Man kann mein persönliches und politisches Leben in drei Abschnitte einteilen. Der erste Abschnitt begann mit meiner Mutter und damit, dass ich mir den Anspruch stellte, meinen Platz in der Gesellschaft selbst zu definieren, mit den ersten ablehnenden Reaktionen auf Familie und Dorf und dann mit meiner Einschulung in die Grundschule. Die Grundschule war der erste Schritt hin zu einem Interesse am Staat. Meine Persönlichkeit machte einen Schritt weg von der kommunalen Gesellschaft und hin zu etatistischen Gesellschaft.
Damit ging eine Urbanisierung einher. Die Werte der Stadt galten gegenüber den ländlich-kommunalen Werten als überlegen. Mittelschule, Gymnasium, Beamtenzeit und Studium an der Universität bis zum letzten Studienjahr waren Vorbereitungsschritte für eine Karriere beim Staat. In diesem Alter ist bei jedem die Mentalität der Stadt und des Staates klar beherrschend. Die Situation, einer unterdrückten Nation anzugehören und in Unterentwicklung gehalten zu werden, verwandelt sich in Ablehnung des Staates. Sympathisantentum für die Linke bedeutet eigentlich nichts anderes als die Suche nach einem Staat, der mehr für Gerechtigkeit, Gleichheit und Entwicklung sorgt. Meine Persönlichkeitsentwicklung wurde in diesem Abschnitt von ihrer Verbindung zur traditionellen Gesellschaft größtenteils abgeschnitten. Die mütterliche kommunale, ländliche und familiäre Gesellschaft wurde größtenteils verleugnet. Statt dessen hatte sich eine marginale Persönlichkeit gebildet, die ihre eigene Vergangenheit verleugnete, geringschätzte, die Größe des Staates und der Stadt anbetete und blind auf die offizielle Ordnung zulief. Das Selbstbewusstsein wurde auf ziemlich tragische Weise massakriert.
Der zweite Abschnitt
Der zweite Abschnitt begann mit dem Versuch, sich nun von der bürgerlichen Gesellschaft und vom Staat zu lösen und eine unabhängige ideologische Gruppe aufzubauen, die das Ziel hatte, ein eigenes modernes, gesellschaftliches und politisches System aufzubauen. Während die erste Sozialisation durch religiöse Gebete mit den anderen Kindern und dem gemeinsamen Gehen zur Grundschule begann, erfolgte die zweite Sozialisation mit den Studenten auf einer linken und nationalen ideologischen Grundlage. Zwar gab es Bemühungen, gegen die Werte, die der Kapitalismus verbreitet, und den Chauvinismus der herrschenden Nation die eigene Gesellschaft von Neuem zu suchen. Doch erreichten Bemühungen keineswegs ihr Ziel, da die vorhandenen linken und nationalen Strömungen nicht die Kraft hatten, die Normen des kapitalistischen Lebens zu überwinden. In diesem Abschnitt, den wir auch als erste Stufe der PKK-Werdung bezeichnen können, wurde ich in der stürmischen Welt der siebziger Jahre eigentlich wie ein Blatt im Wind hin- und her geweht. Ich hatte mich von der traditionellen Welt gelöst und mich auch nicht mit den Werten des Kapitalismus vereinigt. Es war ein typischer Prozess der Sektenbildung und Marginalisierung. Es gab unzählige Gruppen, die in ähnlicher Weise gegründet wurden und schnell wieder verschwanden. Es begann ein Kampf gegen den Staat, der dem Kampf einer Ameise gegen einen Elefanten glich. Unsere Theorie und unsere Praxis waren eigentlich ein Versuch, unsere Gesellschaft und unser Land von Neuem zu entdecken. Eigentlich folgten wir einer linken Mode, wie es sie überall auf der Welt gab.
