Neue Botschaft von Abdullah Öcalan
Das Rechtsbüro Asrin hat seine Eindrücke vom Besuch bei Abdullah Öcalan am 18. Juni und die Botschaft des kurdischen Vordenkers veröffentlicht.
Das Rechtsbüro Asrin hat seine Eindrücke vom Besuch bei Abdullah Öcalan am 18. Juni und die Botschaft des kurdischen Vordenkers veröffentlicht.
Das Rechtsbüro Asrin hat seine Eindrücke vom Besuch bei Abdullah Öcalan am 18. Juni und die Botschaft des kurdischen Vordenkers veröffentlicht.
Das Verteidigerteam des kurdischen Vordenkers Abdullah Öcalan hat vor drei Tagen seinen Mandanten auf der Gefängnisinsel Imrali besucht. Heute hat das Rechtsbüro Asrin, das Öcalan seit seiner Verhaftung vor zwanzig Jahren vertritt, eine Erklärung zu den Inhalten des Gesprächs abgegeben.
„Am 18. Juni 2019 hat im Gefängnis auf Imrali ein Anwaltstreffen mit unserem Mandanten Herrn Abdullah Öcalan stattgefunden. Wie bei den vorangegangenen Treffen auch, hat Herr Öcalan zu einer Vielzahl von Themen Stellung bezogen und Bewertungen abgegeben. Es ging im Allgemeinen um den Hungerstreik, die türkisch-kurdischen Beziehungen, die kurdische Geschichte, Persönlichkeit und Kultur, die Situation in Syrien und Nordsyrien, die Möglichkeiten demokratischer Politik und einer demokratischen Allianz sowie um die Tagespolitik in der Türkei und mögliche Entwicklungen.
Herr Öcalan hat einen Text zur Tagespolitik und den möglichen Entwicklungen verfasst. Er wollte insbesondere, dass dieser Brief und seine geäußerten Ansichten an seinen Hauptadressaten, die HDP, weitergegeben und besprochen werden. Seinem Wunsch entsprechend haben wir seine Bewertungen und seinen Text zunächst den Ausschüssen der HDP übermittelt, anschließend wurde geplant, ihn am 21. Juni 2019 der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Wir möchten insbesondere betonen, dass wir die Botschaft unseres Mandanten niemand anderem als diesen Ansprechpartner*innen mitgeteilt haben.
Am Rande unserer Gespräche und Vorbereitungen zur Veröffentlichung der Öcalan-Botschaft haben wir Erklärungen einer Person namens Ali Kemal Özcan wahrgenommen. Özcan hat am Donnerstagabend versucht, Kontakt zu unserem Büro aufzubauen und behauptet, er habe an einem Treffen auf Imrali teilgenommen. Wir waren nicht im Besitz von Informationen darüber, dass ein Nichtjurist nach Imrali gebracht würde. Bei allen Treffen seit dem 2. Mai haben wir so verfahren, dass wir die Botschaften unseres Mandanten zuerst den Ansprechpartner*innen und anschließend der Öffentlichkeit übermittelt haben. Wir wissen um die politische Bedeutung der Haltung und der Worte unseres Mandanten und bemühen uns, das entsprechende Verantwortungsbewusstsein und die notwendige Sorgfalt in unseren Erklärungen an den Tag zu legen. Deswegen müssen wir gegen alle Annäherungsversuche von Personen und Institutionen, die sich hinsichtlich unserer Mandantenbesuche seit dem 2. Mai intensiviert haben, Verantwortungsbewusstsein und die notwendige Vorsicht an den Tag legen. Die Dinge, die auf einem angeblichen Treffen Özcans mit unserem Mandanten gesagt worden sein sollen, die Form der Veröffentlichung und die gewählten Begriffe sind für uns nicht bindend. Ohne unseren Mandanten gesprochen zu haben, können wir diese Aussagen weder bestätigen noch etwas darauf erwidern.
Wir teilen nun unsere Eindrücke vom Treffen mit Herrn Öcalan am 18. Juni mit und hängen eine Botschaft unseres Mandanten an.
Herr Öcalan erklärte, dass jeder Satz im Text eigentlich den Inhalt eines Buches habe, erläuterte seinen Standpunkt und gab Empfehlungen ab, die bei der Bewertung seiner Botschaft miteinbezogen werden müssen.
