Rückblick 2020: Guerilla steigert Aktivität

Trotz der technologischen Überlegenheit und des gigantischen Aufwands der türkischen Armee hat die kurdische Guerilla ihre Aktivität im Verlauf des Jahres 2020 gesteigert.

Für die kurdische Befreiungsbewegung war 2019 ein wichtiges Jahr mit bedeutendem Widerstand. Vor allem die Guerilla war sehr offensiv. Im Gegensatz zu den Verlautbarungen des türkischen Staates gelang es den Volksverteidigungskräften (HPG), ihre Neustrukturierung weitgehend umzusetzen und sich auf allen Ebenen auf 2020 vorzubereiten.

Zu Beginn des Jahres 2020 hat der türkische Staat seine gesamten Kapazitäten mobilisiert, um den Informationsfluss hinsichtlich der Aktivität der Guerilla zu steuern. Nach seiner Ankündigung einer vollständigen Vernichtung der Guerilla geriet er angesichts der schlagkräftigen Aktionen und der im Zuge der Neustrukturierung entstandenen Kampfweise in einen Zustand schockartiger Verblüffung. Dagegen konnte er nur mit Spezialkriegsmethoden angehen.

Werfen wir also einen Blick auf den Krieg zwischen der türkischen Armee und der Guerilla in diesem Jahr. Wie war die Performance der Guerilla? Welche Ziele hatte sich die türkische Armee gesetzt und inwieweit hat sie diese erreicht? Dafür haben wir die fast täglich erfolgenden Erklärungen des Pressezentrums der HPG ausgewertet und eine Kriegsbilanz für 2020 erstellt.

Januar

Die Guerilla wartet den Frühling nicht ab und schlägt gleich zu Jahresbeginn zu. Daraufhin ist ein Anstieg der Luftangriffe und Militäroperationen der türkischen Armee zu beobachten. Vor allem in Heftanîn, Serhed und Xakurke finden effektive Guerillaaktionen statt. Bei einer Aktion auf dem Partîzan-Gipfel in Heftanîn wird militärisches Zubehör in großem Umfang beschlagnahmt.

Guerillaaktionen: 10

Luftoperationen der türkischen Armee: 42

Bodenoperationen der türkischen Armee: 5

Februar

Im Februar finden zahlreiche Angriffe der Guerilla auf die türkische Armee in Heftanîn, Serhed und Xakurke statt. Bei Guerillaaktionen am 21., 23. und 26. Februar kommen in Xakurke zahlreiche Soldaten der türkischen Armee ums Leben. Auch im Zagros-Gebirge ist die Guerilla aktiv.

Guerillaaktionen: 6

Luftoperationen der türkischen Armee: 61

März

Erneut finden in Serhed, Heftanîn und Xakurke effektive Guerillaaktionen statt. Vor allem der Angriff am 2. März in Agirî auf drei Busse, mit denen Soldaten transportiert werden, sowie die Fedai-Aktion von Sema Koçer, bei der am 31. März eine Gas-Pipeline im Grenzgebiet zwischen dem Iran und der Türkei zerstört und zahlreiche Soldaten getötet werden, haben eine Schockwirkung.

Guerillaaktionen: 18

Luftoperationen der türkischen Armee: 78

Bodenoperationen der türkischen Armee: 3

April

Im April macht sich der Frühling bemerkbar und es ist ein großer Anstieg der Guerillaaktionen in Nord- und Südkurdistan zu verzeichnen. Besonders auffällig sind die Aktivitäten in Heftanîn, Serhed, Botan und Dersim, auch in Amed, Avaşîn und Mêrdîn finden Aktionen statt. Am 25. April greift die Guerilla eine türkische Einheit auf dem Tepê Şehîd Şexmus in Heftanîn mit einer Blitztaktik an, dringt in mehrere Stellungen vor und beschlagt zwei Waffen vom Typ MPT-55, zwei Thermalkameras sowie weiteres militärisches Zubehör. Am 23. April überfällt die Guerilla ein Militärlager auf dem Tepê Şehîd Derman in Gever und zerstört mehrere Stellungen. Beschlagnahmt werden Waffen vom Typ BKC, ein Dragunow-Scharfschützengewehr (KNS) und MPT-74 sowie militärische Unterlagen.

