Die Jahre, die auf den Aufbruch am 15. August 1984, dem Beginn des bewaffneten Kampfes der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) folgten, mögen die schwersten für die PKK und Abdullah Öcalan gewesen sein. Die Schüsse vom 15. August hatten die Kolonialstaaten und ihre Kollaborateure in Angst und Schrecken versetzt, aber auch dazu geführt, dass die westlichen Staaten sich daranmachten, aktiv gegen die PKK und Öcalan vorzugehen.
Die Türkei bezog nach dem 15. August als erstes den Nordatlantikpakt (NATO) mit in ihren Krieg ein. Im Hauptquartier der NATO fanden in den letzten Monaten des Jahres 1984 erste Gespräche statt, in denen es darum ging, wie der bewaffnete kurdische Aufstand gemeinsam niedergeschlagen werden könnte. Die Serie von Treffen reichte bis Mitte 1985. Im Visier befanden sich Öcalan und die PKK. Aber was passierte zu dieser Zeit bei der PKK? Am 21. März 1985 wurde die Nationale Befreiungsfront Kurdistans (Eniya Rizgariya Neteweyî ya Kurdistanê, ERNK) als Frontorganisation gegründet. Ziel der ERNK war es, die Gesellschaft in all ihren Komponenten - von der Jugend bis zu den Frauen, Ezid*innen, Alevit*innen und Muslime - zu organisieren. In den folgenden 15 Jahren sollte die ERNK Geschichte schreiben.
NATO-Beistandsklausel tritt ein – NATO organisiert Spezialkrieg
Die kritische Zeit, die auf die Gründung der ERNK folgte, bewertete das PKK-Exekutivratsmitglied Duran Kalkan im vergangenen Juli in einem Interview mit der Tageszeitung Yeni Özgür Politika: „Mit den Angriffen im Herbst 1984 sollte unter dem Kommando von Kenan Evren [Anführer des Militärputsches von 1980 und ehemaliger Präsident] die vorgebliche ‚Handvoll Banditen‘ vernichtet werden. Aber sie scheiterten. Ganz im Gegenteil, die Guerilla führte in diesen drei Monaten ungefähr sechzig militärische Aktionen durch. Ausdruck der Erfolglosigkeit der türkischen Armee gegen die Guerilla war ein Angriff bei Şemzînan [türk. Şemdinli] auf einen Militärkonvoi, in dem sich auch Kenan Evren befand. Mehrere seiner Personenschützer wurden dabei getötet. Als direkte Folge brachte der türkische Staat das PKK-Problem 1985 vor die NATO. Er wollte, dass Paragraf 5 des NATO-Vertrags in Kraft tritt. Der türkische Staat aktivierte Artikel 5 und die NATO-Versammlung stimmte zu. Seit 1985 organisiert die NATO den Krieg gegen die PKK in jeder Hinsicht. Alles, was der türkische Staat getan hat, wurde von den obersten NATO-Rängen genehmigt. Der türkische Staat konnte nichts ohne die NATO unternehmen. Der gesamte Spezialkrieg wurde auf NATO-Basis organisiert.“
Ibrahim Aydin, Abdullah Öcalan, Duran Kalkan (v.l.n.r.), 1. PKK-Konferenz, 1981, Bekaa-Ebene © Serxwebûn/ANF
Artikel 5 des NATO-Vertrages lautet: „Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen wird; sie vereinbaren daher, dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten."
Palme-Mord und Diffamierung der PKK sowie Öcalans
Der Mord an Olof Palme zeigt das ganze Ausmaß der Arbeit der NATO-Strukturen. Der damalige Ministerpräsident Schwedens und ausgewiesene Unterstützer der Kurd*innen und anderer unterdrückten Völker war am 28. Februar 1986 in der Hauptstadt Stockholm von einem Rechtsextremisten erschossen worden. Trotz eindeutiger Hinweise wurde sofort die Theorie einer angeblichen „PKK-Verschwörung” gegen Palme aufgekocht und der Mord der kurdischen Bewegung zugeschrieben. Es folgte eine Hexenjagd gegen Kurdinnen und Kurden in ganz Westeuropa.
Auch Abdullah Öcalan war im Visier der Ermittler, die Propagandamaschinerie in den eng mit dem türkischen Staat kollaborierenden deutschen und schwedischen Medien lief alsbald auf Hochtouren. Es wurde die Behauptung verbreitet, Öcalan habe einen Hinrichtungsbefehl für Palme gegeben. Auch einige als kurdische Institutionen und Intellektuelle betrachtete Kreise beteiligten sich an dieser Lynchkampagne. Die antikurdischen Operationen in Schweden weiteten sich sodann auf Deutschland aus: Am 15. März 1986 wurden in Duisburg etliche Kurd*innen, die Newroz feiern wollten, festgenommen und der Reihe nach verhört. Die Polizei riegelte die Stadt ab und behauptete, Öcalan als „Planer“ des Anschlags auf Palme würde an diesem Newroz-Fest teilnehmen und eine Rede halten. Diese unhaltbaren „Informationen“ kamen von kurdischen Organisationen in Schweden, die für ihre PKK-Feindschaft bekannt waren.
