Bei einer Podiumsdiskussion in Hamburg wurden gestern die Entwicklungen und Perspektiven in Syrien beleuchtet. Die Gruppe Hamburg für Rojava, St. Pauli Azadî, Rosa-Luxemburg-Stiftung Hamburg, PYD und Kongra Star haben gemeinsam zu der Veranstaltungen eingeladen, bei der drei Referentinnen über die aktuellen Umbrüche und ihre Hintergründe informierten.
Mizgin Ehmed von der Europavertretung der Partei der Demokratischen Einheit (PYD), Natalie Jaabary von der Demokratischen Syrien Versammlung und Zozan Mohammad vom Syrischen Frauenrat diskutierten auf dem von der Aktivistin Roza moderierten Panel zentrale Fragen rund um Modelle für eine gerechte Zukunft Syriens und die Rolle, die Frauen und demokratische Stimmen in diesen Prozessen spielen können. Die Veranstaltung scheint mit ca. 100 Teilnehmenden auf reges Interesse bei den Hamburger:innen gestoßen zu sein.
Der Syrische Frauenrat
Zozan Mohammad stellte als Vertreterin des Syrischen Frauenrates zunächst dessen Gebschichte und Arbeit dar. Der Rat sei 2017 von Frauen in Minbic (Manbidsch) gegründet worden und arbeite seitdem in den Bereichen Frauenrechte, Gewaltprävention und Geschlechterparität in der Verwaltung. Während der Herrschaft Assads seien trotz Schwierigkeiten Büros in Latakia und Aleppo eröffnet worden, in den Gebieten der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES) hingegen, seien dem Rat alle Türen geöffnet worden. Das dort umgesetzte Modell der demokratischen Selbstverwaltung will der Rat in ganz Syrien bekannt machen.
Die Rolle der Frauen nach der Machtübernahme
Um die Rolle der Frau sei es in den verschiedenen Regionen Syriens unterschiedlich bestellt. In eher traditionell geprägten Gebieten habe der Rat beispielsweise Schwierigkeiten, da sich dort noch gegen Frauenrechte gewehrt würde. Zusammenfassend resümierte Mohammad zu dieser Frage, dass Frauenrechte nach der Machtübernahme durch „Hayat Tahrir al-Sham“ (HTS) wieder bekämpft würden.
Bereits zwei Monate nach dem Machtwechsel sei eine Verfassung vorgestellt worden, in der Frauen keine Rolle zukam. Dass die Bezeichnung „Syrische Arabische Republik“ laut diesem Entwurf unveränderlich erhalten bleiben soll, wertete Mohammad als klares Zeichen dafür, dass die neue Regierung einen Staat nur für Araber:innen wolle.
Die Frauenrechtlerin kritisierte auch, dass der Islam, und im Besonderen der Sunnitische Islam, als die einzige Religion des neuen Syriens genannt worden sei. Das islamistisch geprägte System, dass die HTS in Idlib aufgebaut hat, wolle sie nun auf ganz Syrien übertragen. Dies beinhalte unter anderem starke Restriktionen, wie das Männer und Frauen, die in keinem Verwandtschaftsverhältnis zueinander stehen, sich nicht öffentlich miteinander zeigen dürften.
Keine Verbesserung unter Al-Scharaa
Laut Mohammad ist die Lage in Syrien nach dem Sturz Assads prekär, und das vor allem für Frauen, die den Druck der neuen Regierung am stärksten zu spüren bekämen. Sie gab an, dass nunmehr Frauen ausschließlich für Familie und Haushalt zuständig seien und ihnen der Zugang zu anderen Arbeiten oder gar Regierungsbeteiligung nicht zugedacht werde. Viele Menschen, die in Syrien gegen Assad für Freiheit gekämpft haben, so ist sich Zozan Mohammad sicher, empfinden auch jetzt keine Verbesserung.
Rückkehr der Geflüchteten
Mizgin Ehmed ist als Vorstandsmitglied in den diplomatischen Arbeiten der PYD in Europa tätig. Sie beteiligte sich zuvor am Aufbau der Strukturen der DAANES und hat in diesem Rahmen beispielsweise an der Ausarbeitung des Gesellschaftsvertrages mitgewirkt.
