Dem kurdischen Menschenrechtler Öztürk Türkdoğan droht in der Türkei eine langjährige Haftstrafe. Gleich drei Verfahren wurden gegen den Ko-Vorsitzenden des Menschenrechtsvereins IHD eingeleitet, in allen Fällen sind die Anklageschriften von den zuständigen Gerichten bereits angenommen worden. Die Beschuldigungen sind schwerwiegend und reichen von der vermeintlichen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation, der öffentlichen Verunglimpfung des Türkentums bis hin zur Beleidigung einer Amtsperson. Sollten alle drei Prozesse mit einer Verurteilung enden, könnte Türkdoğan mehr als zwei Jahrzehnte hinter Gittern verbringen.
Die Klagen gegen Türkdoğan kennzeichnen eines der hartnäckigsten Menschenrechtsprobleme in der von Recep Tayyip Erdoğan dirigierten Türkei und reflektieren bilderbuchartig die Erosion des Rechts bei der türkischen Justiz: Die Verweigerung der Gedankenfreiheit und die Unterdrückung der freien Meinungsäußerung. Der gewichtigste Vorwurf an dem 52-Jährigen, der den IHD seit 2008 mitleitet und zu den Mitbegründern der Menschenrechtsstiftung der Türkei gehört, dürfte jener der behaupteten Mitgliedschaft in einer „mit Waffengewalt kämpfenden Terrorgruppe“ sein. Laut der Oberstaatsanwaltschaft von Ankara würde Türkdoğan „im Einklang mit den Anweisungen” der kurdischen Arbeiterpartei PKK handeln. Als Grundlage werden abweichende Meinungsäußerungen zu sogenannten Tabu-Themen herangezogen, etwa Kritik an der gravierenden Menschenrechtslage im Land – darunter jene in den Haftanstalten und insbesondere auf der Gefängnisinsel Imrali, wo der PKK-Begründer Abdullah Öcalan seit Jahren in erschwerter Isolationshaft sitzt.
Benennung von Massaker an Kriegsgefangenen
Im besonderen widmet sich die Staatsanwaltschaft jedoch der Forderung des IHD-Vorsitzenden nach einer unabhängigen und unparteiischen Untersuchung zum Tod von dreizehn Kriegsgefangenen der PKK, die bei der viertägigen Invasion in Gare im Februar 2021 von der türkischen Armee getötet wurden. Türkdoğan hatte den Vorfall als Kriegsverbrechen und Massaker bezeichnet und die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses gefordert. Zudem rügte er die Regierung dafür, dass etliche Initiativen des IHD für die Freilassung der getöteten Kriegsgefangenen jahrelang in Ankara auf taube Ohren stießen. Kurz darauf griff Innenminister Süleyman Soylu den gesamten IHD-Vorstand in einer Parlamentserklärung verbal an und wünschte ihnen den Tod. In der Folge wurde Öztürk Türkdoğan vorübergehend festgenommen und mit einem Ausreiseverbot belegt.
Bis zu 15 Jahre Haft gefordert
Sollte der Menschenrechtler in diesem Verfahren verurteilt werden, kann er mit bis zu fünfzehn Jahren Freiheitsstrafe belegt werden. Die Anklage beruht auf Artikel 314/2 des türkischen Strafgesetzbuches, der eine Bestrafung zwischen mindestens fünf und maximal zehn Jahren vorsieht. In Verbindung mit der Antiterrorgesetzgebung erhöht sich die Strafe jedoch um die Hälfte. Der Prozess beginnt am 22. Februar und wird an der 19. Großen Strafkammer zu Ankara verhandelt. Der IHD ruft die Öffentlichkeit zur solidarischen Prozessbeobachtung auf.