Er sagte, es werde größer angelegte Botschaften geben, die sich auf eine Lösung fokussieren, und bezeichnete diese als „Hoffnung“. Er erklärte wie auf vorherigen Treffen, dass eine polarisierende Sprache verwendet werde und man weiterhin den „dritten Weg“ gehen müsse. Herr Öcalan wies darauf hin, dass die demokratische Allianz im Kontext der aktuellen Diskussion nicht als Abfänger für Dilemmata forciert werden sollte und forderte die HDP auf, ihre Politik weiterhin auf der Grundlage des „dritten Wegs“ zu gestalten. Dieser polarisierte Zustand bestehe bereits seit der Gründung der Republik. Es bedürfe großen Mutes und sei überdies gefährlich, unter diesen Bedingungen eine demokratische Allianz und eine Partei wie die HDP auf der Grundlage des dritten Wegs zu gründen und auf dieser Linie zu arbeiten. Er teilte mit, dass die demokratische Allianz mit dem Mut und dem Verstand der HDP als Katalysator wirken, alle politischen Strukturen zur Demokratisierung aufrufen und eine Politik der demokratischen Verhandlungen und der politischen Lösung entwickeln müsse.
Herr Öcalan betonte, dass das in der HDP verankerte Selbstverständnis der demokratischen Allianz nicht als Abfänger der aktuellen Wahldebatte dienen sollte. Er bemerkte, dass eine gesellschaftliche Einigung notwendig sei. Die Polarisierung und der Dualismus müssten enden. Die Beleidigungen im Rahmen der polarisierten Politik und die Demagogie seien eine Politik des Krieges. Demgegenüber müsse die HDP ihren Weg wahren. Er sagte, dass wir uns mit der HDP treffen und diese Punkte diskutieren sollten und die HDP als politische Partei selbst ihre Entscheidung treffen müsse.
Öcalan bezeichnete die HDP als Partei der demokratischen Allianz und der demokratischen Verhandlungen und unterstrich, die HDP müsse, um dem gerecht zu werden, die Allianzen innerhalb der Partei und ihre Politik stärken. Es gebe Probleme von der kleinsten Dorfstruktur bis hin zur höchsten Ebene. Diese Probleme hätten die Politik gestoppt, es sei nun notwendig, dass auf der Grundlage einer demokratischen Politik eine Lösung entwickelt werde.
Demokratische Politik müsse auf den drei Standbeinen demokratische Verständigung, freie Politik und universelles Recht beruhen. Im Rahmen des universellen Rechts schlug Öcalan den Begriff einer „demokratischen Verfassungsallianz“ vor. Er erklärte, dass im Rahmen universellen Rechts eine demokratische Verfassungslösung gesucht werden könne. Unser Mandant erinnerte daran, dass sein Sieben-Punkte-Papier ein Ausdruck der Linie der demokratischen Allianz sei.
Wie bei den letzten Gesprächen gab Öcalan auch eine Bewertung der kurdisch-türkischen Beziehungen ab. Wie zuvor schon festgestellt, beruhen die kurdisch-türkischen Beziehungen auf Gegenseitigkeit. Wenn es keine Kurdinnen und Kurden gäbe, gäbe es auch keine Türkinnen und Türken und umgekehrt. Er erinnerte daran, dass es die Kurden waren, die den Türken bei Melezgîr (Malazgırt) den Weg nach Anatolien öffneten und sich auch in Ebex (Çaldıran) und Mardsch Dabiq einigten, um den Weg der Osmanen zu ebnen. Dieses Verhältnis sei nicht einseitig, sondern gelte ebenso für die Kurd*innen. Herr Öcalan unterstrich, dass es von Bedeutung sei, wer die Beziehungen zwischen Kurd*innen und Türk*innen wann und auf welche Weise zerstört hat. Man müsse die Kräfte, die dies verursacht haben, hinterfragen. Öcalan bemerkte, dass es nach der Zerstörung dieses Zusammenlebens zu vielen Aufständen und Massakern gekommen ist, und erklärte, dass seine eigene Haltung eine andere sei. Es sei allgemein bekannt, dass er trotz der Geschehnisse in den vergangenen vierzig Jahren jederzeit noch größere Massaker verhindert habe.
