15. August 1984: Wendepunkt in der kurdischen Geschichte

„Der 15. August war nicht nur eine militärische Offensive. Er hatte ideologische, philosophische, politische, organisatorische und kulturelle Aspekte“, erklärt Cemil Bayik (KCK) zum Beginn des bewaffneten Kampfes vor 35 Jahren.

Vor 35 Jahren fiel im nordkurdischen Dih (Eruh) „der erste Schuss“ der PKK. Eine 36 Personen starke Guerillaeinheit, angeführt von dem legendären Kommandanten Mahsum Korkmaz – auch bekannt unter seinem Nom de Guerre Egîd („der Mutige“) – führte am 15. August 1984 den ersten Angriff gegen die türkische Besatzungsmacht durch. Für die Aktion, die als Beginn des bewaffneten Befreiungskampfes gilt, war eine Kaserne der Militärpolizei ausgewählt worden. Ein Wachsoldat und ein Offizier kamen ums Leben, Verluste der Guerilla gab es nicht.

Über den Lautsprecher einer Moschee wurde anschließend die Gründungserklärung der HRK (Hêzên Rizgarîya Kurdistan) verlesen. In dem Flugblatt der „Befreiungseinheiten Kurdistans”, wie sich die Guerilla in den ersten Jahren des bewaffneten Kampfes in Anlehnung an die zu Beginn des vietnamesischen Freiheitskampfes gebildete „Einheit zur Befreiung Vietnams“ nannte, hieß es: „Die HRK verfolgt das Ziel, den Kampf unseres Volkes um nationale Unabhängigkeit, eine demokratische Gesellschaft, Freiheit und Einheit unter Führung der PKK gegen den Imperialismus, den türkischen Kolonialfaschismus und ihre einheimischen Lakaien bewaffnet zu führen.”

Anlässlich des morgigen Jahrestages hat sich Cemil Bayik als Ko-Vorsitzender des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) im Radiosender Dengê Welat zu den ideologischen, philosophischen und politischen Hintergründen des Beginns des bewaffneten Kampfes geäußert: „Diese Offensive stellt einen Wendepunkt in der Geschichte Kurdistans dar. Die Kurden sind aufgestanden und haben sich dagegen gewehrt, als Volk von der Bildfläche zu verschwinden. Sie sind zu neuem Leben erwacht und haben es geschafft, dass sie heute weltweit als Quelle der Hoffnung gelten.“

Die erste Kugel

Was „die erste Kugel“ am 15. August 1984 für die kurdische Befreiungsbewegung und die Bevölkerung Kurdistans bedeutete, erläuterte Cemil Bayik so: „Der 15. August nimmt einen besonderen Platz in der Geschichte unserer Bewegung und des kurdischen Volkes ein. Es war der Tag, an dem die erste Kugel abgefeuert wurde. Dieser Schuss musste fallen, weil das kurdische Volk von der Auslöschung bedroht war. Niemand wusste mehr so recht, ob es die Kurden eigentlich noch gibt. Die Menschen befanden sich in einer Art Todesschlaf und dieser Situation musste ein Ende gesetzt werden.

Dafür steht die Offensive vom 15. August. Es gab zwei Möglichkeiten: Das kurdische Volk konnte aus seinem Todesschlaf erwachen, sein eigenes Schicksal in die Hand nehmen und dafür kämpfen, oder es würde nie wieder aufstehen können und ausgelöscht werden. Abdullah Öcalan war davon überzeugt, dass sich das Volk wecken lassen und kämpfen würde.

Und so sind die Kurden zurückgekehrt aus der Sklaverei, aus Schwäche, Gefangenschaft und Tod. Die militärische Offensive hat einen Aufstand hervorgerufen und der ganzen Welt damit Hoffnung gemacht. Die Kurdistan-Philosophie von Rebêr Apo war erfolgreich. Der erste Schuss richtete sich gegen die Besatzer und das System der kapitalistischen Moderne.

Es waren die Besatzer, die die Kurden in einen Todesschlaf versetzt hatten, und hinter ihnen stand das System der kapitalistischen Moderne. Gegen die Kurden wurde eine Völkermordpolitik angewandt. Sie haben sich zwar immer dagegen aufgelehnt, aber jeder Aufstand wurde niedergeschlagen. Deshalb herrschte die Grundeinstellung, dass nichts dagegen zu machen ist. Die Kurden entfernten sich immer weiter von ihren eigenen Werten. Und das führte zum Tod.