Verfahren auf Grundlage von Artikel 301
Das zweite Verfahren gegen Türkdoğan wurde auf Grundlage von Paragraf 301 eröffnet. Es handelt sich vermutlich um das bekannteste türkische Gesetz in Europa. Bis 2008 regelte der Artikel noch die „Beleidigung des Türkentums“, auf Druck der EU wurde das Gesetz einer Reform unterzogen. In der überholten Fassung heißt es: „Wer die türkische Nation, den Staat der Türkischen Republik, die Große Nationalversammlung der Türkei, die Regierung der Türkischen Republik und die staatlichen Justizorgane öffentlich herabsetzt, wird mit sechs Monaten bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft.“
Forderung nach einem Ende der Genozid-Leugnung
Gegenstand dieses Verfahrens ist unter anderem eine Erklärung mit dem Titel „Für Gerechtigkeit und Wahrheit – Ende der Leugnung des Genozids am armenischen Volk“, die am 24. April 2017 auf der Webseite des IHD anlässlich des Völkermordgedenktags veröffentlicht wurde. In dem Appell benennt der Menschenrechtsverein die Verbrechen an der armenischen Nation im Osmanischen Reich, denen im Wesentlichen zwischen 1915 und 1917 etwa 1,5 Millionen Menschen zum Opfer fielen, und fordert die Anerkennung und Aufarbeitung des ersten systematischen Genozids im 20. Jahrhundert, den die Türkei bis heute nicht eingesteht und in ihrer Geschichtsschreibung zynisch als „kriegsbedingte Sicherheitsmaßnahme“ zu relativieren versucht. Laut der zuständigen Staatsanwaltschaft sei mit dieser Erklärung der Straftatbestand der „öffentlichen Verunglimpfung der türkischen Nation und des türkischen Staates“ erfüllt.
Die Anklageschrift in diesem Verfahren ist von der 24. Strafkammer des Landgerichts Ankara angenommen worden. Ein Termin für den Prozessauftakt wurde von dem Gericht noch nicht genannt.
Angebliche Beleidigung des Innenministers
Das dritte Verfahren gegen Öztürk Türkdoğan behandelt eine angebliche Beleidigung des Innenministers. Die Anklage bezieht sich auf eine Stellungnahme des IHD vom 29. Juni 2018, die scharfe Kritik an Äußerungen von Soylu im Vorfeld der kurz zuvor stattgefundenen Parlamentswahl beinhaltet. Darin wird Soylu vorgeworfen, eine Reihe von Personen, die den Staat kritisieren oder bei heiklen Themen eine andere als die offizielle Meinung äußern oder die Ahndung von Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Stellen einfordern, öffentlich diffamiert und als „Terroristen“ verleumdet zu haben. Neben dem seit Ende 2016 inhaftierten HDP-Politiker Selahattin Demirtaş bezichtigte der Inneminister auch diverse NGOs und Berufsverbände wie den IHD, die Anwaltskammer und Ärztekammer in Amed (tr. Diyarbakir) sowie die Industrie- und Handelskammer der nordkurdischen Provinz des Terrors. Gegenüber der HDP-Vorsitzenden Pervin Buldan hatte der AKP-Politiker sogar Todesdrohungen ausgesprochen.
Dazu stellte der IHD fest: „Wenn sich der Innenminister der Türkei statt seines Amtes gerecht zu werden wie der Anführer einer kriminellen Vereinigung verhält, sich entsprechend äußert, sich durch permanente Drohungen strafbar macht und entsprechende Anzeigen gegen ihn im Sande verlaufen, bedeutet dies, dass das Recht auf Leben, Unversehrtheit und Sicherheit in diesem Land vollkommen ausgehebelt worden ist. Wir sind an einem Punkt, an dem sich Staatsanwälte als Beschützer solcher Personen aufspielen. Von Gerechtigkeit in der Türkei kann daher nicht mehr die Rede sein.”
Grundlage dieser Anklage gegen Türkdoğan ist Artikel 125/3 des türkischen Strafgesetzbuches, nach dem die Würde, die Ehre oder das Ansehen eines Amtsträgers nicht durch Beleidigung angegriffen werden darf. Weil sich die angebliche Beleidigung gegen ein Parlamentsmitglied richtete und öffentlich begangen worden sei, drohen dem Menschenrechtler bei einer Verurteilung bis zu vier Jahre Gefängnis. Der Prozessauftakt in diesem Fall wurde für den 18. Februar anberaumt. Verhandelt wird an der 60. Strafkammer des Landgerichts Ankara.