Das Imrali-Regime und Öcalan

Nach der Verschleppung Abdullah Öcalans in die Türkei gingen junge Frauen und Männer reihenweise in die Berge, bei der Guerilla entstand die „Generation 15. Februar“. Auf der Gefängnisinsel Imrali wurde unterdessen ein Sonderregime installiert.

Das kurdische Volk wachte am Morgen des 16. Februar mit großer Wut auf. Kurdinnen und Kurden verfolgten auf den Bildschirmen, wie Abdullah Öcalan, der Architekt der Revolution Kurdistans, unter Missachtung der Gesetze und der ethischen Werte der Menschheit aus Kenia verschleppt und dem türkischen Staat ausgeliefert wurde. Sie strömten auf die Straßen und Plätze. Außerhalb von Kurdistan fanden Aktionen des zivilen Ungehorsams vor den Vertretungen der am Komplott beteiligten Mächte statt. Als die ersten kritischen 48 Stunden nach dem 15. Februar vorbei waren, veröffentlichte der Präsidialrat der PKK eine Erklärung. Diese ging als erste Erklärung des Rates, der während der Gefangenschaft Abdullah Öcalans jahrelang die Last der Revolution und des Kampfes schultern sollte, in die Geschichte ein:

„Die Botschaft unserer Partei und unseres Volkes ist eindeutig: Eine PKK ohne Apo und eine Lösung der kurdischen Frage ohne die PKK wird es niemals und unter keinen Umständen geben. Die PKK, die mit ihr verbundenen Organisationen und unser patriotisches Volk haben nur einen Sprecher und einen Politiker, und für eine politische Lösung der kurdischen Frage gibt es nur einen Ansprechpartner: Den Vorsitzenden Apo. Unsere gesamte Organisation und unser Volk sind unter dieser Führung Fedai. Wer Beziehungen zu unserer Partei und unserem Volk aufnehmen will, muss das über Serok Apo tun. Wer die kurdische Frage lösen will, muss eine Lösung mit Serok Apo suchen. Es gibt keine andere Lösung und keinen anderen Ansprechpartner, danach zu suchen, wäre umsonst. Alle Angehörigen unserer Partei, unserer Armee und unserer Front und jeder patriotische kurdische Mensch sind dieser Realität bis zum letzten verbunden. Und bis eine solche Lösung umgesetzt wird, werden sie ausschließlich als Fedai leben und ihre entsprechenden Aufgaben erfüllen.“

Aufruf vom sechsten PKK-Kongress

Anfang 1999, als Abdullah Öcalans Handlungsspielräume immer enger und die letzten Etappen des Komplotts vorbereitet wurden und er schließlich als Gefangener an den türkischen Staat ausgeliefert wurde, fand in den kurdischen Bergen der sechste PKK-Kongress statt. Öcalan wurde einstimmig als Generalvorsitzender bestätigt. Die Kongressergebnisse wurden am 5. März 1999 unter der Überschrift „Siegeskongress als Antwort auf das internationale Komplott“ veröffentlicht. In der Erklärung wurde das kurdische Volk, das die brisantesten Tage seiner jüngeren Geschichte erlebte, zur Ausweitung des Serhildan und des Widerstands aufgerufen:

„Das Komplott vom 9. Oktober 1998, das der Imperialismus der USA, der Zionismus Israels und der türkische Faschismus mit allen ihren internationalen Kräften und unter Benutzung des kurdischen Verrats durchgeführt haben, ist ohne Berücksichtigung internationaler Rechtsnormen, ethischer Standards und menschlicher Maßstäbe fortgesetzt worden und hat trotz der großen Voraussicht und des entschlossenen Kampfes unseres Parteivorsitzenden am 15. Februar 1999 mit einer Piratenaktion eine neue Etappe erreicht. Dass der ausgesprochen maßvollen Kampflinie unseres Parteivorsitzenden und seinen Bemühungen um eine politische Lösung der kurdischen Frage mit einer niederträchtigen Methode begegnet worden ist, legt als ein tiefgründiges Ereignis der Geschichte offen die Realität des Feindes und der Welt in Bezug auf die Rechte des kurdischen Volkes sowie die Intriganz der USA und die Heuchelei Europas dar.

