66 Tage in Rom: Die Flucht Deutschlands vor der Verantwortung

Mit der Festnahme Abdullah Öcalans im Herbst 1998 in Italien hatte die Chance bestanden, die kurdische Frage international zu lösen. Diese Chance hat Europa vertan. Der Einfluss der Bundesregierung spielte eine gewichtige Rolle.

Abdullah Öcalans 33-tägiger Aufenthalt in Russland endete am 12. November 1998. Die Maschine der staatlichen Fluggesellschaft Aeroflot, die ihn in Begleitung des Abgeordneten Ramon Mantovani von der kommunistischen Wiederaufbaupartei Italiens aus Moskau nach Rom bringen sollte, landete gegen 22 Uhr auf dem Flughafen „Leonardo da Vinci”. Italien war nach Griechenland das zweite Land, das sowohl Mitglied der NATO als auch der EU war. Diese Situation bot die Gelegenheit, die kurdische Frage international zu lösen. Doch diese Chance haben die europäischen Staaten vertan. Schon im Kalten Krieg und noch mehr als ein Jahrzehnt danach herrschte im Westen die traditionelle Vorstellung von der Türkei als Außenposten der NATO.

Dem Mitarbeiter am Flughafenschalter reichte Öcalan seinen gefälschten Reisepass mit den Worten: „Mein Name ist Abdullah Öcalan. Mit der Absicht politisches Asyl zu beantragen, bin ich in Ihr Land gekommen.“ Er wurde festgenommen und nach einem kurzen überwachten Aufenthalt auf dem Flughafen zunächst in das staatliche Krankenhaus im Vorort Palestrina gebracht. Öcalan hatte angegeben, an Herzproblemen zu leiden. Aus Sicherheitsgründen wurde er von dort aus in das Militärkrankenhaus Caelius (Celio) am Kolosseum in Rom verlegt.

Hektische Aktivitäten von Diplomatie

Es sollte nicht mehr lange dauern, bis ein diplomatisches Tauziehen zwischen den Regierungen Italiens, Deutschlands und der Türkei um die Auslieferung Öcalans begann. Nach Spekulationen, wo sich der aus Syrien vertriebene PKK-Vorsitzende aufhalten könnte, überschlugen sich nach seiner Ankunft in Rom die Meldungen über hektische Aktivitäten von Polizei, Justiz und Diplomatie vieler Länder. Der türkische Polizeichef Necati Bilican erhielt die Nachricht über Öcalans Aufenthalt in Italien bereits am nächsten Morgen in Wiesbaden. Dort nahm er auf Einladung der deutschen Sicherheitsbehörden an einer Veranstaltung zum Thema Fahndung/Rechtshilfe im Bereich der internationalen polizeilichen Zusammenarbeit teil.

Öcalan mahnt bei MED-TV zu Geduld

Am 13. November erklärte Bilican gegenüber der Presse: „Wir sahen uns eine Übung an. Ein deutscher Verbindungsbeamter stürmte herein und sagte, dass Öcalan in Rom festgenommen wurde und sich in einem Krankenhaus aufhält. Ich fragte ihn, ob er verletzt oder krank sei. Der Beamte vermutete eine Vorsichtsmaßnahme und signalisierte, dass die Sache weiterverfolgt wird.“ Wenige Stunden später sagte Öcalan in einer Live-Schaltung bei MED TV, nun würden „die notwendigen Schritte unternommen, um mir in diesem Land einen Aufenthalt als politische Persönlichkeit zu ermöglichen“. An die kurdische Öffentlichkeit gerichtet mahnte er zu Geduld. Derweil forderte die Türkei, die bereits 1982 Haftbefehl gegen ihn erlassen hatte – zwei Jahre bevor die PKK den bewaffneten Kampf aufnahm – die Auslieferung Öcalans.

Italienischer Richter stellt Öcalan unter Aufsicht

Am 14. November titelte die internationale Presse voreilig, Ankaras „Staatsfeind Nummer eins“ und seine PKK seien erledigt. Am selben Tag wurde Öcalan im Krankenhaus von einem Richter besucht, der ihn unter polizeiliche Aufsicht stellte. Der verhängte Hausarrest beruhte auf einem Haftbefehl der Bundesstaatsanwaltschaft in Karlsruhe vom 12. Januar 1990 wegen des Verdachts der Beteiligung an einem Tötungsdelikt an einem Kurden in Deutschland und der „Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung innerhalb der PKK“. Deutschland hatte den Haftbefehl noch im selben Jahr an Interpol und an alle Länder weitergeleitet. Mit der Festnahme Öcalans tat der italienische Staat lediglich das, was das internationale Recht von ihm verlangte. Und solange der Haftbefehl aufrechterhalten wurde, durfte Öcalan Italien auch nicht verlassen. Die italienische Regierung wurde damals von dem linken Premierminister Massimo D’Alema geführt.

