Tribunal gegen Kriegsverbrechen der Türkei an Kurd*innen

Zu einem am 15. und 16. März in Paris stattfindenden internationalen Tribunal führte Nihal Bayram ein Interview mit der Rechtsanwältin Heike Geisweid, Vorsitzende des Vereins für Demokratie und internationales Recht MAF-DAD.

Am 15. und 16. März 2018 wird in Paris ein Volkstribunal stattfinden. Unter den Organisatoren befindet sich auch MAF-DAD. Könnten Sie uns bitte MAF-DAD kurz mit einigen Sätzen beschreiben? Was war der Anlass für die Gründung? Wann, wo und durch wen wurde MAF-DAD gegründet?

MAF-DAD ist ein Zusammenschluss deutscher, kurdischer und türkischer Jurist*innen und Menschenrechtsaktivist*innen, die den Fokus der Arbeit auf Fragen der Menschenrechte im internationalen und nationalen Recht, von Gerechtigkeit und Demokratisierung von Gesellschaften setzt. Die Gründungsmitglieder kamen aus der Antirepressionsarbeit und Kurdistan-Solidarität. Zum damaligen Zeitpunkt fehlte uns eine Vernetzung kritischer Jurist*innen in Deutschland, die unabhängig von ihrer Migrationsbiografie zum Thema Menschenrechte/politische Repression im nationalen und internationalen Recht arbeiteten. Am Weltfriedenstag 2006 in der BRD (in Hannover) gegründet haben wir mittlerweile auch in anderen Ländern der EU Mitglieder. Unsere Schwerpunkte sind weiterhin Einschränkungen/Verletzungen von Menschenrechten in Europa und die Situation im Nahen Osten und hier seit Jahren immer wieder die Türkei.

Die beiden Begriffe Maf und Dad stehen im kurdischen für Recht und Gerechtigkeit. Bisher wurden drei internationale Fachkonferenzen unter dem Thema: „Der sogenannte Anti-Terror Kampf am Beispiel der Kurdinnen und Kurden im Lichte internationalen Rechts“, zahlreiche Aktionen gegen die Listung der PKK auf der EU-Terrorliste, Veranstaltungen zur Todesstrafe im Iran, Veranstaltung zu der Verfolgung von Armenier*innen der Türkei und seit 2011 bereits zwei Strafanzeigen gegen Recep Tayyip Erdoğan u. a. nach dem Völkerstrafgesetzbuch wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit bei der Generalbundesanwaltschaft erstattet. Zum Thema Türkei ging es zunächst darum die Entwicklung der Türkei im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen kritisch zu begleiten, für eine umfassende Demokratisierung in der Türkei einzutreten sowie grundlegende Menschen- und Bürgerrechte zu verteidigen und zu fördern. Aufgrund der tagtäglichen Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen in der Türkei beschäftigen wir uns seit einigen Jahren mit der Frage rechtliche Instrumentarien, derartiges Vorgehen anzuklagen und den Opfern so irgendeine Form von Gerechtigkeit zukommen zu lassen. Nach Ratifizierung des Völkerstrafgesetzbuches durch die Bundesrepublik Deutschland wurde 2011 eine erste Strafanzeige gegen Recep Tayyip Erdoğan u. a. nach dem Völkerstrafgesetzbuch nach Einsatz von Giftgas gegen Mitglieder der PKK durch die Türkei erstattet. 2016 erfolgte ein weitere umfangreiche Strafanzeige nach dem Völkerstrafgesetzbuch wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit während der Ausgangssperren in verschiedenen kurdischen Städten in der Türkei am Beispiel von Cizre.

Wie kamen Sie zu dem Entschluss, ein Volkstribunal ins Leben zu rufen? Welchen Anlass hatten Sie, welche Ziele haben Sie hierbei? Auf welcher Grundlage haben Sie dieses Tribunal ins Leben gerufen?