Wir rufen unser Volk in Nordkurdistan und allen Großstädten der Türkei dazu auf, sich zu erheben und auf jede Weise zu kämpfen, um das System der Republik Türkei zum Einsturz zu bringen. Das Volk in den anderen Gegenden Kurdistans und im Ausland rufen wir dazu auf, ihre gesellschaftlichen Aktivitäten zu einem Dauerzustand zu machen und Serok Apo und den Kampf in Nordkurdistan zu unterstützen. Die mutige kurdische Jugend rufen wir auf, überall in diesem Kampf Aufgaben zu übernehmen und sich der Guerillaarmee anzuschließen.“

Sondergesetze und Verbote auf Imrali

Auf den Aufruf folgte innerhalb kurzer Zeit eine Entgegnung aus allen Bevölkerungsteilen Kurdistans. Junge Frauen und Männer gingen reihenweise in die Berge, bei der Guerilla entstand die „Generation 15. Februar“. Während die PKK eine kritische Kongressphase durchmachte, erfand der türkische Staat Sondergesetze für Imrali. Einen Tag nach der Überführung Öcalans nach Imrali erließ der türkische Ministerrat ein Gesetz, mit dem Boden, Wasser und Luftraum der Insel zum militärischen Sperrgebiet erklärt wurden. Danach verstieß das Regime in Ankara gegen die eigene Verfassung und Gesetzgebung, indem dem Justizministerium die Vollmacht über das Gefängnis Imrali entzogen und die Zuständigkeit im Namen des Krisenstabs an das Krisenkontaktbüro in Mudanya übergeben wurde.

Alle Fahrten von und zu der Insel wurden über das Krisenkontaktbüro abgewickelt. Die Leitung des Imrali-Gefängnisses wurde dem Krisenleitungszentrum des Ministerpräsidentenamtes übergeben. Laut Satzung fällt dieses Krisenleitungszentrum in die Zuständigkeit des Nationalen Sicherheitsrats der Türkei, dessen Generalsekretariat für die dauerhafte Aktivität des Zentrums und den Informationsfluss an die Einheiten innerhalb des Systems verantwortlich ist.

Bis 2004 wurden Militärs in das Generalsekretariat des Nationalen Sicherheitsrats berufen. Diese waren für die Leitung oder Koordinierung des Krisenleitungszentrums zuständig und wurden somit auch zu den Verantwortlichen für Imrali. Alle Entscheidungskompetenzen wurden dem Militär übergeben, gleichzeitig wurde die Insel entsprechend des Status eines „Ein-Personen-Gefängnis“ von allen zivilen Elementen bereinigt. Der Insel und ihrer Umgebung wurde ein Sonderstatus mit gesonderten Sicherheitsmaßnahmen auferlegt. Auch heute noch ist ein Umkreis von fünf Meilen im Meer und im Luftraum militärisches Sperrgebiet.

Der Kontrolle der Justiz entzogen

Die Insel Imrali und das Gefängnis fallen seit dem 16. Februar 1999 unter die Maßnahmen eines „Krisenzustands“, der nur in Ausnahmesituationen wie Naturkatastrophen, Krieg oder Erdbeben regional begrenzt und zeitlich befristet ausgerufen werden kann. Dieser „Krisenzustand“ sollte jedoch lange Jahre andauern. Nach türkischer Gesetzgebung hätte das Generalsekretariat des Nationalen Sicherheitsrat lediglich beratend tätig sein können. Tatsächlich wurde es mit der Übernahme der Leitung und Koordinierung des Krisenzentrums im Ministerpräsidentenamt zu einer exekutiven Einheit, die mit außergewöhnlichen Kompetenzen ausgestattet wurde. Ihr Vorgehen und ihre Beschlüsse wurden der Kontrolle der Justiz entzogen. Diese Institution war autorisiert, Entscheidungen über Abdullah Öcalan und Imrali zu treffen und sämtliche Aufgaben zu übernehmen, trug jedoch im juristischen Sinne keinerlei Verantwortung.

Für die Leitung und auch das Personal der Haftanstalt Imrali, die den Gesetzen zufolge in die Zuständigkeit des Justizministeriums fallen, war in der Praxis das Präsidium des türkischen Generalstabs zuständig. Laut Artikel 15, Satz 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention hätte die Anwendung des nicht mit der Konvention übereinstimmenden Regimes auf Imrali dem Generalsekretariat des Europarats mitgeteilt werden müssen. Der türkische Staat hat jedoch bis heute eine solche Mitteilung unterlassen.

Die Bemühungen Öcalans und die Unterstützung der PKK-Führung

Öcalan war seit Betreten der Insel der Folter und Isolation eines auf ihn zugeschnittenen und weltweit kaum vergleichbaren Systems ausgesetzt. Ihm war bewusst, dass das eigentliche Komplott gerade erst begonnen hatte. Dieses Komplott bezeichnete er als das „sich gegenseitige Erwürgen der Völker“. Er erkannte die Gefahr und legte den Verantwortlichen des türkischen Staates ein Modell zur Lösung des Problems vor. Dieses Modell nannte er „Demokratische Republik“. Es sah die Anerkennung demokratischer Rechte, eine kulturelle Öffnung, ein Gesetz zur gesellschaftlichen Partizipation und ein Ende des Krieges vor.