Die PKK befand sich zu dieser Zeit unter schwersten Bedingungen in einem gnadenlosen Guerillakrieg, ihre Massenbasis wuchs von Tag zu Tag. Die Liebe zu Öcalan setzte sich in den Herzen aller, die an die Befreiung Kurdistans glaubten, fest. Die Basis der anderen Gruppen, die sich als „kurdische Parteien“ bezeichneten, schloss sich der PKK an. Dies war der entscheidende Grund für ihre Wut auf Öcalan. Ihrer Meinung nach konnte „ein einfaches Kind des Volkes“ keine Führungspersönlichkeit, kein kurdischer Volksrepräsentant sein. Aber Öcalan gab den Kurd*innen in allen Bereichen ihre verlorene Hoffnung zurück. Einer von ihnen war der Intellektuelle, Dichter und Politiker Osman Sebrî, der ein enger Freund Öcalans werden sollte.
Abdullah Öcalan und Osman Sebrî 1993 in Damaskus © Serxwebûn/ANF
‚Während ihr nach Europa geht, kommen die Apoisten in die Heimat ‘
Osman Sebrî hatte viele Niederlagen erleben müssen: sei es beim Aufstand des Şêx Seîdê Pîran (Scheich Said) oder dem der PDK unter der Leitung von Melê Mustafa Barzanî, dem Kampf der kurdischen Unabhängigkeitsbewegung Xoybûn und den Widerständen vom Ararat und Dersim. Als er in Damaskus lebte, hatten es sich Intellektuelle und Parteiführer zur Gewohnheit gemacht, auf ihrem Weg nach Europa Sebrî einen letzten Besuch abzustatten. Es waren die mittleren 1980er Jahre. Er pflegte ihnen zu sagen: „Während ihr nach Europa geht, kommen die Apoisten in die Heimat. Schaut, mein Wort geht an euch: Die Apoisten werden gewinnen, ihr werdet verlieren.“ Abdullah Öcalan ging damals regelmäßig bei Osman Sebrî ein und aus. „Ihr verwirklicht meine Träume, ich bin in meinem Leben nie so stolz gewesen“, sagte er zu Öcalan.
Ohne Zweifel war Sebrî mit dieser Haltung nicht allein. Viele Intellektuelle unterstützten Öcalan. Einer von ihnen war der muslimische Gelehrte Mele Evdilahê Timokî (Abdullah Beğik). Er spielte eine religiöse Führungsrolle in Kurdistan und musste aufgrund der Repression des türkischen Staates nach Rojava gehen, wo er 1992 verstarb. Zwischen ihm und Öcalan gab es eine enge Verbindung.
Ab der zweiten Hälfte der 1980er Jahre besuchten zahlreiche Intellektuelle, Kunstschaffende, politische Führungspersönlichkeiten und Journalist*innen Abdullah Öcalan in Syrien. Sie konnten einen Eindruck von Öcalans Bescheidenheit und der Disziplin der PKK-Militanten gewinnen. Öcalan hat in dieser kurzen Zeit ein neues Kapitel der kurdischen Geschichte aufgeschlagen. Im Gegensatz zu den kurdischen Führungspersönlichkeiten zuvor war Öcalan für Kurd*innen aus allen Teilen Kurdistans, jeder Religion und Identität sowie allen gesellschaftlichen Gruppen da.
Mele Evdilahê Timokî (dritter v.l.) bei einer Feier am 15. August 1991, Bekaa-Ebene © Serxwebûn/ANF
Die Reaktionen auf das Komplott von 1986
Das Jahr 1986 stellte eine der schwersten Hürden dar, welche die PKK überwinden musste. In den Tagen nach dem Palme-Mord, als die Antipropaganda gegen die PKK in Europa ihren Höhepunkt erreichte, sollte am 28. März 1986 der legendäre Guerillakommandant Mahsum Korkmaz (Nom de Guerre Egîd, „der Mutige“), unter dessen Führung in Kurdistan „der erste Schuss“ gegen die türkische Besatzungsmacht abgegeben worden war, fallen. Als Antwort auf diesen schweren Verlust veranstaltete die PKK im Oktober 1986 ihren dritten Parteikongress. Auf dem Kongress wurde die Umwandlung der Hêzên Rizgariya Kurdistan (Befreiungskräfte Kurdistan, HRK) in Artêşa Rizgariya Gelê Kurdistan (Volkbefreiungsarmee Kurdistans, ARGK) beschlossen. Diese Umwandlung sollte eine Vergrößerung und Ausweitung des Guerillakriegs einläuten. Es wurde ein System von Guerilla-Provinzen geschaffen und die PKK begann das Prinzip der Kritik und Selbstkritik und der „Persönlichkeitsanalyse“ zu einem wichtigen Eckpfeiler der Bewegung zu etablieren. Die Guerilla professionalisierte sich und gründete in der Bekaa-Ebene im Libanon die Mahsum-Korkmaz-Akademie. Hier erfolgte die militärische und ideologische Ausbildung. Bis 1992 wurden dort Dutzende Kommandant*innen und hunderte Kämpfer*innen ausgebildet. Die Akademie war auch ein Ort, an dem Öcalan mit der Bevölkerung zusammenkam. Die Akademie genoss nicht nur regionales Interesse, sondern stand im Fokus der Medien weltweit.
