Permanentes Völkertribunal fordert Verteidigung der Kurden

Das Permanente Völkertribunal übt scharfe Kritik an der türkischen Invasion in Rojava. Der Krieg sei gleichzusetzen mit einem Versagen der Staatengemeinschaft, die für Massaker und Vertreibung ihr substanzielles Einverständnis gegeben habe.

Das Permanente Völkertribunal (Permanent Peoples’ Tribunal, PPT) hat einen Aufruf zur Verteidigung des kurdischen Volkes und der Rechte der Völker veröffentlicht. Die Institution in der Tradition des Russel-Tribunals hält die Reaktion der internationalen Staatengemeinschaft angesichts der völkerrechtswidrigen Invasion des Nato-Partners Türkei und seiner dschihadistischen Hilfstruppen für ein Versagen und fordert ein deutlicheres Vorgehen gegen den türkischen Regimechef Recep Tayyip Erdogan.

„Die anhaltenden tragischen Ereignisse in Syrien, bei denen sich Erdogans gewaltsamer Angriff auf das kurdische Volk Syriens in direkte Massaker und massive Vertreibungen und Abwanderung der Zivilbevölkerung transformierte, fallen dramatisch mit der Abwesenheit (die nur als substanzielles Einverständnis angesehen werden kann) der Staatengemeinschaft und ihrer obersten repräsentativen Organisationen zusammen”, heißt es zunächst in dem Schreiben.

Weiter erklären die Unterzeichnenden: „Angesichts der sachlichen Beweise und der extremen Schwere dessen, was geschieht - was den schwersten im Völkerrecht anerkannten Verbrechen entspricht (Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ein andauernder Völkermord) - sind die beschlossenen und empfohlenen Maßnahmen nichts anderes als Bekundungen der Machtlosigkeit der vielfach proklamierten sogenannten ‚internationalen Gemeinschaft’. Die Verantwortung für das, was geschieht, muss daher nicht nur auf die direkten Akteure selbst, sondern auf das gesamte System der politisch-militärischen Kräfte übertragen werden, die langfristige Protagonisten von Strategien sind, die nur auf gegenseitiger Erpressung beruhen.

Türkei-Sitzung des PPT am 15. und 16. März 2018 in Paris

In Kontinuität mit seiner 46. Sitzung im Jahr 2018 in Paris und in strikter Übereinstimmung mit seinem Statut, dessen Aufgabenbereich die konkrete Anerkennung und Verteidigung der Rechte der Völker ist, insbesondere und vor allem dann, wenn sie systematisch verletzt werden, teilt und unterstützt das Permanente Völkertribunal uneingeschränkt alle Initiativen, die darauf abzielen, die brutale und ausschließliche Logik von Macht und Gewalt, die derzeit den Mittleren Osten beherrscht, anzuprangern, sich ihr zu widersetzen und sie zu bekämpfen.

Aus Sicht des PPT ist es jedoch mindestens ebenso wichtig zu betonen, wie die anhaltende Tragödie als echte und umfassende Labordemonstration eines globalen Systems erscheint, das beschlossen hat, die Rechte der Menschen und Völker von seiner Agenda der Werte und Praktiken zu streichen. Das kurdische Volk, wie die Millionen Vertriebenen auf der ganzen Welt, wird entwertet und als Subjekt mit Rechten ignoriert. Kurden gelten als Objekte, die vertrieben und ausgetauscht werden müssen, ganz zu schweigen von ihrem aktiven Verschwindenlassen. Der Mittlere Osten, wo Grenzen das unverantwortliche und katastrophale Produkt der europäischen Kolonialpolitik sind, ist immer deutlicher der Ort für ein Experiment, bei dem strategische und wirtschaftliche Kräfte und Interessen die Identität und damit das Leben von Völkern, Kindern, Frauen und Männern, die angeblich Gegenstand des von der UNO verkündeten neuen Völkerrechts sind, leugnen.

Es ist allzu leicht zu sagen, dass das heutige Drama Syriens, das sich insbesondere gegen das kurdische Volk richtet, nichts Neues ist. Die wachsende Liste der Völker, die auf Objekte des Austauschs reduziert wurden, ist lang: Palästinenser, Rohingyas, Jemeniten... Noch deutlicher ist, dass diese Abwesenheit von Neuheit mit einer Verschärfung der duldenden Trägheit der ‚internationalen Gemeinschaft’ und der einzelnen Protagonistenstaaten zusammenfällt, in der Logik und im Kriegsmarkt.

Das PPT ist sich der Schwierigkeiten bei der Klassifizierung der systemischen Verantwortlichkeiten gemäß dem Rahmen, dem Mandat und der langen Zeit, die für ein Strafurteil benötigt wird, wie es das Völkerrecht und die Umsetzung des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs und des Internationalen Gerichtshofs vorsehen, bewusst.