Bevölkerung zu Besuch im PKK-Camp, Bekaa-Ebene / Libanon © Serxwebûn/ANF
Wir hatten eine eigene, für uns spezifische Idee. Mit ihr säten wir sozusagen etwas Neues in der alten Gesellschaft und hofften, dass es aufblühen werde. Die Gruppe entwickelte sich, wurde größer. Wir fingen an, uns für etwas Besonderes zu halten. Die Wahrscheinlichkeit war groß, dass die Saat aufgehen würde. Als ich das Land verließ wie eine Raupe, die aus ihrem Kokon schlüpft, hatte eine Phase des Selbstvertrauens und des jugendlichen Draufgängertums begonnen. Es bestand Hoffnung, dass die Utopie Wirklichkeit wird. Als die Unterstützung der Bevölkerung für unsere Gruppe sich zu einer Massenbewegung entwickelte, wurde dieses Selbstvertrauen noch weiter gestärkt. Wir hatten die Kraft der Waffen kennen gelernt. Der Gipfel war erreicht, als eine ausgebildete und bewaffnete Guerillagruppe der zeitgenössischen Nationalbewegung ins Land aufbrach. Nun war die Zeit für einen neuen historischen Aufbruch gekommen.
Diesen ersten Teil eines Abschnitts meines Lebens, der die Jahre 1972-1984 umfasst, kann man unter verschiedenen Gesichtspunkten bewerten. Man könnte auch sagen, dass das mittellose kurdische Volk aufwachte und in der Gegenwart ankam. Es ließe sich auch als erster Aufstand, als der erste Schuss, abgefeuert gegen das blinde Schicksal bezeichnen, oder es als den Aufschrei der Ehre und der Würde interpretieren. Außerdem mögliche Interpretationen: erste erfolgreiche Aktion von David gegen Goliath; die ersten Schritte, Mut zur Meinungsfreiheit zu haben. Vielleicht ist es auch der Bruch mit den seit Jahrtausenden verwurzelten Normen der Sklaverei. Alles in allem war es eine sinnvolle Zeit, geradezu eine zweite Geburt, mit der Erarbeitung eines neuen Paradigmas, für deren Erfolg etwas Glück, etwas Arbeit und etwas Überzeugung nötig waren.
Bevölkerung zu Besuch im PKK-Camp, Bekaa-Ebene / Libanon © Serxwebûn/ANF
Der zweite Teil des zweiten Abschnitts meines Lebens umfasst die Jahre vom 15. August 1984 bis zum 15. Februar 1999. Dieser fünfzehnjährige Zeitraum war eine überaus intensive Phase, die unter dem Zeichen des bewaffnete Kampf als zweitem Vorstoß der PKK stand. In der mittelöstlichen Geschichte könnte man Vergleiche mit den Gruppen von Babak, den Charidschiten, den Qaramitah oder der von Hassan Sabah anstellen. Während im ersten Abschnitt eher ein jesusartiges Predigen überwog, erinnert der zweite Abschnitt mit Exodus und bewaffneter Rückkehr eher an eine Mischung aus Moses und Mohammed. Die Aufgabe, eine Gruppe von Exilierten, die kaum etwas zustande bringt, „ins Gelobte Land zu führen“, erfordert große Anstrengungen und Fähigkeiten. Während die Wanderung die Assoziation an Moses hervorruft, erinnern die kriegerischen Aktionen an diejenigen Mohammeds in Medina. Es herrschte eine ähnliche spirituelle Atmosphäre von Glauben und Überzeugung. Die Art, sich der eigenen Überzeugung zu widmen, war ganz die von Gläubigen. Wir praktizierten den wissenschaftlichen Sozialismus wie eine Religion.