Ehmed benannte als eine zentrale Aufgabe der PYD und der gesamten Selbstverwaltung, die Rückkehr der Binnenvertriebenen zu ermöglichen. Hierbei thematisierte sie insbesondere die Region Efrîn (Afrîn). Der westlichste Kanton der DAANES steht seit März 2018 unter türkischer Besatzung. Durch eine gezielt Politik des „demographischen Wandels“ seien mittlerweile nur noch 20 Prozent der Bevölkerung kurdisch, ein Großteil sei seit der Besatzung vor allem in umliegende Gebiete geflohen.
Geografische Arbeitsteilung der Dschihadisten
Im Zusammenhang mit der aktuellen Situation analysierte die Politikerin die Besonderheit einer Arbeitsteilung zwischen al-Scharaa’s Truppen im Westen und Süden des Landes, und den Proxymilizen der Türkei von Şehba und Tel Rifat (Tall Rifaat) bis Minbic. Auf diese Weise habe einerseits innerhalb weniger Tage Damaskus eingenommen und andererseits die Zerstörung der Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien verfolgt werden können. Wie bereits in der Vergangenheit versuchten internationale Mächte – einschließlich Europa – auch heute, sich einzumischen und sich in diesem Fall Al-Scharaa zu eigen zu machen, um die Geschehnisse zu ihren Gunsten zu beeinflussen.
Die PYD und die Selbstverwaltung arbeiten laut Ehmed daran, dass alle syrischen Familien zurückkehren können. Für die Millionen von Syrer:innen, die aus und innerhalb Syriens geflüchtet sind, wollen die PYD und die Selbstverwaltung laut Ehmed die Rückkehr ermöglichen. Im Rahmen dieser Arbeit setze sich die PYD auch auf internationaler Ebene ein und betont hierbei den Rückzug der Türkei, der es letztlich um die Auslöschung der DAANES ginge, aus den Gebieten als wichtige Grundlage.
Die YPJ als Garantie der demokratischen Gesellschaft
Auf die Frage, ob sie die Frauenrechte in den Gebieten der DAANES nach der Machtergreifung Al-Scharaas in Gefahr sähe, führte Mizgin Ehmed die tiefgehenden und umfassenden Veränderungen aus, die in diesem Bereich seit 14 Jahren stattgefunden haben.
Bereits der Aufbau der DAANES sei unter der Leitung und durch die Vorreiterinnenschaft der Frauen ermöglicht worden. Das System des Ko-Vorsitzes ist etabliert, wodurch Frauen eine starke Position in der Verwaltung einnähmen. An dieser Stelle betonte die Politikerin auch besonders die Existenz der Frauenverteidigungseinheiten (YPJ). Sie seien die Garantie für die Aufrechterhaltung der Frauenrechte und die Freiheit der Frauen, sodass diese nie wieder auf Sklavenmärkten verkauft werden könnten. Die Besucher:innen der Veranstaltung brachen bei dieser Klarstellung in spontanen Beifall aus.
Dem entgegen habe das islamistische Regime überhaupt keine Rolle für Frauen vorgesehen, so Mizgin Ehmed. Die islamistischen Ideologie sei keine demokratische. Das Unrecht an Frauen und die gewaltvollen Übergriffe seien vielmehr ein Ziel der islamistischen Kräfte. Dass eine der ersten Aufforderungen an die YPJ ging, sich aufzulösen und ihre Waffen abzugeben, sei bezeichnend für die Politik al-Scharaas.
Seine Regierung wüsste genau, dass die Frauen ohne den Schutz der Bewaffnung wieder angreifbar werden würden. Doch auch darüber hinaus seien die YPJ eine rote Linie und unverzichtbar für die Menschen, da sie verhinderten, dass eine faschistische Mentalität sich durchsetzen könne
Auf eine weitere Nachfrage äußerte Mizgin Ehmed den Wunsch, das Modell der demokratischen Selbstverwaltung in ganz Syrien zu etablieren. Syrien habe eine vielfältige Gesellschaft und dieses Modell habe sich als gute Grundlage bewährt, um die Konflikte miteinander zu lösen. Genau dies sei der sehnliche Wunsch vieler Syrer:innen. Die Politikerin gab an, dass sie und ihre Mitstreiter:innen darüber einen Dialog in der Gesellschaft Syriens führen und auch international für dieses Modell eintreten.