Erste Gruppen von Exilkurden treffen in Rom ein

Noch am selben Tag trafen in Rom bereits die ersten Gruppen von Exilkurd*innen ein, die monatelang mit der Forderung nach Freiheit und einem politischen Status für Öcalan auf dem Platz vor dem Militärkrankenhaus eine Mahnwache halten sollten. Im Verlauf der Aktion wurde der Platz von den italienischen Unterstützer*innen in „Piazza Kurdistan“ umbenannt. D’Alema gab am 16. November eine Erklärung ab, in der es hieß, Öcalan werde nicht an die Türkei ausgeliefert. Die italienischen Gesetze verbieten die Auslieferung eines Verdächtigen an einen Staat, in dem ihm die Todesstrafe droht. Dem italienischen Staat blieben somit drei Optionen: Öcalan an Deutschland auszuliefern, Öcalan vor ein internationales Gericht zu stellen oder ihm selbst in Italien den Prozess machen. Aus Karlsruhe hieß es, Generalbundesanwalt Kay Nehm prüfe die für einen Auslieferungsantrag notwendigen Unterlagen.

Fischer: Festnahme eröffnet Chance für eine politische Lösung

Nach dieser Entwicklung reiste Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) nach Rom, um am 17. November mit seiner Amtskollegin Rosa Russo Jervolino über den prominenten Asylbewerber zu verhandeln. Schily, der sich im Verlauf seiner politischen Karriere vom Grünen zum Sozialdemokraten, vom RAF-Anwalt zum Innenminister, vom liberalen Kommunisten zum Liberal-Konservativen gewandelt hatte, galt schon länger als Hardliner im Umgang mit den Kurden, wollte eine Auslieferung Öcalans an Deutschland aber „aus Sicherheitsgründen“ unbedingt vermeiden, schrieb damals auch die römische Zeitung Repubblica nach der Zusammenkunft. Einzelheiten wurden jedoch nicht genannt. „Nur eines ist sicher. Deutschland will Öcalan nicht“, hieß es. Außenminister Joschka Fischer (Grüne) hielt sich an diesem Tag ebenfalls in Rom auf und sagte bei der Ratssitzung der Westeuropäischen Union (WEU) im Rahmen einer Herbsttagung, dass die Festnahme Öcalans die Chance für eine politische Lösung der kurdischen Frage in der Türkei eröffne. Das würde aber auch die Beachtung der Menschenrechte einschließen.

Kurden in der Türkei werden gelyncht

In der Türkei schlug sich der Aufenthalt des PKK-Gründers in Italien in einer hysterisch-nationalistischen, kurdenfeindlichen Welle nieder. Landesweit wurden sämtliche Verbände der HADEP (Demokratiepartei des Volkes), einer Vorgängerin der heutigen HDP, binnen eines Tages durchsucht. Etwa 4.000 anwesende Personen wurden festgenommen. 60- bis 70-jährige Mütter von hungerstreikenden politischen Gefangenen – es waren um die 10.000, die seit Öcalans Ankunft in Rom im Hungerstreik waren – wurden aus den Büros des Menschenrechtsvereins IHD oder den Räumlichkeiten der HADEP herausgeholt und von Polizeibeamten festgehalten, damit sich „wütende Bürger“ an ihnen rächen konnten. Zwei Menschen wurden, nur weil sie Kurden waren, vor den Augen von Sicherheitskräften und vor laufenden Kameras auf offener Straße gelyncht. Dieser Vorfall wurde live im türkischen Fernsehen verbreitet. Kurdische Läden und Häuser wurden in Brand gesteckt. An türkischen Geschäften hingegen hingen Plakate mit der Aufschrift „Hier werden keine italienischen Produkte verkauft“.

