Der Präsident des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), Róbert Ragnar Spanó, wird diese Woche zu einem Besuch in der Türkei erwartet. Insbesondere die Ankündigung, dass er die Ehrendoktorwürde der Universität Istanbul anzunehmen erwägt, hat zu scharfen Protesten geführt.
Spanó ist ein isländischer Richter, der seit 2013 im Dienst des EGMR steht und im Mai zum Präsidenten des Gerichtshofs gewählt wurde. Sein Türkei-Besuch ist Teil seiner Antrittsreise in die Mitgliedsländer des Europarats. In der Vergangenheit war Spanó Präsident der zweiten Sektion des EGMR, die sich mit Fällen aus der Türkei befasste.
Laut einer Presseerklärung des türkischen Justizministeriums wird Spanó auch die Antrittsvorlesung der türkischen Justizakademie halten, in der neu ernannte Richter und Staatsanwälte ausgebildet werden. Insbesondere die geplante Verleihung der Ehrendoktorwürde an Spanó rief scharfe Kritik in Akademikerkreisen wie auch der Opposition in der Türkei hervor. Die Annahme eines Ehrentitels von einer öffentlichen Universität, die effektiv von der türkischen Regierung kontrolliert wird, drohe mit der Haltung und den Prinzipien des Gerichtshofs in Konflikt zu geraten. Auch die Universität Istanbul ist für die politische Entlassung und Verfolgung Hunderter Akademiker*innen verantwortlich.
„Ehrendoktortitel des Regimes und EGMR-Präsidentschaft passen nicht zusammen“
Die Vizefraktionsvorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Meral Danış-Beştaş, erklärte, der Besuch möge ein Höflichkeitsbesuch sein, der EGMR-Präsident müsse jedoch den Ehrendoktortitel ablehnen, denn dieser stehe nicht im Einklang mit der EGMR-Präsidentschaft: „Bei Ihnen liegen sehr ernste Anklagen gegen die Türkei vor. Es geht um die Verletzung des Rechts auf Leben, auf einen fairen Prozess, die Aufhebung der Immunität von Abgeordneten und Folter. Solange Sie Präsident eines internationalen Gerichts sind, das in diesen Fällen eine Entscheidung trifft, können Sie keinen Ehrendoktortitel der Universität Istanbul innehaben.“
„Wir können nicht auf die Fairness des EGMR vertrauen“
Meral Danış-Beştaş, die selbst Juristin ist, führte aus, dass dieses Vorgehen die Neutralität des Gerichts unterminiere. In diesem Rahmen kommentierte sie auch die Ablehnung des Antrags des seit 214 Tagen für ein gerechtes Verfahren hungerstreikenden Rechtsanwalts Aytaç Ünsal durch den EGMR am Mittwoch und sagte: „Wie sollen wir Ihre Urteile respektieren? Wenn der Präsident des EGMR, der gestern den Antrag von Aytaç Ünsal ablehnte, die Ehrendoktorwürde erhält, wie können wir dann darauf vertrauen, dass er in anderen Fällen ein faires Urteil fällen wird?“
Beştaş weiter: „Die Universität Istanbul ist eine Universität, die Hunderte von Akademikern entlassen hat. Dieselbe Universität verlieh zuvor Kenan Evren [Anführer des Militärputsches von 1980 und ehemaliger Präsident] die Ehrendoktorwürde, was muss noch gesagt werden? Es ist eine Frage der Zeit, bis die Frage der Entlassung [von Akademikern] an den EGMR weitergeleitet wird.“
Danış-Beştaş merkte auch an, dass Selahattin Demirtaş, der ehemalige Ko-Vorsitzende der HDP, der seit knapp vier Jahren inhaftiert ist, trotz der Urteile des EGMR nicht aus der Haft entlassen und die Türkei nicht dafür bestraft wurde, dass sie diese Urteile nicht vollstreckt hat.
„EGMR reagiert nur träge auf Menschenrechtsverletzungen in der Türkei"
Auch der Ko-Vorsitzende der HDP und habilitierte Jurist Mithat Sancar wandte sich in einem offenen Brief an Spanó. Er drückte seine Hoffnung aus, dass der EGMR sich an die Seite der Menschenrechte stelle und nicht auf die des Regimes und wies auf die massive Verschlechterung der Menschenrechtslage in der Türkei und Nordkurdistan und die vielen Berichte europäischer Beobachter*innen, darunter auch des Antifolterkomitees des Europarats, hin, die vor schweren Menschenrechtsverletzungen durch das AKP/MHP-Regime warnen. Er kritisierte die „träge“ Reaktion des EGMR auf diese Verbrechen und erklärte, dass bereits in vielen EGMR-Urteilen die Türkei als ein Staat mit massiven Problemen mit der Rechtstaatlichkeit kritisiert worden sei. Insbesondere in Fällen wie dem des ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş, dessen Inhaftierung trotz anderslautender EGMR-Entscheidung fortgesetzt werde, zeige sich das Unrecht, das in der Türkei herrscht, ganz deutlich. Sancar appellierte an den EGMR-Präsidenten, sich angesichts der Menschenrechtsverletzungen und der systematischen Rechtsbeugung in der Türkei und Nordkurdistan die Annahme der Ehrendoktorwürde noch einmal zu überlegen.
