Cemil Bayik: Der Moment für Frieden ist gekommen
In einem Gastbeitrag in der Washington Post schreibt Cemil Bayik (KCK): „Der Moment um Frieden zwischen den Kurden und dem türkischen Staat zu schließen, ist jetzt. Verschwenden wir ihn nicht.”
In einem Gastbeitrag in der Washington Post schreibt Cemil Bayik (KCK): „Der Moment um Frieden zwischen den Kurden und dem türkischen Staat zu schließen, ist jetzt. Verschwenden wir ihn nicht.”
Wir sind an einem kritischen Moment im Konflikt zwischen dem türkischen Staat und dem kurdischen Volk angelangt. Wir haben die Gelegenheit, für einen langjährigen Streit eine dauerhafte Lösung zu finden. Sollten wir diese Gelegenheit verpassen, wird sie möglicherweise für eine ganze Generation nicht wiederkehren.
Seit der türkischen Republiksgründung im Jahr 1923 haben die Kurden für ihre vollständige Anerkennung als gleichberechtigte Bürger gekämpft. Sie waren unzähligen Formen von Diskriminierung und Unterdrückung ausgesetzt. Nachdem wir mehr als fünf Jahrzehnte erfolglos versucht haben, Fortschritte innerhalb des politischen Systems zu erzielen, blieb uns keine andere Wahl, als auf den bewaffneten Widerstand zurückzugreifen. Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) nahm 1984 einen Guerillakrieg auf. Während der türkische Staat versuchte, Nationalismus und den politischen Islam zu nutzen, um unseren Kampf zu unterdrücken, forderte unsere Partei von Beginn an Freiheit für alle Volksgruppen und Glaubensrichtungen.
1999 nahmen türkische Agenten den PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan bei einer von den Vereinigten Staaten unterstützten Operation gefangen. Er wurde zu einer lebenslangen Haftstrafe auf der Gefängnisinsel Imrali verurteilt, wo er seit 20 Jahren der einzige Häftling ist.
Öcalans Gefangennahme und Inhaftierung fällt mit dem Aufstieg der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP), angeführt von Recep Tayyip Erdoğan, zusammen. Erdoğan und seine Partei gewannen früh die öffentliche Unterstützung, indem sie Demokratie, Menschenrechte und Gerechtigkeit hervorhoben. Doch schon wenige Jahre später, gefragt nach der kurdischen Frage, antwortete Erdoğan: „Solange Sie nicht darüber nachdenken, existiert sie nicht.“
Dennoch existiert sie, wie selbst Erdoğan letztendlich zugeben musste. Wir haben eine Reihe von Anstrengungen unternommen, um in gutem Glauben mit der Regierung zu verhandeln – einschließlich entsprechender Waffenstillstände. Das Engagement der Regierungspartei für den Frieden hielt jedes Mal nur so lange an, wie es sich als politisch sinnvoll erwies.
2012 schließlich hat die PKK einen Waffenstillstand verkündet, den wir trotz enormer Hindernisse aufrechterhalten haben. Die PKK ließ alle türkischen Soldaten und Polizisten in Gefangenschaft frei und unsere Kräfte begannen schrittweise ihren Rückzug aus der Türkei. Das eröffnete den Weg für Verhandlungen.
Nach zweijährigen Gesprächen haben Vertreter des kurdischen Volkes und des türkischen Staates am 28. Februar 2015 eine Einigung erzielt, die unsere gemeinsame Hoffnung auf Frieden zum Ausdruck brachte. Als Erdoğan jedoch feststellte, dass die Gespräche bei künftigen Wahlen für seine Partei nicht mehr von Nutzen waren, entschied er sich erneut für einen Konflikt.