Perspektive auf die Gespräche zwischen Abdi und Al-Scharaa
In der Diskussion wurde sich auch mit den Gesprächen zwischen dem QSD-Generalkommandanten Mazlum Abdi und dem Übergangspräsidenten auseinandergesetzt. Diese haben darauf abgezielt eine Grundlage zu schaffen, auf der die Gesellschaft Syriens zusammenkommen könne. Als wichtigste Punkte seien hierin das Ende des Krieges und die Verhinderung eines Bürgerkrieges eingebracht worden. Auch auf die Ermöglichung der Rückkehr aller geflüchteten Syrer:innen sei eine hohe Priorität gelegt worden.
Grundsätze der DAANES
Innerhalb kürzester Zeit habe sich sowohl die Türkei wie auch Qatar in die Gespräche eingemischt. So habe Ankara beispielsweise die Entwaffnung der YPG und YPJ gefordert und verlangt, dass die Selbstverwaltung alle Institutionen an die neue Übergangsregierung übergeben solle. Diese Kapitulation habe die DAANES nicht infrage gezogen sondern vehement abgelehnt. Der islamistische Verfassungsvorschlag und die Anweisungen aus Ankara widersprächen der Säkularität. Auch Frauenrechte, sprachliche Vielfalt und die Rechte der Jugend sowie anderer gesellschaftlicher Gruppen und Organisationen seien hierin ignoriert worden. Mizgin Ehmed sagte deutlich, dass die DAANES diesen Vorschlag ablehne. Ihr Vorschlag sei der Gesellschaftsvertrag.
Der gesellschaftliche Kampf wird entscheiden
Auf die Frage, ob es eine Einigung mit HTS geben könne und wie die Errungenschaften der DAANES verteidigt werden könnten, antwortete Ehmed, dass dies der gesellschaftliche Kampf zeigen werde. Wenn die Gesellschaft Syriens zusammen käme, gemeinsam Lösungen erarbeiten und als eine Bewegung kämpfen würde, könne eine gerechte Zukunft für Syrien von der Übergangsregierung nicht verhindert werden.
Position und Rolle der Alawit:innen
Die Alawitin Natalie Jaabary arbeitet mit der Demokratischen Syrien Versammlung zusammen, welche sich eine vielfältige Gesellschaft und Gerechtigkeit für alle Syrer:innen zum Ziel gesetzt hat. In Anbetracht der jüngsten Massaker an der alawitischen Bevölkerung in Syrien, kritisierte Jaabary die Erzählung, alle Alawit:innen seien dem Assad-Regime treu gewesen oder hätten mit diesem kollaboriert. Vielmehr seien sie – ebenso wie alle anderen Religionsgemeinschaften – ebenfalls Unterdrückung ausgesetzt gewesen und seien eine Gemeinschaft mit heterogenen Ansichten.
Gleichberechtigung und Selbstverwaltung als Ziel
Viele Menschen in Syrien hätten unabhängig ihrer ethnischen oder religiösen Zugehörigkeiten mit dem Regime zusammengearbeitet oder es abgelehnt. Der entscheidende Punkt ist für Jaabary jedoch, dass alle Syrer:innen seien und keine Gruppe verfolgt oder bevorzugt werden dürfe. Die HTS strebe ihrer Ansicht nach kein friedliches Zusammenleben an.
Während es zuvor an einigen Orten in den Küstenregionen Ansätze der Selbstversorgung und ein gemeinschaftliches Zusammenleben verschiedener Menschen gegeben habe, hätten Alawit:innen heute Angst auf die Straße zu gehen, weil die Menschenrechte eingeschränkt seien und gebrochen würden.
Jaabary betonte, dass bezüglich der Massaker an den Alawit:innen im März diesen Jahres, nicht bewiesen werden könne, von wem genau diese ausgegangen seien und dass auch andere Gruppen als die HTS beteiligt gewesen seien. Versuche einer Untersuchung, wer die Täter waren und welche Menschen genau umgebracht worden waren, hätten nicht zu Ergebnissen geführt.
Als Zukunftsperspektive betrachtet Jaabary das System der Demokratischen Selbstverwaltung. Viele Alawit:innen seien sehr stolz auf die Erfahrungen mit Selbstverwaltung, die sie bisher gemacht hätten, und würden dieses Modell in den Küstenregionen etablieren wollen. Gespräche mit Menschen in verschiedenen Orten der Küstenregion zeigten dies als einen großen Wunsch.
Einigkeit der Referentinnen
Die Veranstaltung schloss mit der Bekräftigung der Referentinnen, dass sie auf ein pluralistisches, buntes Syrien hofften, indem die Frauenrechte und die Errungenschaften der DAANES nicht gefährdet werden.