Die zweite Strafanzeige liegt weiterhin bei der Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe, die darüber entscheiden muss, ob Anklage erhoben werden oder die Sache eingestellt werden soll. In der Zwischenzeit gab es täglich weitere Informationen über Menschenrechtsverletzungen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, für die die Türkei international nicht anders zur Rechenschaft gezogen werden kann. Die Türkei hat das Römische Statut, welches vertragliche Grundlage des Internationalen Strafgerichtshofs mit Sitz in Den Haag ist, nicht ratifiziert, weshalb türkische Staatsangehörige vor dem Internationalen Strafgerichtshof (oder einer anderen internationalen Rechtsinstitution) wegen angeblicher Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht strafrechtlich verfolgt werden können. Auch die alternative Option der Einleitung eines Verfahrens gegen die Türkei auf Aufforderung des UN-Sicherheitsrats an die Staatsanwaltschaft des Internationalen Strafgerichtshofs, ist nicht realistisch.Da die Türkei die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert hat, können Betroffene international lediglich Anträge beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einreichen. In zahlreichen Fällen hat der Gerichtshof in den vergangenen Jahren auch festgestellt, dass Verstöße gegen die von der Europäischen Menschenrechtskonvention garantierten Grundrechte von der Republik Türkei begangen wurden. Der Mechanismus des Gerichtshofs setzt aber voraus, dass jedes Opfer selbst Klage einreicht und hilft den Opfern solcher Verstöße auch nur teilweise. Zunächst ist der Weg mühsam, erst nach Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs kann der Europäische Gerichtshof angerufen werden, zudem sind Anwält*innen und Betroffene gerade aufgrund dieses Verfahrens oft staatlichen Repressionen und Einschüchterung ausgesetzt. Darüber hinaus untergraben die jüngsten Entwicklungen in der Türkei, wie die zahlreichen Verhaftungen und Amtsenthebungen von Richtern und Staatsanwälten, die beschuldigt werden „Terroristen“ zu sein, die Möglichkeiten mutmaßlicher Opfer von Menschenrechtsverletzungen, Fälle vor die nationalen Gerichte zu bringen und interne Rechtsmittel auszuschöpfen.

Während die Situation in der Türkei seit dem Wahlerfolg der HDP im Sommer 2015 für die kurdische Bevölkerung zunehmend lebensbedrohlicher wurde, die Türkei den Krieg gegen die PKK wieder mit aller Härte führt und spätestens seit dem Putschversuch nicht nur die Gülen-Bewegung als Gegner ausgemacht wurde, sondern jegliche Form kritischem zivilgesellschaftlichen Engagements, fehlen klare Stellungnahmen der Europäischen Union oder andere Staaten und wird das Vorgehen der Türkei weder ausreichend verurteilt, noch irgendwie sanktioniert.

Auf die erste Strafanzeige 2011 nach dem Völkerstrafgesetzbuch erhielten wir bereits nach Kurzen die Antwort, dass kein Strafverfahren eingeleitet würde. Bereits damals haben wir erstmals über die Anrufung eines Tribunals gegen die Türkei nachgedacht. Seit 2016 stellten verschiedene Gruppen dann ähnliche Überlegungen an, so dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die Idee, ein Türkei-Tribunal durchzuführen, in die Tat umgesetzt wurde.

Thema des Tribunals ist die Türkei. Der türkischen Regierung wurde die Anklage übersandt. Wie waren bzw. sind die Reaktionen der türkischen Vertreter auf dieses Tribunal?

Hierzu wurde mit dem permanenten Völkertribunal (PVT) Kontakt aufgenommen, einer von staatlichen Instanzen unabhängigen, international tätigen Institution, die 1979 in Italien gegründet wurde und bis heute über 30 Tribunale, bei denen es um Menschenrechtsverletzungen oder Verletzungen des Völkerrechts geht, weltweit durchgeführt hat. Zu den Initiator*innen des Türkei-Tribunals gehören neben MAF-DAD das Kurdische Institut in Brüssel, eine von den belgischen Behörden geförderte Nichtregierungsorganisation, sowie zwei internationale Jurist*innenvereinigungen – die Europäische Vereinigung der Rechtsanwälte für Demokratie und weltweite Menschenrechte (ELDH) und die Internationale Vereinigung der Demokratischen Rechtsanwälte (IADL).