YNK-Abordnung zu Besuch an der Mahsum-Korkmaz-Akademie, ganz links Celal Talabanî © Serxwebûn/ANF
Der Tod von Şehîd Hamza
Abdullah Öcalan stand mehrfach ernsten Gefahren gegenüber. Schon vor der offiziellen Gründung der Bewegung war er zum Ziel von Attentatsplänen geworden. Nach der Ermordung von Halil Çavgun, einem Führungskader der Apoisten, am 18. Mai 1978 in Curnê Reş (Hilvan), war Abdullah Öcalan nach Riha (Urfa) gegangen, um dort den Widerstand zu organisieren. Auf dem Weg nach Hoşin wurde sein Fahrzeug von Kugeln durchsiebt, Öcalan blieb nur durch Glück unverletzt. Am 25. Januar 1990 wurde Hasan Birdal (Hamza), ein Jugendfreund Abdullah Öcalans, in der Mahsum-Korkmaz-Akademie von Şahin Baliç (Topal Metin) getötet. Der Mord war als Unfall getarnt worden. Öcalan nahm diese Ereignisse zum Anlass, innerhalb der Partei gegen „Banditentum und feudale Komplotte“ vorzugehen. Er klassifizierte die „Viererbande“ um Şemdin Sakık (Zeki), Şahin Baliç, Halil Kaya (Kör Cemal) und Cemil Işık (Hogir) als „Banditengruppe“ und versammelte die PKK zu ihrer zweiten Konferenz, um innerhalb der Bewegung mit diesen Problemen umzugehen.
Abdullah Öcalan (l.) mit seinem Jugendfreund Hasan Bindal (r.) © Serxwebûn/ANF
Mit Öcalan-Liquidierung beauftragte Agenten sprechen im TV
Öcalan beschrieb diese kritische Phase selbst mit den Worten: „Seit Beginn der 90er Jahre kündigten sich neue Komplotte im Inneren wie im Äußeren mit lauten Schritten an. Am 25. Januar 1990 wurde mein ehemaliger Jugendfreund Hasan Bindal durch einen angeblichen Irrläufer getötet. Hinter dem Ereignis steckte jedoch viel mehr. Es handelte sich um ein Komplott, an dem mit hoher Wahrscheinlichkeit Sarı Baran, Mehmet Şener und Şahin Baliç beteiligt waren. Wenn ich das Ereignis so hingenommen hätte, wäre kurze Zeit später diese Operation mit meiner Vernichtung abgeschlossen worden. Die beiden Agenten, die mit meiner Liquidierung beauftragt waren, haben im Fernsehsender Star TV über die Anschuldigungen gegen sie – ich glaube um Cem Ersever [Cem Ersever war eine der Schlüsselfiguren des Militärgeheimdienstes JITEM] zu verteidigen – gesprochen. Das habe ich selbst gesehen. Sie haben gesagt: ‚Wir sind nicht erfolglos. Wenn wir gewollt hätten, hätten wir ihn umbringen können, aber wir sollten ihn lebend ergreifen.‘ Das war ein klares Geständnis. Die Wahrheit hatte ihren Beitrag geleistet. Das Banditentum innerhalb der PKK hätte dies ohne Probleme umsetzen können. Aber sie hatten das strategische Ziel, mich zunächst am Leben zu lassen, damit die Kontrolle über die Organisation in ihre Hände übergeht, und mich erst dann zu liquidieren. Um das umzusetzen, mussten sie alle aufrechten Kader, die in Verbundenheit zu mir standen, mit als ‚Unfälle‘ getarnten Morden vernichten.“
Vierter Kongress, Volksaufstände, ausgeweiteter Guerillakampf
Der 4. Kongress der PKK versammelte sich am Ende des Jahres 1990. Die Zusammenkunft war geprägt von der Verbundenheit mit Öcalan und sollte als erster Kongress in Kurdistan nach dem Gründungskongress der PKK in die Geschichte eingehen. Abdullah Öcalan nahm nicht persönlich daran teil, reichte jedoch eine Analyse mit dem Titel „Politischer Bericht“ zu den damaligen Entwicklungen in Kurdistan und der Welt ein.
In der ersten Hälfte der 90er Jahre wurde Kurdistan von den Serhildan – den Volksaufständen – erschüttert, beginnend in Nisêbîn (Nusaybin), Cizîr (Cizre) und Amed (Diyarbakir). Im Guerillakampf wurden viele Militärstützpunkte von der Landkarte getilgt. Gleichzeitig begann auch die legale kurdische Politik. Öcalan stand im Mittelpunkt dieser historischen Entwicklungen und wurde mehr denn je Angriffsziel sowohl innerer, als auch äußerer Feinde.
Demonstration anlässlich des PKK-Gründungsjubiläums am 27. November 1991, Bekaa-Ebene © Serxwebûn/ANF
Nächster Teil:
*Waffenstillstände von 1993 und 1995
*Explosion am 6. Mai 1996