Aber das sollte uns nicht daran hindern, das, was vor unseren Augen geschieht, in angemessener Weise zu bestimmen, denn das würde bedeuten, das grundlegende ‚Verbrechen des Schweigens’ zu begehen: umso unannehmbarer und unerträglicher wäre dies angesichts der Zerstörung der gesellschaftlichen Strukturen, die das kurdische Volk entwickelt hat, insbesondere mit dem entschlossenen und innovativen Beitrag der Frauen in Afrin, Kobane, Rojava...

Dies war der konkrete Ausdruck der Möglichkeit einer Gesellschaft, in der die Anerkennung und Ausübung aller unteilbaren Menschenrechte als die einzigen wirksamen Hindernisse gegen ihre Verleugnung und gegen die Gewalt militärischer und wirtschaftlicher Interessen und der vielen Sprachen, die den Menschen in Feinde verwandeln, angesehen werden.

Der Vorsitz des Permanenten Völkertribunals ist zuversichtlich, dass diese Erklärung im Namen aller Völker, deren Kämpfe für ein Leben in Würde und Selbstbestimmung Gegenstand im 40-jährigen Bestehen des PPT waren, zur Stärkung der weltweiten Plattform all jener beitragen wird, die nicht bereit sind, die Machtlosigkeit des Rechts zu akzeptieren. Die Völker müssen ihre Sichtbarkeit, ihre Stimmen, ihre Rolle als Richtende von Menschenrechtsverletzern und als Protagonisten einer Geschichte für die Menschheit mit Zukunft wiedererlangen.“

Unterzeichnende: Philippe Texier, Präsident | Luiza Erundina, Vizepräsidentin | Helen Jarvis, Vizepräsidentin | Javier Giraldo Moreno, Vizepräsident | Nello Rossi, Vizepräsident

Permanentes Völkertribunal

Das Permanente Völkertribunal ist angelehnt an das „Russel-Tribunal”, das auf Initiative des britischen Mathematikers, Philosophen und Literaturnobelpreisträgers Lord Bertrand Russell und Ken Coates erstmals 1966 stattfand. Ziel war die Untersuchung und Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen seitens der US-Armee im Vietnamkrieg. Das PPT wurde 1979 als von Staaten unabhängige internationale Institution im italienischen Bologna gegründet. Seit dem hat es 47 Sitzungen zu Menschenrechtsverletzungen in verschiedenen Ländern abgehalten.

Aufgrund fehlender staatlicher Machtinstrumente kann das PPT keine Urteile verkünden und durchsetzen. Das Instrument, über das dieses Tribunal verfügt, ist die öffentliche Darstellung von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverstößen. Es will eine öffentliche Debatte über solcher Art staatlicher Verbrechen anstoßen, um so politischen Druck auf die politisch Verantwortlichen auszuüben.

Im März 2018 tagte das Permanente Völkertribunal zwei Tage lang in Paris zu den Verbrechen durch die Türkei und ihrer Vertreter gegenüber der kurdischen Bevölkerung und ihrer Organisationen und verurteilte sie wegen „Kriegsverbrechen“ und „Staatsverbrechen“. Das Tribunal konzentrierte sich auf Verbrechen in den Jahren 2015 bis 2017 in den Städten Cizîr (Cizre), Nisêbîn (Nusaybin), Şirnex (Şırnak) und Sûr, der Altstadt von Amed (Diyarbakir), auf das Roboskî-Massker und auf False-Flag-Aktionen des türkischen Staates sowie auf gezielte Tötungen von kurdischen Politiker*innen und Aktivist*innen seit den 1990er Jahren, insbesondere der Dreifachmord an den kurdischen Politikerinnen und Aktivistinnen Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez am 9. Januar 2013 in Paris.

Eine zweite Frage von zentraler Bedeutung in der Klage war, wie der Konflikt zwischen dem türkischen Staat und der PKK einzustufen ist. Das Gericht kam zu dem Schluss: „Der Kern der Kämpfe zwischen dem kurdischen Volk und der türkischen Regierung und der Verletzungen internationalen Rechts durch militärische Einheiten der Türkei liegt in der systematischen Verleugnung des Selbstbestimmungsrechts der Kurdinnen und Kurden begründet. (…) Die Repression der türkischen Organe gegen die kurdische Bevölkerung ließ ihr keine andere Wahl, als sich im bewaffneten Kampf unter der Führung der PKK zu organisieren. Dieser Krieg muss als nicht internationaler bewaffneter Konflikt betrachtet werden. (…) In Betrachtung der Intensität, der Dauer und der Qualität der Parteien handelt es sich bei dem Kampf zwischen dem türkischen Staat und der PKK um einen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt. (…) Es besteht kein Zweifel daran, dass die PKK alle Kriterien einer politisch-militärischen Organisation erfüllt, die einen bewaffneten Kampf für die Realisierung des Selbstbestimmungsrechts des kurdischen Volkes gegen die Organe des türkischen Staates, sein Militär und seine Sicherheitskräfte führt.”

Das vollständige Urteil kann unter nachfolgendem Link abgerufen werden: Permanent Peoples' Tribunal on Turkey and Kurds