Herr Öcalan sprach auf dem Treffen auch über seine politische Methode. Er sagte, er befinde sich auf der Suche nach einer Lösung durch Denken, Schaffen und eine konstruktive Politik. Obwohl insbesondere während der Hungerstreiks und Todesfastens Tausende ihre Verbundenheit mit ihm gezeigt haben, kann er die Existenz von gravierenden und lang andauernden gesellschaftlichen Problemen, die dringender Lösung bedürfen, nicht akzeptieren. Ihm sei die gesamte Last aufgebürdet worden, reine Opferbereitschaft reiche nicht aus, alle könnten sich intensiver im Rahmen einer konstruktiven, lösungsorientierten Politik beschäftigen. Zum Beispiel ist er neugierig darauf, wie weit sich das Modell der demokratischen Kommunalverwaltung in der vor uns liegenden Phase entwickelt.
Zu Syrien erklärte Öcalan, dass er es für wichtig halte, auf der Grundlage einer gemeinsamen Politik der Kurd*innen, der Araber*innen und der anderen Völker der Region den syrischen Staat zu einer Verfassungslösung zu bringen. Dies sei der Weg, um eine Vernichtung oder Zerstörung zu verhindern.
Er sprach anschließend über kurdische Geschichte, Persönlichkeit und Kultur und gab eine Bewertung zum Epos von Mem und Zin und der Cizîr-Region (Cizre) ab. Er erklärte, trotz der vergangenen 400 Jahre stehe Cizîr im Schatten von Mem und Zin. Öcalan sprach über die Geschichte von Cizîr, seine Landschaft und Kultur und über das für die Geschichte von Cizîr wichtige „ezidische, kurdische Mädchen“ Bêrîvan und die ezidische Bevölkerung. Herr Öcalan betonte, dass es eine erschreckende Situation sei, dass Kurd*innen die kurdische Kultur nicht richtig leben und ihren Kindern die kurdische Sprache nicht beibringen.
Hochachtungsvoll,
Rechtsbüro Asrin, 21. Juni 2019
Die Botschaft Abdullah Öcalans
An die Öffentlichkeit,
Ich hatte das Bedürfnis, diese Erklärung unter Berücksichtigung möglicher Entwicklungen hinsichtlich der von mir ergriffenen Initiative abzugeben, damit die Hungerstreiks und das Todesfasten beendet werden.
Ich habe von einer vertieften und geklärten Haltung bezüglich des Lösungsprozesses gesprochen. Ich habe meine Perspektive zu den aktuellen Entwicklungen betrachtet. Die Haltung, welche die Türkei nach dem Lösungsprozess prägte, war nicht in der Lage, das traditionelle Dilemma der Türkei zu überwinden. Diese kriegerische und polarisierende Haltung ist ein Ergebnis der Verschärfung aller gesellschaftlichen Probleme, insbesondere der kurdischen Frage. Die Republikanische und die Nationale Allianz sind Ausdruck dieser Realität, die Demokratische Allianz und die damit zusammenhängende Option demokratischer Verhandlungen hat sich jedoch auf eine Lösung fokussiert.
In der vor uns liegenden Zeit werden sich die innergesellschaftlichen, die regionalen und die globalen Probleme weiter vertiefen, daher ist es äußerst sinnvoll und wichtig, die Orientierung am dritten Weg zu bewahren. In diesem Sinne sollte es das Verständnis der demokratischen Allianz, welches sich in der HDP manifestiert, sein, nicht als Stützpfeiler der alltäglichen Wahldebatte zu dienen. Die historische und aktuelle Bedeutung der demokratischen Allianz setzt voraus, sich nicht innerhalb des aktuellen Dilemmas zu engagieren und wie bisher bei den Wahlen eine unparteiische Linie zu verfolgen.
Eine politisch produktive Plattform basierend auf den drei Eckpunkten demokratische Verständigung, freie Politik und universelles Recht ist die richtige und ergebnisbringende. Ich rufe alle Kreise auf, sich mit dieser Frage zu beschäftigen.“
Abdullah Öcalan, 18. Juni 2019