Der im Februar in den Hungerstreik getretene Rechtsanwalt Aytaç Ünsal bleibt weiter in Haft. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) lehnte es am Dienstag ab, auf sein Ersuchen hin die Regierung in Ankara in einer Eilentscheidung zur Freilassung aufzufordern. Die Straßburger Richter begründeten dies damit, dass der 32-Jährige nach Auskunft der türkischen Regierung am 30. Juli aus dem Gefängnis in ein Krankenhaus in Istanbul verlegt wurde. Der Aufenthalt dort stelle kein unmittelbares Risiko dar, Schaden an Leib und Leben zu nehmen. Die linke Anwaltsvereinigung ÇHD (Verein progressiver Juristen), der Ünsal angehört, ist empört.
Ünsal war im Februar gemeinsam mit weiteren inhaftierten Kolleg*innen für ein faires Verfahren in den Hungerstreik getreten. Am 5. April – dem „Tag des Anwalts” – hatte er die Aktion gemeinsam mit Ebru Timtik, die kürzlich an den Folgen eines 238-tägigen Nahrungsentzugs in Istanbul verstorben ist, in ein Todesfasten umgewandelt. Die Jurist*innen waren im März 2019 zu langjährigen Haftstrafen nach Terrorparagrafen verurteilt worden. Eine Berufung bei der nächsthöheren Instanz blieb erfolglos, im Oktober wurden die Urteile bestätigt.
„Obwohl dem EGMR bekannt ist, dass Ebru erst kürzlich an den Folgen eines Hungerstreiks ums Leben gekommen ist, und obwohl dem Gericht Berichte vom Krankenhaus und von der Ärztekammer vorliegen, in denen auf zusätzliche Risiken allein durch Corona und negative Auswirkungen der Gefangenenstation der Klinik hingewiesen wird, wurde der Antrag von Aytaç abgelehnt, weil keine direkte Gefahr bestünde“, heißt es in einer Stellungnahme von ÇHD. Gleichzeitig fordern die Straßburger Richter die türkische Regierung auf, die Forderung Ünsals nach einem unabhängigen Arzt zu prüfen.
Auch der türkische Verfassungsgerichtshof in Ankara hatte zuletzt eine Beschwerde gegen die Inhaftierung von Aytaç Ünsal abgelehnt, obwohl ihm die Istanbuler Gerichtmedizin zuvor eine Haftunfähigkeitsbescheinigung ausgestellt hatte. Doch laut dem Gericht sei eine Grundrechtsverletzung vor dem Hintergrund des (erzwungenen) Krankenhausaufenthaltes nicht erkennbar, da jederzeit eine medizinische Behandlung erfolgen könnte, sofern sie notwendig sei. „Auf die gleiche Weise war auch im Fall von Ebru entschieden worden“, unterstreichen die Anwält*innen von ÇHD. Sollte es in Bezug auf das Leben von Aytaç Ünsal zu „betrüblichen Ereignissen“ kommen, liege die Verantwortung bei allen Justizbehörden, die ihren Pflichten nicht nachkommen.