Die türkische Invasion im Guerillagebiet Gare in Südkurdistan ist offiziell beendet, doch in der Türkei zeichnet sich nach dem Tod von dreizehn türkischen Kriegsgefangenen der PKK eine neue Stufe der Eskalation ab. Regierung und Armee behaupten, ein Ziel der mit „Selbstverteidigung“ begründeten Operation sei es gewesen, das Schicksal „verschleppter Staatsbürger“ aufzuklären. Bei der Durchsuchung einer Höhle – gemeint ist das Gefangenenlager in Gare – sei man dann auf ihre Leichen gestoßen. Zwölf der Toten seien durch Kopfschüsse getötet worden, ein weiterer durch einen Schuss in die Schulter, meint der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar. Dass sich diese „Bürger“ in PKK-Gefangenschaft befanden, habe man „aus Sicherheitsgründen“ zuvor nicht bekanntgegeben. Demgegenüber wies die Kommandantur des zentralen Hauptquartiers der Volksverteidigung der Guerilla diese Vorwürfe am Sonntag als „Lügen und verdrehte Tatsachen“ zurück: „Die drei Tage andauernden Bombardierungen und die heftigen Gefechte in und außerhalb des Camps haben dazu geführt, dass ein Teil der von uns gefangen genommenen MIT-Angehörigen, Soldaten und Polizisten ums Leben gekommen ist. (…) Der Angriff war nicht auf die Befreiung der Kriegsgefangenen ausgerichtet, sondern auf deren Vernichtung.“ Die Türkei habe sehr genau gewusst, wo sich das Camp befindet.
Nationalismus hat wieder Hochkonjunktur
Die inszenierte Empörung über den Tod der Kriegsgefangenen, die „von der PKK zu Märtyrern gemacht“ worden seien, wird nun gezielt gegen die Demokratische Partei der Völker (HDP) gerichtet. Die Regierungskoalition aus AKP und MHP setzt wieder einmal auf Hetze und Gewalt gegen die HDP als angeblich „verlängerten Arm der PKK“ und appelliert an nationalistische Gefühle. Mit einer geschickt in Szene gesetzten Desinformations- und Diffamierungskampagne, die von Fahrettin Altun, dem Kommunikationsdirektor von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan gelenkt wird, wird die Wut gezielt gegen die demokratische Opposition kanalisiert. „Die HDP ist identisch mit der PKK“, heißt es in Altuns Beiträgen in Online-Netzwerken wie Twitter. In Propagandavideos, die Altun und seine Behörde verbreiten, werden inhaftierte Politikerinnen und Politiker der HDP, darunter die ehemaligen Ko-Vorsitzenden Figen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş, ins Visier genommen. Überall im Netz herrscht eine aggressive Stimmung, die HDP tarne sich nur als politische Partei und sei in Wahrheit die „PKK im Anzug“. Regierungsanhänger und Ultranationalisten rufen immer lauter nach einem Betätigungsverbot und nehmen die Gelegenheit wahr, passende bei Twitter trendende Hashtags mit diskriminierenden, rassistischen und sexistischen Gewaltfantasien zu ergänzen.
HDP: Unsere Bemühungen stießen auf taube Ohren
Die HDP ließ am Sonntag verlauten, den Tod der Kriegsgefangenen zu bedauern, und sprach den Angehörigen der getöteten Soldaten und Polizisten ihr Mitgefühl aus. Richtung Ankara formulierte die Partei scharfe Kritik für die Gare-Invasion und forderte eine offizielle Erklärung, weshalb vorab keine Gespräche für die Freilassung der Kriegsgefangenen geführt wurden. „Während des seit vierzig Jahren andauernden Konflikts, der zehntausende Menschenleben kostete, sind Soldaten, Polizisten und andere Staatsbedienstete immer wieder in Kriegsgefangenschaft geraten.“ Doch als Resultat von Verhandlungen und diplomatischen Bemühungen sowie Initiativen von Menschenrechtsorganisationen und Friedensaktivisten konnte ihre Freilassung in allen Fällen relativ schnell und sicher erreicht werden. Beschuldigungen und Diffamierungen der HDP als Verantwortliche für den Tod der 13 Staatsbediensteten wies die Partei aufs Schärfste zurück.