Guerillaaktionen: 25

Luftoperationen der türkischen Armee: 61

Bodenoperationen der türkischen Armee: 9

Mai

Im Mai ist ein Anstieg sowohl der Guerillaaktionen als auch der türkischen Operationen zu beobachten. Die Operationen führen nicht zu einem Rückgang der Guerillaaktivitäten. Bei zwei Aktionen im Zap-Gebiet und in Garzan fällt die neue Guerillastrategie ins Auge. Auf dem Hakan-Gipfel in der Zap-Region führt die Guerilla eine plötzlichen Überfall durch, zerstört alle Stellungen der türkischen Armee und stellt eine Waffe vom Typ MPT-76 sicher. Auch im Gebiet Şêx Cuma in Garzan kommt es zu einem blitzartigen Überfall auf türkische Soldaten, die zu einer Operation ausrücken. Die gesamte Einheit wird vernichtet, es werden Waffen vom Typ Bora, BKC und M16, ein Nachtsichtgerät, ein Fernglas, Dokumente und persönliche Gegenstände beschlagnahmt. Weitere effektive Aktionen finden am Rande des Zagros-Gebirges in Gever, Çelê und Şemzînan sowie in Dersim, den Amanos-Bergen, Amed, Serhed, Heftanîn, Xakurke und Botan statt.

Guerillaaktionen: 39

Luftoperationen der türkischen Armee: 106

Bodenoperationen der türkischen Armee: 22

Juni

Im Juni steigert die türkische Armee ihre Militäroperationen. Besonders heftig ist die am 16. Juni unter dem Namen „Klaue 3“ gestartete Operation in Heftanîn. Die türkische Armee mobilisiert alle Mittel am Boden und in der Luft und muss trotzdem heftige Rückschläge einstecken. Der spektakuläre Widerstand, der am 25. Juni von der Guerillakommandantin Esmer Devrim in Şeşdara angeführt wird, lässt alle Besatzungsillusionen der türkischen Armee platzen.

Parallel zu dem Widerstand in Heftanîn finden vor allem in Botan effektive Guerillaaktionen statt. Mittels Sabotagetaktik werden am 15. Juni in den Cûdî-Bergen und am 8. Juni in Kato Xelîla Militärfahrzeuge zerstört und zahlreiche Soldaten und Kontras bestraft. Gegen Ende des Monats intensivieren sich die Kämpfe zunehmend. In Gever, Xakurke, Dersim, Serhed, Zap und Avaşîn finden zahlreiche Aktionen statt.

Guerillaaktionen: 107

Luftoperationen der türkischen Armee: 324

Bodenoperationen der türkischen Armee: 17

Juli

Im Juli gehen die Guerillaaktionen in Heftanîn, Zap, Zagros, Botan und Dersim weiter. Auffallend ist eine Aktionsserie am 12. Juli in Heftanîn. Die auf den Berggipfeln stationierten Einheiten haben alle technischen Mitteln zur Verfügung, trotzdem können sie den Angriffen der Guerilla nicht entgehen. Während der Widerstand in Heftanîn fortgesetzt wird, führt die Guerilla am 17. Juli eine effektive Aktion aus dem Nahabstand in Dersim durch. Am 5. Juli findet in Gever ein Blitzangriff statt, in Çelê werden viele Orte entlang der Grenze zu Aktionsschauplätzen. Am 18. Juli wird ein mit Offizieren besetztes Fahrzeug mittels Sabotagetaktik zerstört. In Botan wird der türkischen Armee am 14. Juli ein schwerer Schlag versetzt. Eine Sondereinheit im Gelände wird eine Zeitlang verfolgt und aus dem Nahabstand vernichtet. In den Amanos-Bergen kommt es bei den zwei Monate andauernden Operationen weiter zu Gefechten zwischen der Guerilla und der türkischen Armee, gleichzeitig macht die Guerilla Aktionen gegen die Operationskräfte.

