Der Präsident des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), Róbert Ragnar Spanó, hält sich aktuell in der Türkei auf. Am Donnerstag hielt er vor angehenden Richtern und Staatsanwälten in der „Gerechtigkeitsakademie“ in Ankara eine Rede über Menschenrechte, heute soll er einen Ehrendoktor der Universität Istanbul entgegennehmen.
Bereits die Ankündigung, dass sich Spanó als EGMR-Präsident mit dem juristischen Doktortitel eines Landes ehren lasse, in dem keine Rechtsstaatlichkeit herrsche, sorgte angesichts der desaströsen Menschenrechtslage in der Türkei für scharfe Proteste. Insbesondere bei der Opposition kamen hinsichtlich der geplanten Ehrendoktorwürde Irritationen und Unverständnis auf. Das in Istanbul ansässige Rechtsbüro Asrin, das den PKK-Gründer Abdullah Öcalan seit seiner völkerrechtswidrigen Verschleppung aus Kenia in die Türkei im Februar 1999 juristisch vertritt, nahm die Kontroverse um die Auszeichnung Spanós zum Anlass, den isländischen Richter über einige grundlegende Fragen zu informieren.
Asrin weist schon länger darauf hin, dass es sich bei der Gefängnisinsel Imrali, wo Öcalan seit nunmehr über 21 Jahren isoliert wird, um einen rechtsfreien Raum handelt, in dem Willkür herrscht. Die dort jenseits der Grenzen des geltenden Rechts angewandten ‚Gesetze‘ würden in einen juristischen Rahmen eingebettet und hätten so als Maßnahmen mit normativem Charakter unmittelbare Auswirkungen auf alle Bereiche des Lebens. Faktisch bedeute das, dass rechtswidrige Maßnahmen ohne legale Grundlage zunächst auf Imrali eingeführt und erprobt werden, bevor sie sich dauerhaft auf die gesamte Gesellschaft auswirken. Darauf machte auch Abdullah Öcalan in seinen Eingaben an den EGMR mehrfach aufmerksam.
Imrali: Ein Proto-Guantanamo-Experiment
„Das Inselgefängnis Imrali gleicht einem Proto-Guantanamo-Experiment. Dieses System wurde auf Grundlage eines Sonderstatus umgesetzt, in dessen Rahmen das Gesetz und grundlegende Menschenrechtsprinzipien keine Gültigkeit haben. Imrali war auch Schauplatz des oberflächlich geführten Prozesses gegen Öcalan, der nur vier Monate dauerte und mit der Verhängung des Todesurteils endete“, so das Rechtsbüro Asrin in einer am Freitag veröffentlichten Stellungnahme. Die Verteidiger*innen des kurdischen Vordenkers erinnern daran, dass der EGMR das Verfahren der Türkei gegen Abdullah Öcalan zwar als unfair rügte, die türkische Justiz dem heute 72-Jährigen dennoch das Recht auf ein faires Verfahren verweigerte. Die spätere Aufhebung des Todesurteils und formelle Umwandlung in eine lebenslange Haftstrafe käme einem juristischen Trick gleich, die Forderungen des Straßburger Menschengerichtshofes zu umgehen. Dies sei nicht nur dem EGMR, sondern auch allen anderen internationalen Organisation im völkerrechtlichen Sinne bekannt, aber man ziehe es vor, die Augen zu verschließen.
Passive Haltung des EGMR ermöglicht diskriminierendes Vorgehen
2014 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Entscheidung im Fall Abdullah Öcalan gefällt und die erschwerte lebenslange Haft für unvereinbar mit der Europäischen Menschenrechtskonvention erklärt. Inzwischen sind sechs Jahre seit diesem Urteil vergangen. Obwohl die Türkei nach Artikel 90 der Verfassung verpflichtet ist, internationales Recht umzusetzen, hat sich an der Lage Öcalans nicht geändert. „Die passive Haltung des EGMR und des Ministerkomitees des Europarates bei der Umsetzung des Beschlusses hat im türkischen Strafvollzugsregime diskriminierende Vorgehensweisen ermöglicht, welche die Situation der politischen Gefangenen weiter verschlechtert hat. Während Menschen, die einzig ihrer Gedanken wegen verurteilt wurden, auch unter den Bedingungen einer Pandemie weiterhin in Haft verbleiben müssen, wurden Häftlinge, die Verbrechen gegen die Gesellschaft begangen haben, freigelassen“, kritisiert Asrin.
Öcalan werde aber nicht nur ein verschärftes Haftregime auf Imrali auferlegt, führt die Kanzlei weiter aus. „Darüber hinaus wurde eine Praxis der absoluten Isolation entwickelt und umgesetzt, die das Antifolterkomitee des Europarats (CPT) als ‚Strafe innerhalb der Strafe‘ bezeichnet. Ab 2011 wurde Öcalan fast acht Jahre jeglicher Rechtsbeistand verwehrt. Erst durch einen monatelangen Hungerstreik, an dem sich tausende Menschen beteiligten und der sogar mehrere Todesopfer forderte, konnte die Totalisolation Abdullah Öcalans 2019 kurzzeitig durchbrochen werden. Über einen Antrag, den wir 2011 beim EGMR einreichten, um der Isolation auf Imrali ein Ende zu bereiten, ist nocht immer nicht entschieden worden.“
Imrali-System richtet sich gegen Werte, für die Öcalan steht
Asrin unterstreicht, dass das Imrali-System nicht als Praxis verstanden werden dürfe, die sich gegen eine einzelne Person oder ein Gefängnis richtet, sondern als ein Angriff auf die politischen und gesellschaftlichen Werte interpretiert werden muss, die von Öcalan vertreten werden. „Leider sucht die Türkei nach Schlupflöchern im Zusammenhang mit dem Völkerrecht und der Politik, die es ihr ermöglichen, diese Praxis fortzusetzen. Verantwortlich dafür ist aber auch das europäische Menschenrechtssystem, da die Türkei an die Zusatzprotokolle der Europäischen Menschenrechtskonvention gebunden ist. Wie in Guantanamo, das ein ‚schwarzes Loch‘ im Sinne der universellen Menschenrechtsgesetzgebung ist, so wird auch Imrali mit seinem gesetzlosen und willkürlichen Charakter mit jedem Tag, der vergeht, zu einem schwarzen Loch für das europäische Rechtssystem. Die Europäische Menschenrechtskonvention und der EGMR wurden gegründet, um genau diese Art von Vorkommnissen zu kontrollieren und zu verhindern.
Spanó soll Menschenrechtsverletzungen zur Sprache bringen
In dieser Hinsicht betrachten wir den Besuch des EGMR-Präsidenten als eine wichtige Gelegenheit für ihn, seine kritische Haltung zum Imrali-Isolationssystem und zu anderen Verletzungen in der Türkei in persönlichen Gesprächen zum Ausdruck zu bringen. Wir möchten jedoch auch daran erinnern, dass eine entgegengesetzte Haltung, unabhängig von der Absicht, die dahinter steht, die türkische Regierung weiter ermutigen wird, Praktiken zu verfolgen, die gegen die Menschenrechte verstoßen.“