Öcalan drängte auf den Beginn eines Friedens- und Dialogprozesses und forderte gleichzeitig Freiheiten für das kurdische Volk und einen Weg zum Zusammenleben. In jenen Tag kam eine weitere Erklärung vom Präsidialrat der PKK: „Jede Erklärung und alles, was der Parteivorsitzende in direkter Beziehung mit dem Volk und der Partei sagt, ist für ein Befehl. Solange es eine direkte Beziehung des Parteivorsitzenden mit unserer Partei und unserem Volk gibt, werden seine Analysen und Befehle befolgt. Wenn die Beziehungen des Parteivorsitzenden mit der Partei und dem Volk abbrechen, verpflichtet kein Wort, das im Namen von Serok Apo gesagt wird, uns und unseren Vorsitzenden. Wir werden diese Situation nicht akzeptieren.“

Aufgeheizte Atmosphäre

Dass sich das kurdische Volk und die Befreiungsbewegung geschlossen hinter Öcalan stellten, verdarb den Organisatoren des Komplotts das Spiel. In der Zwischenzeit hatten sich Dutzende Anwältinnen und Anwälte aus der Türkei und Nordkurdistan für die Verteidigung von Öcalan bereit erklärt. Die Familienangehörigen Öcalans wählten 16 Anwältinnen und Anwälte aus, die am 22. Februar 1999 beim Staatssicherheitsgericht eine Besuchserlaubnis beantragten. Der Widerstand im In- und Ausland zeigte erste Ergebnisse. Der türkische Staat genehmigte am 25. Februar einen ersten Anwaltsbesuch auf der Insel. In der faschistisch aufgeheizten Atmosphäre wurden die Anwälte auf dem Weg nach Imrali in Mudanya von einem rassistischen Mob angegriffen.

Das Verteidigerteam, das begleitet von Angriffen zur Insel fuhr, informierte die Weltöffentlichkeit nach der Rückkehr über Öcalans neue Strategie und seine Friedensbotschaft. Gleichzeitig fanden vor allem in den Großstädten der Türkei teilweise gewaltsame Proteste statt, die kein Ende fanden. Am 13. März 1999 kamen 13 Menschen bei einem Feuer im Blauen Basar in Istanbul-Kadiköy ums Leben, als eine Gruppe dort protestierte. Abdullah Öcalan traf seine Anwälte erneut am 17. März 1999 und forderte ein Ende der Gewaltaktionen.

Beginnende Gesundheitsprobleme

Bis zu seiner Gefangennahme hatte Öcalan keine Gesundheitsprobleme außer Sinusitis. Durch die schlechten Haftbedingungen kamen verschiedene Beschwerden wie Halsentzündungen, allergische Rhinitis und beginnendes Asthma hinzu. Imrali war als „Tod auf Raten“ für Öcalan entworfen worden. Diese Rechnung ging jedoch nicht auf. Das kurdische Volk kämpft seit jenen finsteren Wintermonaten im Jahr 1999 bis heute für die Freiheit und Gesundheit Abdullah Öcalans.

Das Ziel war die Vernichtung

In seinen Verteidigungsschriften bezeichnete Öcalan Imrali als „Sarg“ und sagte: „Eigentlich war alles auf meinen Tod ausgerichtet. Das Ziel war vor allem meine physische Vernichtung, und wenn nicht das, zumindest das Verschwinden meiner Bedeutung. Obwohl ich viel darüber nachgedacht habe, kann ich mir kein anderes Ziel vorstellen.“

Selbst nach den Wertvorstellungen enger Freunde und Weggefährten sei von ihm nur noch ein „ehrenvoller Tod“ erwartet worden, schreibt Öcalan: „Das war die Logik von Freund und Feind. Es war ein Punkt, an dem Gefühle und Glauben erstarrten. Alles verurteilte zu einer schrecklichen Einsamkeit.“ Obwohl laut Kriegsregeln die Hinrichtung durch Erschießen nicht abwegig war, sei ihm dieses Recht nicht zugestanden worden: „Die Zivilisation wollte auf andere Weise Rache üben. Ich habe niemals den Helden gespielt. Ich hatte nicht den Mut, der bei mir angenommen wurde, und obwohl ich als der gesehen werden wollte, der ich war, wusste ich, dass ich das selbst bei meinen engsten Freunden nicht erlebt habe. Aber es gab eine Sache, an der ich keinen Verrat üben sollte: Ich würde weiterhin das Kind sein, das seine Träume nicht verrät.“

Nächster Teil: Der Schauprozess und der Aufruf vom 2. August