Schicksal der Kriegsgefangenen Thema im Parlament
In einer ausführlichen Stellungnahme der HDP, die wir nachfolgend leicht gekürzt wiedergeben, heißt es: „Die HDP stand seit der Gefangennahme dieser Soldaten und Polizisten mit deren Familien in Kontakt, um ihren Teil zu den Bemühungen zugunsten von Frieden und Deeskalation der Konflikte beizutragen. Im Zuge ihrer Suche nach Mitteln für die Freilassung ihrer Angehörigen und Kinder haben diese Familien zusammen mit Verantwortlichen des Menschenrechtsvereins IHD in den Jahren 2015, 2016 und 2019 insgesamt vier Mal unsere Fraktion im Parlament besucht und unser Engagement eingefordert. Sowohl im Rahmen dieser Zusammenkünfte als auch mit Presseerklärungen und bei Generalversammlungen des Parlaments haben wir wiederholt unsere Bereitschaft zum Ausdruck gebracht, in dieser Angelegenheit jegliche Aufgaben und alle anderen anfallenden Verantwortlichkeiten zu erfüllen, sofern sich die Regierung und andere Parteien an den Bemühungen für eine Freilassung der Kriegsgefangenen beteiligen. Obwohl die HDP die Forderungen der Angehörigen der Gefangenen und der Öffentlichkeit auf die Tagesordnung der türkischen Nationalversammlung setzte, blieben diese Bemühungen unbeantwortet. Die Regierung reagierte weder positiv noch negativ auf die Bemühungen dieser Familien. Stattdessen spannte sie einige von ihnen in den Sitzstreik vor unserer Parteizentrale in Diyarbakir (ku. Amed, ANF) ein.
Sie könnten heute noch leben
Wie Beispiele aus der Vergangenheit vor Augen führen, wäre es durchaus möglich gewesen, eine Zusammenführung dieser Familien mit ihren vermissten Angehörigen zu gewährleisten. Hierfür hätte die Regierung entsprechende Bemühungen ermutigen und unterstützen und den Weg für eine Delegation aus zivilgesellschaftlichen Akteuren, Friedensaktivisten und einflussreichen politischen Persönlichkeiten freimachen können. Doch diese Regierung, die es vermieden hat, ihre staatliche und humanitäre Pflicht für das Leben und die Freiheit ihrer Bediensteten zu übernehmen, macht es sich nun unglücklicherweise zur Aufgabe, die Verantwortung für ihre Verluste und den im Rahmen einer zwielichtigen Operation billigend in Kauf genommenen Tod ihrer Angehörigen an uns als HDP, die den Familien stets Beistand geleistet hat, aufzubürden. Das ist in jeder Hinsicht gewissenlos.
Appell an internationale Organisationen
Die Regierung ist nicht in der Position, unsere Partei zur Rechenschaft zu ziehen. Im Gegenteil: die Regierung muss Rechenschaft ablegen, gegenüber den Familien der Getöteten und der Gesellschaft. Ebenso steht die PKK in der Verantwortung, die Öffentlichkeit über die genauen Todesumstände ihrer Gefangenen zu informieren. Darüber hinaus sollten die Regierungen von Ankara, Hewlêr und Bagdad es nationalen und internationalen Medien ermöglichen, die Region, in denen es zu diesen Verlusten kam, zu inspizieren. Wir fordern lokale wie und internationale Menschenrechtsorganisationen auf, Maßnahmen zur Untersuchung dieses Vorfalls zu ergreifen. Diese Todesfälle müssen eingehend untersucht werden.“