Mehmet Altan: „Befangenheit des EGMR droht“
Der Ökonom Mehmet Altan ist einer der vielen, die vom AKP/MHP-Regime als angebliche Unterstützer des in Ungnade gefallenen Steigbügelhalters Erdoğans, Fethullah Gülen, inhaftiert worden sind. Ahmet Altan und sein Bruder Mehmet Altan nahmen am 14. Juli – dem Vorabend des Putschversuchs – an einer Live-Fernsehsendung mit der Moderatorin Nazlı Ilıcak teil. Während der Sendung diskutierten sie auch über türkische Politik. Anschließend wurden alle drei unter dem Vorwurf festgenommen, in der Sendung „unterschwellige Botschaften“ über den bevorstehenden Putsch verbreitet zu haben. Nazlı Ilıcak kam Ende Juli, Ahmet und Mehmet Altan im September 2016 in Untersuchungshaft. Ahmet Altan, Mehmet Altan, Nazlı Ilıcak und drei weitere Angeklagte wurden dann im Februar 2018 wegen des Vorwurfs, „die verfassungsmäßige Ordnung umstürzen zu wollen“, zu einer lebenslangen Haftstrafe ohne die Möglichkeit einer Bewährung verurteilt. Als das Oberste Berufungsgericht die Schuldsprüche im Juli 2019 aufhob, wurde ein neues Verfahren gegen fünf der Angeklagten eingeleitet. Mehmet Altan wurde schließlich freigesprochen. Er appellierte an Spanó, den Titel nicht anzunehmen, und wies auf die drohende Befangenheit des EGMR hin.
„Verfassungsgericht ist keine Quelle wirksamer Rechtsmittel"
Der EGMR ist zunehmend in die Kritik geraten, weil er Fälle aus der Türkei, die nach dem Putschversuch vom Juli 2016 eingereicht wurden, nicht behandelt hat. In einer kürzlich abgegebenen Erklärung hatte Filipe Marques, Präsident von MEDEL, einer NGO von Richtern und Staatsanwaltsverbänden aus ganz Europa, gesagt, der EGMR solle „aufhören, das türkische Verfassungsgericht als eine Quelle wirksamer Rechtsmittel zu betrachten“.
Marques zufolge muss der EGMR den Erlass einstweiliger Maßnahmen als eine Frage seiner eigenen Glaubwürdigkeit betrachten. „Vier Jahre später warten wir immer noch auf Entscheidungen des [EGMR]. Ich denke, der [EGMR] muss sich dieser Frage ernsthaft stellen und sie als eine Frage seiner eigenen Glaubwürdigkeit betrachten. Der Ruf, den er sich im Laufe der Jahre als wichtigster Hüter der Menschenrechte in Europa aufgebaut hat, wird gefährdet, wenn seine Entscheidungen wegen der überlangen Verfahrensdauer weiterhin wirkungslos bleiben“, sagte er.
Nach den Bestimmungen des EGMR müssen zunächst die innerstaatlichen Rechtsmittel ausgeschöpft werden, bevor sich Einzelpersonen an den EGMR wenden können. Um mögliche Verurteilungen durch das Gericht zu vermeiden, setzte die türkische Regierung im Januar 2017 eine Kommission ein, die die Fälle derjenigen bewerten sollte, die während eines zwei Jahre nach dem Putschversuch andauernden Staatsnotstandes kurzerhand aus ihren öffentlichen Ämtern entlassen wurden.
Die Kommission wurde als wirksames Rechtsmittel akzeptiert, und Antragsteller können sich nicht an den EGMR wenden, bevor die Kommission über ihre Fälle entschieden hat. Mehr als dreieinhalb Jahre nach Einsetzung der Kommission sind noch immer Fälle vor ihr anhängig. Darüber hinaus müssen die Antragsteller nach der Entscheidung der Kommission zunächst das Verwaltungsgerichtssystem der Türkei und schließlich das Verfassungsgericht durchlaufen, bevor ihre Fälle vor dem EGMR verhandelt werden können. Mithat Sançar erklärte hierzu in seinem offenen Brief: „Ihr Gericht stellt diese Kommission als wirksames Rechtsmittel dar, während es offensichtlich ist, dass sie alles andere als Gerechtigkeit herstellt. Nun auch noch von einer Institution, die an den Rechtsverletzungen direkt beteiligt ist, die Ehrendoktorwürde zu empfangen, würde nichts anderes bedeuten, als dieses Fehlverhalten zu legitimieren.“