Das Tribunal wird entsprechend der Regularien des PVT durchgeführt werden, d. h. das PVT besetzt einen Spruchkörper bestehend aus sieben unabhängigen Personen, die vom PVT-Präsidialausschuss ernannt werden. Die Anklage wird von einem Team internationaler Rechtanwält*innen besetzt. Eine umfassende Anklageschrift mit zahlreichen Zeug*innen zu verschiedenen Punkten menschenrechtswidriger und völkerrechtswidriger Taten des türkischen Staats und seiner Organe wurde erstellt. Diese ging entsprechend den Regularien des PVT der türkischen Regierung zu, um ihr die Möglichkeit einzuräumen, sich vor dem Tribunal zu verteidigen. Bisher ist noch keine Reaktion der türkischen Vertreter erfolgt.

Zum ersten Mal wird die kurdische Frage vor einem solchen Tribunal behandelt werden. In einer Zeit, in welcher die Rechtsverletzungen und Massenmorde innerhalb der Türkei weiter bestehen, ist es schwierig, das Ergebnis dieses Tribunals vorauszusehen. Wird der Beschluss des Tribunals auf internationaler Ebene Beachtung finden? Wie sehr kann ein solcher Beschluss das dortige Geschehen beeinflussen?

Für den Vorstand von MAF-DAD kann ich sagen, dass wir davon überzeugt sind, dass die Anklage zahlreiche Menschenrechtsverletzungen der türkischen Regierung gegen Kurd*innen und Kurden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit darlegen und beweisen wird, so dass wir fest von einer die Türkei verurteilenden Entscheidung des Tribunals ausgehen. Diese Entscheidung hat rechtlich keine Bedeutung, aber ich bin davon überzeugt, dass ihr ein erheblicher politischer Wert zukommt und gleichzeitig ein moralischer Wert für die Opfer und deren Angehörige. Ich hoffe, dass sich die europäische Gemeinschaft die Feststellungen des Tribunals zu eigen macht und die derzeitige Türkei-Politik grundlegend ändert, im Interesse des Schutzes der kurdischen Bevölkerung in der Türkei, der Wahrung und Sicherung von grundlegenden Menschenrechten und der Aufnahme von Friedensverhandlungen mit der PKK.

Wie wird solch ein Tribunal durchgeführt? Welche Vorkehrungen, Voraussetzungen und Schritte sind hierzu wichtig? Können Sie uns kurz ein oder zwei Bespiele aus vergangenen Tribunal-Prozessen nennen? Welche Auswirkungen hatten diese auf die beteiligten Länder und Völker?

Das Tribunal wird an zwei Tagen in Paris stattfinden. Die Anklage hat sich angesichts des schier unfassbaren Umfangs von Rechtsverletzungen an Kurd*innen und ihren Organisationen seit Gründung der Republik Türkei auf Staatsverbrechen im Zeitraum 2015–2017, sowie einzelnen ausgewählten Ereignissen und Themen, wie z.B. Gewalt gegen Frauen, Roboskî, Ermordungen von Musa Anter, Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez und die Entführung von Abdullah Öcalan konzentriert. Die Anklage wird für die einzelnen Anklagepunkte klassische Beweismitteln – vor allem Zeug*innen – beibringen. Diese werden von dem Tribunal befragt. Der türkischen Regierung wurde die Anklage übersandt verbunden mit der Option, sich zu den Vorwürfen zu äußern. Auch im Verfahren hat die türkische Regierung die Möglichkeit, sich durch Vertreter*innen zu den Anklagepunkten Stellung zu nehmen oder sich zu verteidigen. Dass Vertreter*innen von der türkischen Regierung entsandt werden, halte ich aufgrund der Erfahrungen in bisherigen Tribunalen allerdings für unwahrscheinlich.

Das Tribunal wird sich nach den zwei Tagen zur Urteilsfindung zurückziehen. Über den Zeitpunkt der Bekanntgabe der Entscheidung wird das Tribunal die Öffentlichkeit informieren, diese wird nach mehreren Tagen, eventuell auch ein paar Wochen erwartet.

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