Guerillaaktionen: 91

Luftoperationen der türkischen Armee: 138

Bodenoperationen der türkischen Armee: 17

August

Die Guerillaaktionen gehen auf einem bestimmten Niveau weiter, bei den Boden- und Luftoperationen der türkischen Armee ist eine Minderung zu beobachten. Am 8. August wagen sich Soldaten der türkischen Armee hinunter ins Pîrbula-Wadi in Heftanîn und werden von der Guerilla in die Zange genommen. Die Soldaten werden von mehreren Seiten aus sehr geringer Entfernung - im Handgranatenabstand - angegriffen. Die türkische Armee wird schwer getroffen und muss sich zurückziehen. Weitere Guerillaaktionen finden in Garzan, Serhed, Xakurke, Dersim, Botan und im Zagros statt. Im Gebiet Çarçela in Gever kommt es zu einem spektakulären Angriff auf einen Sikorsky-Transporthubschrauber. Der Hubschrauber wird getroffen und kann sich bis hinter den nächsten Berggipfel entfernen. Dann ist eine große Explosion zu hören. Nach Angaben örtlicher Quellen ist der Hubschrauber im Mehendê-Wadi abgestürzt, die Trümmer werden umgehend beseitigt. Die türkische Armee, die in den Vorbereitungen für eine umfassende Operation steckt, muss sich schwer getroffen zurückziehen.

Guerillaaktionen: 42

Luftoperationen der türkischen Armee: 125

Bodenoperationen der türkischen Armee: 10

September

Im September beschleunigt die türkische Armee ihre Operationen. Viele verlaufen aufgrund der Guerillaaktionen ohne Ergebnisse. Im Gebiet Masîro in Wan greift eine vom Gebietskommandanten Egîd Civyan angeführte Guerillaeinheit den Koordinationsstab einer am 11. September eingeleiteten Militäroperation an und fügt der türkischen Armee schwere Verluste zu, unter den Toten sind fünf Offiziere. Am 13. September muss sich die Armee zurückziehen. Auch Operationen in Botan und anderen Gebieten in Nordkurdistan, die mit großem Tamtam unter Namen wie „Blitz“ oder „Falle“ gestartet werden, enden als Fiasko. Die Guerillaaktionen gehen in Gever, Çelê, Heftanîn, Xakurke und anderen Gebieten den ganzen September über weiter.

Guerillaaktionen: 21

Luftoperationen der türkischen Armee: 95

Bodenoperationen der türkischen Armee: 21

Oktober

Im Oktober führt die türkische Armee umfassende Operationen durch, um die Guerilla bei den Wintervorbereitungen zu stören. Die Guerilla verübt weitere Aktionen und trifft ernste Vorbereitungen für Angriffe gegen die stattfindenden Operationen. Eine am 2. Oktober am Berg Ararat (Agirî) gestartete Operation wird am 4. Oktober ausgeweitet, es kommt zum Kontakt mit der Guerilla. Am 9. Oktober werden die Gefechte heftiger und die Guerilla versetzt der türkischen Armee schwere Schläge. Eine große Anzahl Militärs, darunter auch Offiziere, wird bestraft. Ihre Leichen bleiben zwölf Stunden lang unter der Kontrolle der Guerilla, es werden Munition und Papiere sichergestellt. Die Operation dauert knapp einen Monat an. In dieser Zeit werden die Operationseinheiten drei Mal ausgewechselt. Die türkische Armee erleidet schwere Verluste und muss sich nach einer verheerenden Niederlage zurückziehen. Bei der Guerilla gibt es keine Toten oder Verletzten, die Operation ist erfolgreich vereitelt worden.

Darüber hinaus finden Luftangriffe der „Şehîd Delal Amed“-Luftverteidigungseinheiten der HPG sowie Sniper- und Sabotageaktionen in Heftanîn statt. Den ganzen Monat lang macht die Guerilla auch in Botan und im Zagros-Gebirge Aktionen. Es ist eine ernste Aktivität der Guerilla gegen die Operationen zu beobachten.