Generalbundesanwalt erweitert Haftbefehl gegen Öcalan

Aber auch in Europa schlug der Mob zu: In Brüssel setzten türkische Jugendliche in Begleitung türkischer Fernsehteams drei kurdische Institute und Vereine in Brand. In Deutschland wurden italienische Geschäfte beschädigt sowie kurdische und italienische Schülerinnen und Schüler angegriffen. Am 19. November verkündeten Deutschland und Italien gemeinsam, Öcalan vor Gericht stellen zu lassen und eine europäische Initiative zur friedlichen politischen Lösung der kurdischen Frage einleiten zu wollen. Beim Generalbundesanwalt hatte man den Haftbefehl gegen Öcalan inzwischen um mehrere Tötungsdelikte von Kurden an Kurden in der Zeit vom Sommer 1984 bis Oktober 1987, Anschläge auf türkische Einrichtungen 1993 (und damit eine erneute angebliche „Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung“ auf deutschem Boden) sowie die kurdischen Autobahnblockaden erweitert. Es wurde öffentlich erklärt, man wolle die Auslieferung in aller Form vorbereiten.

Nachdem die PKK 1993 vom Bundesinnenministerium verboten wurde, kam es zu drastischen Aktionen in Deutschland. Im März 1994 besetzten Anhänger mehrere Autobahnen, übergossen sich mit Benzin und versuchten, sich anzuzünden. 1995 wurde eine Serie von Brandanschlägen der PKK zugeschrieben. Ende des Jahres reiste der damalige Leiter der Auslandsabteilung für den Verfassungsschutz Klaus Grünewald zu Öcalan nach Syrien. Im Frühjahr 1996 war es dann der Berliner Innensenator Heinrich Lummer (CDU), der das Gespräch zum PKK-Vorsitzenden suchte. Bei beiden Treffen wurde ein Gewaltverzicht für Deutschland ausgehandelt; militante Aktionen, mit denen auf die Zustände in der Türkei aufmerksam gemacht wurde, nahmen ab, friedliche Aktionen standen fortan im Mittelpunkt. Öcalan demonstrierte so sein Streben nach einer politischen Lösung der kurdischen Frage. Lummer bescheinigte ihm daraufhin „Dialogfähigkeit” und plädierte für eine Kontaktaufnahme der Bundesregierung mit der PKK zur Verhinderung neuer Gewalttaten.

Der türkische Außenminister Ismail Cem drohte daraufhin: „Wir haben in der Vergangenheit öfters die Flüchtlingsströme in Richtung Italien verhindert. Aber wegen der Haltung der italienischen Regierung scheint es schwierig zu sein, sie weiter unter Kontrolle zu halten.” Einen Tag später brachte die türkische Tageszeitung Milliyet auf der Titelseite über acht Spalten die Meldung von der Ermordung der russischen Reformpolitikerin Galina Starowojtowa unter den Überschriften: „Warnung an Italien”, „Die russische Unterstützerin Öcalans wurde hingerichtet”, „Ein Mord wie von der Hand des MIT”.

Deutsches Auslieferungsersuchen wird zurückgestellt 

Am 20. November 1998 kam es zu einer entscheidenden Wendung: Es wurde eine Erklärung des Regierungssprechers Uwe-Karsten Heye verbreitet. Damit wurde die Bereitschaft der Bundesregierung erklärt, das deutsche Auslieferungsersuchen zurückzustellen, die Chancen der Entwicklungen, die insbesondere durch Äußerungen des italienischen Ministerpräsidenten eingeleitet worden sein können, auszuloten sowie „konstruktiv an allen Lösungsansätzen mit-(zu)wirken, die dem Terrorismus seinen Nährboden entziehen und dadurch zu seiner wirksamen Bekämpfung beitragen“.

Es wurde also ein seit acht Jahren bestehender internationaler Haftbefehl ohne jegliche juristische Grundlage durch eine politische Autorität aufgehoben. Öcalan wurde von Deutschland als „heiße Kartoffel” bezeichnet. Jeder, der diese „Kartoffel” anfasse, würde sich die Finger verbrennen. Die Aufhebung des Haftbefehls wurde des Weiteren mit der Gefährdung der „inneren Sicherheit” begründet. In der Bundesrepublik würden „zu viele Türken und Kurden leben,” hieß es.

Am selben Tag hob das Berufungsgericht in Rom die Haftsituation Öcalans auf. Er wurde im Stadtteil Insernetto in einem Haus untergebracht, wo er unter ständiger Beobachtung war. Deutschlands Beschluss wurde seitens der Kurden zunächst positiv eingeschätzt und deshalb mit Zufriedenheit begrüßt. Dass gerade diese Haltung eine Fortsetzung des Komplotts darstellen würde, wurde erst viel später deutlich. Öcalan sollte die Haltung der Bundesregierung später als „die Flucht Deutschlands vor der menschlichen Verantwortung” bewerten.