Für Rebêr Apo war das nicht hinnehmbar, weder für das kurdische Volk noch im Namen der Menschheit. Die Kurden durften nicht sterben und dafür mussten wir alle unsere Möglichkeiten in Bewegung setzen. Das war die Grundlage der Offensive vom 15. August. Die Republik Türkei ist nicht nur von den Türken gegründet worden, sie wurde von Türken und Kurden gemeinsam gegründet. Es wurde ein gemeinsames Parlament gegründet, das die Autonomie der Kurden anerkannte, zumindest bis zum Jahr 1924. Erst danach wurden die Kurden verleugnet und nicht mehr als Partner betrachtet. Damit die Republik nur noch den Türken gehört, begannen die Angriffe auf die Kurden.

Die Kurden wehrten sich dagegen. Es kam zu Massakern und Vertreibungen. Den Kurden wurde alles geraubt. Dabei setzten sie sich nur für ihren eigenen Willen, für ihre Sprache, Kultur, Identität, Freiheit und ihre Werte ein. Das wurde als Verbrechen geahndet. Alle Kurden, die sich für sich selbst einsetzten, wurden als Separatisten und Verräter gebrandmarkt.

Und das war der Grund, warum die PKK entstanden ist. Mit der PKK entwickelte sich der Kampf der Kurden gegen die Besatzer. Der Beginn des bewaffneten Kampfes sollte die Kurden wecken und sie am Leben erhalten. Daher hat der 15. August einen wichtigen Stellenwert in der Geschichte unserer Bewegung und unseres Volkes. Er hat die Auslöschung des kurdischen Volkes verhindert.

Veränderung im Mittleren Osten

Der 15. August hat nicht nur für die Kurden und unsere Bewegung eine Veränderung initiiert, sondern im gesamten Mittleren Osten. Er hat sich auf den türkischen Besatzerstaat und die kapitalistische Moderne ausgewirkt. Dieses System hat seine eigenen Interessen in Kurdistan verfolgt. Die Besatzer haben ihre Völkermordpolitik umgesetzt, aber das System der kapitalistischen Moderne hat ihnen die Möglichkeit dazu gegeben. Der Beginn des bewaffneten Kampfes hat die kapitalistischen Interessen gefährdet, daher wurden die Besatzerstaaten von allen Seiten unterstützt. Unsere Bewegung sollte im Keim erstickt werden. Je stärker die Bewegung wurde, desto größer wurde die Unterstützung des türkischen Staates. Die türkische Kriegsführung wurde mit Hilfe der NATO ausgeweitet.

Insofern war der 15. August nicht nur eine militärische Offensive. Der militärische Aspekt war eher mangelhaft. Der ideologische, philosophische, politische, organisatorische und kulturelle Aspekt stand im Vordergrund. Es ging um eine Demokratiebewegung, eine Bewegung, die sich für die Völker und die Werte der Menschheit einsetzt und gegen den Faschismus stellt. Auch heute noch schützt diese Bewegung die Menschen vor dem Faschismus. Sie hat eine große Veränderung in der Gesellschaft bewirkt. Die totgeglaubten Kurden sind zu neuem Leben erwacht und haben alles zerschlagen, was das Besatzungssystem in der Gesellschaft etabliert hatte. Vorher ist die Existenz der Kurden verleugnet worden, heute ist diese Zeit vorbei.

Mentale Revolution

Die Kurden existierten und wollten in Kurdistan leben. Vor allem bei den kurdischen Frauen und der Jugend hat eine große Veränderung eingesetzt. Frauen, die kaum das Haus verlassen konnten, sind in die Berge gegangen, haben sich der Guerilla angeschlossen und am Befreiungskampf teilgenommen. Jugendliche, die darauf gedrillt worden waren, nur ihre eigenen materiellen Interessen zu verfolgen, haben der kapitalistischen Moderne den Rücken zugekehrt und sind zum Kämpfen in die Berge gegangen. Sie haben sich von der Unterdrückung des türkischen Staates befreit.

Und auch die kurdischen Männer und die gesamte Gesellschaft haben sich verändert. Männer, die ihre Frauen im Haus festhalten und ihre Kinder davon abhalten wollten, zur Guerilla gehen, haben selbst angefangen zu kämpfen. Es ist zu einer Revolution im Denken gekommen. Das kurdische Volk ist aufgewacht und will aufrecht leben. Dass es für die eigene Freiheit gegen einen NATO-Staat rebelliert, hat sich auf den gesamten Mittleren Osten ausgewirkt. Die Offensive vom 15. August hat zwar in Kurdistan begonnen, aber sie ist im Grunde genommen eine Offensive für den Mittleren Osten und die gesamte Menschheit.“