Guerillaaktionen: 18

Luftoperationen der türkischen Armee: 155

Bodenoperationen der türkischen Armee: 12

November

Die türkische Armee hat in Heftanîn eine Lektion erhalten und startet jetzt in aller Stille eine Operation, die einen Teil der Zap-Region umfasst. Am 14. November beginnt an der Grenze nach Çelê auf südkurdischem Boden eine Operation im Gebiet zwischen Qela Bêdewê, Nêrwe und Kînyaniş. Es bleibt unklar, ob es sich um eine lokale oder eine umfassendere Operation handelt. Offenbar tastet sich die türkische Armee vor. Die Guerilla ist jedoch vorbereitet und bremst die Operation gleich am ersten Tag aus. Nach fünftägigen Kämpfen, die von Guerillaaktionen begleitet werden, zieht sich die türkische Armee am 20. November stillschweigend zurück. Unterdessen gehen die Guerillaaktionen in Heftanîn, Xakurke und im Zagros weiter.

Guerillaaktionen: 16

Luftoperationen der türkischen Armee: 72

Bodenoperationen der türkischen Armee: 4

Elfmonatige Bilanz

Zurückblickend lässt sich festhalten, dass die Guerillaaktionen in hohem Tempo vom Frühjahr bis in den Sommer gesteigert worden sind. Im Sommer blieb das Tempo stabil. Die Bodenoperationen der türkischen Armee sind im Herbst intensiviert worden. Ein Blick auf die Luftoperationen und die mit Panzern, Haubitzen und Mörsern abgefeuerten Geschütze verweist auf das gigantische Ausmaß des türkischen Einsatzes. Trotz dieser großen Anstrengungen und der technischen Überlegenheit der Gegenseite konnte die Guerilla ihre Position und ihr Dasein überall bewahren, die Planung der türkischen Armee ist nicht aufgegangen.

Für die ersten elf Monate in 2020 ergibt sich folgende Bilanz:

Guerillaaktionen: 393

Luftoperationen der türkischen Armee: 1257

Bodenoperationen der türkischen Armee: 120

Tote Soldaten und Kontras: 946

Gefallene Guerillakämpfer*innen, deren Identität veröffentlicht ist: 227

Tödliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung

Neben den Angriffen der türkischen Armee auf Guerillagebiete sind mit voller Absicht Massaker an Menschen aus der südkurdischen Zivilbevölkerung begangen worden. Diese Angriffe erfordern eine eigene Analyse. Aus den vorsätzlichen Tötungen in diesem Jahr wurde klar, dass die türkische Armee erbarmungslos gegen das kurdische Volk vorgeht und Massaker verübt. Die Bilder des Luftangriffs auf den belebten Picknick-Platz bei Kuna Masî in der Nähe von Silêmanî am 25. Juni sind unvergessen. Auf unschuldige Menschen aus der Zivilbevölkerung, die sich im Wasser mit ihren Kindern vergnügten, wurden Bomben abgeworfen. Für das gesamte kurdische Volk ist es eine Quelle der Scham, dass nicht nur die internationale Gemeinschaft geschwiegen hat, sondern die Regionalregierung Südkurdistan sich sogar bemüht, die Verbrechen des türkischen Staates zu rechtfertigen. Ein Rückblick auf 2020 erinnert daran, dass die zivilen Massaker eines der Themen sind, die dringend eine Auseinandersetzung erfordern.

Wir wissen von zwei Kommandeuren der irakischen Armee und 22 Zivilist*innen, die von der türkischen Armee in diesem Jahr getötet worden sind. Zehn Menschen wurden verletzt, darunter vier Kinder und zwei Frauen.

Seit 2017 sind in Südkurdistan 173 Zivilist*innen getötet worden. Wenn wir dieser Liste noch Rojava, Şengal und Mexmûr hinzufügen, wird offensichtlich, dass der türkische Staat überall und systematisch blutigen Terror gegen das kurdische Volk ausübt.