Die regelmäßigen Treffen, die zwischen Vertretern des türkischen Staates und unserem Vordenker Öcalan stattgefunden hatten, endeten. Der Krieg wurde mit neuer Kraft wiederaufgenommen. Panzer und Kampfflugzeuge machten zehn kurdische Städte platt. Das türkische Militär tötete Hunderte Zivilisten, darunter Frauen, Kinder und ältere Menschen auf brutale Weise. Sicherheitskräfte hinderten Familien häufig daran, die Leichen ihrer Verwandten zu bergen.
Der Staat versuchte erneut, dem kurdischen Volk einen tödlichen Schlag zu versetzen. Die Macht durch religiösen Extremismus und Rassismus auf Kosten der Demokratie und des zivilen Lebens zu erhalten, ist in ihrer jetzigen Form nicht nur eine Gefahr für die Kurden, sondern auch für den Mittleren Osten und die gesamte Welt.
Nun sieht Erdoğan die demokratische Revolution der Kurden in Syrien und die Niederlage des Islamischen Staates als Bedrohung für die Kurdenpolitik des türkischen Staates und seine alleinige Machterhaltung an. Unsere Organisation möchte die Befreiung aller Völker Syriens und die echte Demokratisierung des Landes sehen. Kurden, Araber und Assyrer im Nordosten von Syrien haben die demokratische Autonomie, die Öcalan während seiner Haftzeit entworfen hat, bereits in die Praxis umgesetzt.
Wir haben unsere eigenen Fehler bei der Bewältigung dieser Herausforderungen gemacht. Wir waren naiv zu glauben, dass die kurdische Frage allein durch den Dialog mit Erdoğans Partei gelöst werden würde. Bei dem Versuch, einen Konflikt zu lösen, der so komplex und mit anderen Herausforderungen verbunden ist, hätten wir härter daran arbeiten müssen, alle demokratischen Kräfte der Türkei einzubeziehen. In gleicher Weise hätten wir demokratiefördernde Kräfte im Mittleren Osten und auf der ganzen Welt mobilisieren müssen, um zur Demokratisierung der Türkei und zur Lösung der kurdischen Frage beizutragen.
Falls in dieser Hinsicht Unklarheiten bestehen: Wir erklären erneut, dass wir uns dazu verpflichten, eine politische Lösung der kurdischen Frage innerhalb der türkischen Grenzen zu verhandeln.
Wir werden wiederholen, was wir zuvor gesagt haben: Öcalan ist unser Verhandlungsführer. Wir stimmen allen Punkten in Öcalans jüngsten Mitteilungen zu und setzen voraus, dass Öcalans Fähigkeit, frei zu arbeiten und Beiträge zu leisten, für uns unabdingbar ist, um einen dauerhaften Waffenstillstand zu gewährleisten. Um es zu präzisieren: er muss aus dem Imrali-Gefängnis in ein sicheres Haus entlassen werden.
Die Welt hat ein Interesse daran, unsere Ziele zu unterstützen. Die heutige Krise in der Türkei ist im wesentlichen eine politische. Es ist eine Krise, die aus dem Zusammenbruch der jahrhundertealten kurdischen Politik der türkischen Republik resultiert. Dieses Problem steht im Mittelpunkt der gegenwärtigen innenpolitischen, regionalen und globalen Herausforderungen der Türkei. In dieser Hinsicht braucht die Türkei dringend ein neues Verständnis von „Nation“, das Raum für unterschiedliche ethnische und kulturelle Identitäten bietet. Ein solcher Ansatz sollte sich in einem neuen Verwaltungssystem widerspiegeln, das die historische Vielfalt unserer Region reflektiert und von Ankaras zentralisiertem Würgegriff befreit ist.
Durch die Lösung der kurdischen Frage könnte die Türkei eine entscheidende Rolle bei der Förderung von Demokratie, Stabilität und Frieden im Mittleren Osten spielen. Der türkische Staat lehnt dies jedoch ab. Andererseits streben wir weiterhin die Demokratisierung des Mittleren Ostens durch die Demokratisierung der Türkei an.
Im Original erschien der Gastbeitrag von Cemil Bayik am 3. Juli 2019 in der Washington Post