HDP: Wir sind wütend und traurig

Nach 238 Tagen im „Todesfasten“ ist die in der Türkei inhaftierte linke Rechtsanwältin Ebru Timtik am Vortag in einem Istanbuler Krankenhaus gestorben. Die HDP sieht die Regierung verantwortlich und verlangt die sofortige Freilassung von Aytaç Ünsal.

Die Demokratische Partei der Völker (HDP) macht die türkische Regierung für den Tod von Ebru Timtik verantwortlich. Die Rechtsanwältin erlitt am Donnerstag infolge eines 238-tägigen „Todesfastens“ in einem Krankenhaus in Istanbul einen Herzstillstand, Reanimierungsversuche blieben erfolglos. In einer Stellungnahme des HDP-Exekutivrates heißt es: „Tief erschüttert haben wir von dem Tod von Ebru Timtik erfahren, einer inhaftierten Rechtsanwältin im Todesfasten. Nach Helin Bölek, Ibrahim Gökçek und Mustafa Koçak ist nun auch Ebru Timtik an den Folgen der tödlichen AKP-Politik gestorben. Die AKP-Regierung ist direkte Verantwortliche für den Tod von Ebru Timtik. Sie hat einer jungen Anwältin, die nach Gerechtigkeit rief, rücksichtslos das Recht auf Leben und Gerechtigkeit genommen. Wir sind wütend und traurig.”

Ebru Timtik war eine von zwanzig Rechtsanwält*innen der linken Anwaltsvereinigung ÇHD (Çağdaş Hukukçular Derneği, deutsch: Verein progressiver Juristen), die im „Rechtsbüro des Volkes” (Halkın Hukuk Bürosu, HBB) tätig waren und im März 2019 im Komplex der Verfahren gegen vermeintliche Angehörige der DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front) nach Terrorparagrafen zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt wurden. Die Anschuldigungen gegen sie basierten ausschließlich auf den widersprüchlichen Aussagen des Kronzeugen Berk Ercan, Beweise für eine Straftat lagen nicht vor. Im Februar trat Timtik gemeinsam mit weiteren inhaftierten Kolleg*innen, darunter auch Aytaç Ünsal, in einen Hungerstreik, den sie am 5. April – dem „Tag des Anwalts” – in ein Todesfasten umgewandelt hatte. Zuletzt wog sie nur noch 33 Kilogramm.

Ebru (l.) und Barkın Timtik | Quelle: HHB

„Wiederholt haben wir aufgeschrien, dass sich Ebru und Aytaç in einem Stadium ihres Hungerstreiks befinden, in dem nicht Stunden, sondern Sekunden entscheidend für ihr Überleben sind“, so die HDP weiter. Mit ihrer Forderung auf ein faires Verfahren sei Timtik die Stimme von Millionen gewesen, die Gerechtigkeit verlangen. „Sie forderte kein Privileg, sondern das Recht auf ein faires Verfahren, das zu den elementarsten justiziellen Grundrechten zählt und für jede Bürgerin und jeden Bürger gelten sollte. Mit diesem Tod, der infolge von Gleichgültigkeit eintrat, hat die Regierung ein Exempel ihrer untergehenden Justiz statuiert.“

Die ÇHD-Anwält*innen waren im September 2017 verhaftet und ein Jahr später aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Nur drei Tage später erließ die Generalstaatsanwaltschaft von Istanbul auf Betreiben des türkischen Innenministeriums erneut Haftbefehl. Den Jurist*innen unter dem Deckmantel der angeblichen „Leitung- und/oder Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation“ de facto die engagierte Verteidigung ihrer Mandant*innen zum Vorwurf gemacht. Der ÇHD nahm sich seit seiner Gründung im Jahr 1974 politisch brisanten Justizfällen an und vertrat unter anderem Angehörige des 54-jährigen Metin Lokumcu, der 2011 bei Protesten gegen Recep Tayyip Erdoğans Wahlkampfveranstaltungen in der Schwarzmeerküstenregion getötet wurde, als die Polizei Tränengas einsetzte. Außerdem engagierte sich die Vereinigung im Fall des 15-jährigen Berkin Elvan, der bei den Gezi-Protesten 2013 von einer Tränengaspatrone am Kopf getroffen wurde und nach neun Monaten im Koma verstarb. Im November 2016 wurde die Vereinigung durch einen Erlass der Regierung unter dem Recht des Ausnahmezustandes verboten.

Die Behauptungen des Kronzeugen Berk Ercan haben in der Türkei zur Verhaftung von rund 200 Menschen geführt. Unter ihnen waren auch Helin Bölek, Ibrahim Gökçek und Mustafa Koçak, die dieses Frühjahr ebenfalls an den Folgen eines Hungerstreiks ums Leben gekommen sind. | Foto: Barkın Timtik, Ebru Timtik, Aytaç Ünsal (v.l.n.r.),  Quelle: ÇHD

 

An die Regierung gerichtet heißt es: „Wir tolerieren keinen weiteren Tod: Aytaç Ünsal muss sofort freigelassen werden. Sein Recht auf ein faires Verfahren muss unverzüglich erfüllt und er in ein voll ausgestattetes Krankenhaus eingeliefert werden. Wir appellieren an die Öffentlichkeit, Aytaç gemeinsam am Leben zu erhalten. Sein Leben darf nicht der Gnade der Regierung überlassen werden, es braucht jetzt mehr Nachdruck.“ Den Angehörigen, Freund*innen und Kolleg*innen spricht die HDP angesichts des Todes von Ebru Timtik ihr aufrichtiges Mitgefühl aus. „Wir versprechen, dass wir die Flagge der Gerechtigkeit, die Ebru Timtik mit großem Mut schwenkte, voller Stolz tragen werden. In dem Wissen, dass ihre Forderung nach Gerechtigkeit die Forderung der gesamten Gesellschaft ist, werden wir diesen Kampf auch gemeinsam fortsetzen.“

Beisetzung auf Friedhof in Gazi

Derweil haben die Angehörigen von Ebru Timtik, zahlreiche Kolleg*innen und bekannte Persönlichkeiten aus der Zivilgesellschaft und Politik, darunter auch die beiden CHP-Abgeordneten Sezgin Tanrıkulu und Hilmi Yarayıcı, die vergangene Nacht vor dem gerichtsmedizinischen Institut im Istanbuler Bezirk Bahçelievler verbracht. Nach Behördenangaben soll Timtiks Leichnam noch im Laufe des Vormittags freigegeben werden, anschließend findet die Überführung in das alevitische Gemeindehaus in Gazi statt. Die Beerdigung der Anwältin ist für Samstag geplant. Wunschgemäß wird sie neben ihrer Mutter begraben.