Hungerstreik: Das Leben von Aytaç Ünsal retten

Auch nach dem Hungerstreik-Tod der Rechtsanwältin Ebru Timtik setzt ihr Kollege Aytaç Ünsal seinen Widerstand fort. „Wer sich jetzt nicht für ihn einsetzt, soll später auch nicht zu seiner Beerdigung kommen“, hieß es auf einer Kundgebung in Istanbul.

Auch nach dem Hungerstreik-Tod der Rechtsanwältin Ebru Timtik setzt ihr Kollege Aytaç Ünsal seinen Widerstand fort. Er wird seit einem Monat gegen seinen Willen im Gefangenentrakt des Istanbuler Krankenhauses Halkalı Kanuni Sultan Süleyman festgehalten. Am Samstag fand vor dem Krankenhaus erneut eine Mahnwache für den seit 210 Tagen mit einem Hungerstreik für ein faires Gerichtsverfahren kämpfenden Rechtsanwalt statt. An der Aktion nahmen unter anderem sein Vater Nihat Ünsal und seine Ehefrau und Berufskollegin Didem Baydar Ünsal teil.

Die Kundgebung wurde von einem großen Polizeiaufgebot begleitet. Die Rechtsanwältin Ayşegül Çağatay gab eine Erklärung ab, in der sie zuerst an Ebru Timtik erinnerte, die am Donnerstag in einem anderen Istanbuler Krankenhaus an den Folgen des monatelangen Nahrungsenzugs verstorben ist: „Wir haben vorher gesagt, dass ihr Zustand kritisch ist und uns keine Zeit mehr bleibt. Die Menschen haben sich vielleicht schon daran gewöhnt, dass man von einem kritischen Zustand spricht. Aber es war wirklich kritisch. Ebru hat bis zum letzten Moment gekämpft und ihr Leben verloren. Eigentlich möchte ich nicht einfach sagen, dass sie ihr Leben verloren hat, denn sie ist ermordet worden. Als sie ins Krankenhaus verschleppt wurde, hat sie eine Behandlung abgelehnt. Beide haben eine Behandlung unter diesen Bedingungen abgelehnt. Wir haben gesagt, dass sie entlassen und am Leben gehalten werden müssen, aber auf uns wurde nicht gehört.“

Die Rechtsanwältin wies darauf hin, dass monatelang geschwiegen wurde und erst nach Ebru Timtiks Tod zweifelhafte Erklärungen vom türkischen Justiz- und Innenministerium abgegeben worden sind. Jetzt gehe es darum, das Leben von Aytaç Ünsal zu retten. „Aytaç ist seit Ebrus Tod noch viel wütender. Wir müssen hier keine weiteren Worte verschwenden. Wir handeln entweder heute oder gar nicht. Wer heute nichts tut, soll auch später nicht zur Beerdigung kommen.“

DHKP-C-Verfahren

Ebru Timtik und Aytaç Ünsal sind zwei von zwanzig Rechtsanwält*innen der linken Anwaltsvereinigung ÇHD (Çağdaş Hukukçular Derneği, deutsch: Verein progressiver Juristen), die im „Rechtsbüro des Volkes” (Halkın Hukuk Bürosu, HBB) tätig waren und im März 2019 im Komplex der Verfahren gegen vermeintliche Angehörige der DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front) nach Terrorparagrafen zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt wurden. Die Anschuldigungen gegen sie basierten ausschließlich auf den widersprüchlichen Aussagen des Kronzeugen Berk Ercan, Beweise für eine Straftat lagen nicht vor. Ebru Timtik ist bereits die vierte Oppositionelle aus dem DHKP-C-Verfahren, die dieses Jahr an den Folgen eines Hungerstreiks gestorben ist. Am 3. April starb Helin Bölek, Solistin der Musikgruppe Grup Yorum. Sie hatte 288 Tage lang aus Protest gegen die Inhaftierung von anderen Bandmitgliedern und einem Konzertverbot, mit dem Grup Yorum seit 2015 belegt ist, die Nahrungsaufnahme verweigert. Am 7. Mai kam der Yorum-Bassist Ibrahim Gökçek nach einem 323-tägigen Hungerstreik ums Leben. Zuvor war am 24. April bereits der politische Gefangene Mustafa Koçak an den Folgen eines 296 Tage andauernden Nahrungsentzugs gestorben.