Der Krieg galt ganz als heilige Handlung. Der Mensch, das Individuum wurden langsam zu nichts, das Ziel zu allem. Es war sehr schwer, zu bemerken, dass ich von einer historisch typischen Krankheit der Macht befallen worden war. Das am meisten typische Kennzeichen: alles opfern, im Glauben, dass die Aktion das Allerheiligste ist. Man hätte sagen müssen: Das Leben ist der heiligste Wert. Stattdessen kam eine geradezu fanatische Persönlichkeit zum Vorschein, die im Gegenteil glaubte, das Ziel sei alles, das Leben nichts. Mein zweiter Lebensabschnitt ist widersprüchlich, weil er den Staat zum Mittelpunkt hat, gleichzeitig aber die Qualitäten der kommunalen, demokratischen Haltung noch nicht verloren hat. Für das Ergebnis sollte das Ringen dieser beiden Widersprüche entscheidend sein. Der 15. Februar versetzte gleichzeitig dem Streben nach einem Staat den Todesstoß. Wenn die Ausrichtung einer Partei auf den Staat, wenn also der Etatismus eine Krankheit ist, dann war der Schlag, den mir alle Staaten der kapitalistischen Welt am 15. Februar 1999 versetzten, eine Medizin, eine Art Geburtshilfe für einen Neuanfang.
Veranstaltung in der Bekaa-Ebene © Serxwebûn/ANF
Der dritte Abschnitt
Als dritten Abschnitt meines Lebens, wenn man das überhaupt noch als Leben bezeichnen will, kann man die Etappe bezeichnen, die vom 15. Februar 1999 bis zum möglichen Lebensende reicht. Das herausragende Merkmal ist, dass an seinem Beginn der Bruch mit dem staatsfixierten Leben im Allgemeinen und dem modernen kapitalistischen Leben im Besonderen steht. Der Bruch mit der Zivilisation und der Fixierung auf den Staat ist kein Rückschritt. Im Gegenteil bedeuten das Ende der Vernachlässigung und Zerstörung der Natur und der Verzicht auf eine aufgeblasene Machtpersönlichkeit, die sich auf Blut und Lügen stützt, eher die Möglichkeit, ganz grundlegend zu gesunden. Es geht um die Hinwendung von einer kranken Gesellschaft zu einer gesunden Gesellschaft. Und um die Abkehr von einer in die Ecke gedrängten, verfetteten, von der Natur völlig entfremdeten, in gewisser Weise von Krebsgeschwüren durchsetzten, absurd verstädterten Gesellschaft, hin zu einer ökologischen Gesellschaft. Von einer Gesellschaft mit einem durch und durch autoritären und totalitären Staat hin zu einer kommunalen-demokratischen, freien und egalitären Gesellschaft.
Nach Öcalans Jugendfreund Hasan Birdal (Hamza) benannte Bildungsakademie, Bekaa-Ebene / Libanon © Serxwebûn/ANF
Attraktiv finde ich ethisch-politische Menschen, die Freundschaft mit Tieren pflegen, in Eintracht mit der Natur leben, auf einem Gleichgewicht der Geschlechter aufbauen, in Freiheit, Gleichheit und Liebe leben und die Kraft der Wissenschaft und der Technik davor bewahren, Spielzeug für Krieger und Mächtige zu sein. Ich rede definitiv nicht von einer Sehnsucht, die durch die Haft in einem Ein-Personen-Gefängnis hervorgerufen wird! Ich rede von einem geistig-seelischen Paradigma.
Ich glaube, dass der wahre Fortschritt nichts mit riesigen Städten und Machtautoritäten zu tun hat, sondern dass diese im Gegenteil die größte Quelle von Krankheit sind. Ich glaube vielmehr, dass das Leben an einem Ort, der das alte Dorf ebenso überwindet wie die neue Stadt und ökologisches Siedeln mit den neuesten Erkenntnissen von Wissenschaft und Technik verbindet, die wahre Revolution darstellt. Ich glaube, dass die riesigen Bauten der Zivilisation das Grab der Menschlichkeit sind. Wenn es einen Weg in die Zukunft gibt, so glaube ich daran, dass er sinnvoll und wert ist, gegangen zu werden.
Der Text ist aus dem persönlichen Fazit Abdullah Öcalans entnommen, das im 2013 ins Deutsche übersetzten Buch „Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“ erschien.
Nächster Teil: Öcalans Zeit im Mittleren Osten