Hohe Haftstrafen für linke Anwälte
In Istanbul ging heute der Prozess gegen Anwält*innen des linken Vereins Progressiver Jurist*innen (ÇHD) weiter. 17 der insgesamt 20 Angeklagten wurden zu Freiheitsstrafen zwischen drei und 19 Jahren verurteilt
In Istanbul ging heute der Prozess gegen Anwält*innen des linken Vereins Progressiver Jurist*innen (ÇHD) weiter. 17 der insgesamt 20 Angeklagten wurden zu Freiheitsstrafen zwischen drei und 19 Jahren verurteilt
Ein türkisches Gericht in Istanbul hat am Mittwoch 17 von 20 angeklagten linken Anwält*innen wegen „Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Vereinigung“ zu insgesamt 159 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Die Anwält*innen der linken Anwaltsvereinigung ÇHD (Çağdaş Hukukçular Derneği, deutsch: Verein progressiver Juristen), die im Anwaltsbüro des Volkes (Halkın Hukuk Bürosu, HBB) tätig waren, sitzen seit September bzw. November 2017 fast ununterbrochen in Untersuchungshaft. Ihnen wird unter dem Deckmantel der angeblichen „Leitung- und/oder Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation“ die engagierte Verteidigung ihrer Mandant*innen zum Vorwurf gemacht.
Der prominenteste Angeklagte in dem Verfahren ist Selçuk Kozağaçlı, der heute zu elf Jahren und drei Monaten Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Kozağaçlı war seit 2009 Vorsitzender des 1974 gegründeten Vereins ÇHD, der sich politischen Prozessen im Land annahm und in der Vergangenheit erfolgreiche Beschwerden beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einreichte. Im November 2016 wurde die Vereinigung durch einen Erlass der Regierung unter dem Recht des Ausnahmezustandes verboten.
Selçuk Kozağaçlı ist in Deutschland der Hans-Litten-Preis der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen e.V. verliehen worden. In der Türkei muss er ins Gefängnis, weil er sich mit politisch brisanten Justizfällen beschäftigte. Der Anwalt vertrat unter anderem Angehörige des 54-jährigen Metin Lokumcu, der 2011 bei Protesten gegen Recep Tayyip Erdoğans Wahlkampfveranstaltungen in der Schwarzmeerküstenregion getötet wurde, als die Polizei Tränengas einsetzte. Außerdem engagierte er sich im Fall des 15-jährigen Berkin Elvan, der bei den Gezi-Protesten 2013 von einer Tränengaspatrone am Kopf getroffen wurde und nach neun Monaten im Koma verstarb.
Weitaus länger soll die Anwältin Barkın Timtik ins Gefängnis. Diese wurde zu einer Haftstrafe von 18 Jahren und neun Monaten verurteilt. Özgür Yılmaz und Ebru Timtik sollen für 13 Jahre und sechs Monate ins Gefängnis, Behiç Aşçı und Şükriye Erden für jeweils zwölf Jahre. Süleyman Gökten, Aytaç Ünsal und Engin Gökoğlu wurden zu jeweils zehn Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt, Ezgi Çakır zu acht Jahren Haft. Die Anwält*innen Zehra Özdemir, Ahmet Mandacı, Yaprak Türkmen, Ayşegül Çağatay und Didem Baydar Ünsal müssen wegen des Vorwurfs der „wissentlichen und mutwilligen Unterstützung einer terroristischen Organisation“ für drei Jahre und neun Monate ins Gefängnis. Das Urteil gegen drei weitere Juristen steht noch aus.