schwerbewaffnete uniformierte Beamte sowie eine Sondereinheit der Antiterrorbrigade schirmten das Haus ab. Auf dem Dach schlichen Scharfschützen in schwarzen Kampfanzügen hin und her. Obwohl Öcalan meist im Haus war, musste er fast die ganze Zeit eine schusssichere Weste tragen. Italien war eine Zeitlang das Zentrum des Gladio.
Der Druck auf den von den europäischen Staaten alleine gelassenen italienischen Präsidenten D’Alema sowie der psychische Druck brachten Öcalan dazu, in den ersten Tagen des neuen Jahres erneut aufzubrechen. Später sollte Öcalan die Haltung der italienischen Regierung wie folgt beschreiben: „Die Haltung des damaligen Ministerpräsidenten Massimo D’Alema war aufrecht, aber nicht ausreichend. Er konnte keine politische Garantie geben. Er überließ unsere Situation der Justiz. Deswegen war ich wütend. Ich war entschlossen, Italien bei der ersten Gelegenheit zu verlassen. D’Alema hatte in seinem letzten Interview erklärt, ich könne so lange in Italien bleiben, wie ich wollte, aber mir kam dies wie eine gezwungene Haltung vor.“
© Filippo Thiery (Rom, 18.-20. November 1998)
Sowohl Italien als auch die kurdischen diplomatischen Einrichtungen suchten vergeblich nach einem anderen Land. Frankreich, Finnland, Österreich, Griechenland, Tschechien, Südafrika und Norwegen erklärten nacheinander, dass sie Öcalan nicht haben wollten. Finnland wollte Öcalan nur unter der Bedingung aufnehmen, dass Deutschland und Frankreich zustimmten. Nach Briefen an Nelson Mandela und Desmond Tutu öffnete Südafrika seine Tür, zog sich dann aber im letzten Moment doch wieder von dem Angebot zurück, um den damaligen britischen Premier Tony Blair kurz vor seinem Besuch nicht zu verärgern.
Öcalan sah, dass Grenzen und Lufträume für ihn geschlossen wurden und seine Asylanträge nicht beantwortet wurden. Am 7. Dezember 1998 sagte er in einem Interview mit der Zeitung Özgür Politika: „Mein Kampf um national-demokratische Menschenrechte ist bekannt. Den Kurden, die nach Europa kommen, wird Asyl gewährt. Wenn es aber um meine Person geht, dann stehen politische Bedenken im Vordergrund. Ich bin der Grund für diese Entwicklungen, also dass die Kurden einen politischen Status erhalten. Ich möchte hier auf ein interessantes Paradox hinweisen. Alle anderen kurdischen Führer haben Pässe, aber ich habe keinen. Das liegt daran, dass ich nicht besiegt worden bin und das wird mir als Schuld ausgelegt. Ich hoffe, die Justiz sieht dies und trifft bald eine Entscheidung in Anbetracht dieser Situation.“
Am 16. Januar 1999 trat Abdullah Öcalan seine Ausreise aus Italien an, ohne einen politischen Status. Das Ziel war erneut Russland. Erst nach seiner Verschleppung in die Türkei sollte ein italienisches Gericht ihm politisches Asyl gewähren. Die italienische Regierung musste die Kosten des Verfahrens übernehmen.
Nächster Teil: Das Gladio-Flugzeug