D’Alema trifft sich mit Schröder

Die nun folgende Phase war eine der lebendigsten und aktivsten Phasen der kurdischen Bewegung zum Ende der 90er Jahre. Zehntausende Kurdinnen und Kurden strömten scharenweise trotz der schlechten Wetterverhältnisse nach Rom. Sie kamen per Auto, Zug und Flugzeug nach Italien. Hunderte Politiker, Wissenschaftler, Intellektuelle und Staatsleute versuchten, mit Öcalan Kontakt aufzunehmen.

Die Türkei plante dagegen die Nato einzuschalten, um Italien zur Auslieferung Öcalans zu bewegen. Die italienische Regierung war sich der schwierigen Situation bewusst und wollte mit ihren europäischen Partnern über den Umgang mit der Lage diskutieren. Aus diesem Grund führte der italienische Ministerpräsident Massimo D’Alema in kurzer zeitlicher Abfolge Gespräche mit seinem deutschen Amtskollegen Gerhard Schröder, mit Jacques Santer als Präsidenten der Europäischen Kommission, mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac und dem spanischen Ministerpräsidenten José María Aznar über den Umgang mit Öcalan. D’Alema und Schröder kamen am 27. November 1998 in Bonn zusammen. Ganz in der Nähe bekundeten etwa 50.000 Kurdinnen und Kurden ihre Verbundenheit mit Öcalan. Nach einem zweistündigen Gespräch erklärten beide Regierungschefs, dass die EU sich für eine friedliche Lösung der kurdischen Frage einsetzen werde. An die Außenministerien beider Länder sei bereits ein entsprechender Auftrag gegangen. Am 28. November 1998, also einen Tag später, erklärte der Nationale Sicherheitsberater der USA, Sandy Berger, Italien gegenüber, dass Öcalan keineswegs vor ein internationales Gericht gestellt werden könne. Er müsse an die Türkei ausgeliefert werden.

Gerhard Schröder am 27. November 1998 in Bonn

USA blockiert eine europäische Lösungsinitiative

Trotz der klaren Worte aus den USA kamen der italienische Außenminister Lamberto Dini und sein deutscher Amtskollege Joschka Fischer am 29. November 1998 in Rom zusammen. Nach ihrem Treffen erklärten sie gegenüber der Presse, dass eine europäische Initiative zur Lösung der kurdischen Frage in die Wege geleitet worden sei. Im Falle von Öcalan herrsche zwischen ihnen Einigkeit darüber, dass er vor ein internationales Gericht, das noch zu errichten sei, gestellt werden müsse. Eine Expertenkommission aus Italien und Deutschland werde noch in der laufenden Woche die Arbeit für die Gründung und die Funktionsweise einer solchen Gerichtsbarkeit aufnehmen. Zwischen den USA auf der einen und Deutschland und Italien auf der anderen Seite zeichnete sich in den Tagen vom 27. bis zum 29. November eine ernstzunehmende diplomatische Auseinandersetzung ab. Denn die europäischen Staaten zeigten sich nicht bereit, auf die Forderungen der USA einzugehen, und verlangten eine europäische Initiative zum Umgang mit Öcalan und der kurdischen Frage.

Deutschland macht Rückzieher

Am 3. Dezember fand eine Zusammenkunft der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) statt. Am Ende der Konferenz trat Bundesaußenminister Fischer vor die Presse und erklärte, Deutschland und Italien könnten allein kein internationales Gericht gründen. Damit machte der deutsche Außenminister deutlich, dass er von seinen Aussagen vom 29. November abgerückt war. Schließlich hätte ein Prozess vor einem Gericht in Europa auch die „Kurdenpolitik“ der Türkei miteinbezogen und damit bedenkliche Fakten zum Umgang der türkischen Regierung mit Minderheiten offenbart. Die Folge wäre zwangsläufig der Bruch mit der Türkei als Außenposten der NATO gewesen.  

Nächster Teil: Rom-Gespräche und Selbstverbrennungen

Teil 6: Ausreise aus Syrien: Ein fast auswegloser Plan

Teil 5: Der Waffenstillstand vom 1. September 1998

Teil 4: Neue Phase der Eskalation im Krieg gegen die PKK

Teil 3: Abdullah Öcalans Zeit im Mittleren Osten

Teil 2: Abdullah Öcalan: Ein organisiertes und aktives Leben

Teil 1: Kurzgeschichte der Revolution Kurdistans