Die Generalstaatsanwaltschaft von Ankara hat im Eiltempo ein Ermittlungsverfahren gegen Hüda Kaya und Ömer Faruk Gergerlioğlu eingeleitet. Die beiden Abgeordneten der Demokratischen Partei der Völker (HDP) werden beschuldigt, gegen den sogenannten Türkentüm-Paragrafen verstoßen zu haben. Hintergrund ist Kritik an der Bombardierung eines Kriegsgefangenenlagers im südkurdischen Guerillagebiet Gare durch die türkische Armee.
Die am Mittwoch gestartete Invasion in Gare ist am frühen Sonntagmorgen eingestellt worden. Das dortige Camp, in dem den türkischen Sicherheitskräften angehörige Kriegsgefangene festgehalten wurden – Angehörige des Geheimdienstes MIT, Soldaten und Polizisten – wurde drei Tage lang intensiv von der türkischen Armee sowohl aus der Luft als auch vom Boden bombardiert. Während die türkische Führung und regierungsnahe Medien eine Desinformationskampagne zur Gare-Invasion entfacht haben und die Meldung verbreiten, „dreizehn türkische Staatsbürger“ seien durch Schüsse in Kopf und Schulter „zu Märtyrern gemacht“ worden, gab die Kommandantur der Volksverteidigungskräfte heute bekannt, dass der Tod der Kriegsgefangenen absichtlich durch den türkischen Verteidigungsminister Hulusi Akar herbeigeführt worden ist.
HPG: Angriff auf Vernichtung der Kriegsgefangenen ausgerichtet
In einer entsprechenden Stellungnahme der HPG-Kommandantur heißt es: „Das Camp wurde am 10. Februar um fünf Uhr intensiv aus der Luft bombardiert. Im Anschluss fand ein Bodenangriff statt, bei dem jede Form von Kriegstechnologie eingesetzt wurde. Um sich und die Gefangenen zu schützen, haben unsere in dem Camp befindlichen Kräfte unter der Bombardierung den Besatzern die notwendige Antwort gegeben und sie effektiv getroffen. Nach diesem Schlag zog sich die türkische Besatzerarmee ein Stück zurück. Obwohl sie wusste, dass sich dort Gefangene aufhalten, wurde das Camp erneut intensiv von Kampfflugzeugen bombardiert. Die drei Tage andauernden Bombardierungen und die heftigen Gefechte in und außerhalb des Camps haben dazu geführt, dass ein Teil der von uns gefangen genommenen MIT-Angehörigen, Soldaten und Polizisten ums Leben gekommen ist. Dass bei einem derartig heftigen Angriff niemand überlebt, war allen klar, die über militärisches Grundwissen verfügen. Der Angriff war nicht auf die Befreiung der Kriegsgefangenen ausgerichtet, sondern auf ihre Vernichtung. Verantwortlich für den Tod dieser Menschen ist einzig und allein Hulusi Akar.“
Hüda Kaya: Staat verzerrt die Wahrheit
Die Politikerin Hüda Kaya reagierte empört auf die staatlich inszenierte Desinformationskampagne und warf den Behörden vor, die Wahrheit zu verzerren. „Die Familien dieser gefangenen Soldaten haben uns dutzende Male besucht und Gespräche mit unserer Partei geführt. Doch immer, wenn wir Frieden sagten, haben sie [die Regierung] zum Angriff ausgeholt. Jetzt, nachdem die Türkei das Camp bombardiert hat und die Angriffe einstellte, weil der Tod [der Kriegsgefangenen] festgestellt wurde, trauern diejenigen, die Ja zu diesem Kriegseinsatz sagten, den Toten nach“, schrieb Kaya bei Twitter. Auch Gergerlioğlu nutzte den Kurznachrichtendienst, um den türkischen Militäreinsatz in Gare zu kritisieren. Beide Abgeordnete wiesen zudem auf mehrere Initiativen für eine Freilassung und sichere Rückkehr der Kriegsgefangenen hin, auf die Ankara nicht reagiert habe. „Würde eine Atmosphäre des Friedens herrschen, wären diese Menschen noch am Leben“, so Gergerlioğlu.
Etliche Initiativen für Freilassung von Kriegsgefangenen
In der Tat hat es in der Vergangenheit eine Vielzahl von Initiativen zur Freilassung von der Guerilla gefangener türkischer Soldaten und Polizisten gegeben, die in der Regel vom Menschenrechtsverein IHD angestoßen worden waren. Auch im Fall der dreizehn türkischen Staatsbediensteten, die bei den Luftangriffen auf Gare ums Leben gekommen sein sollen, hatte der IHD die Intiative ergriffen, schlussendlich aber vergeblich an die Regierung appelliert. Im Mai 2019 waren dem Menschenrechtsverein von den Kriegsgefangenen der PKK formulierte Briefe zur Weiterleitung an ihre Familien übergeben worden. Darin brachten einige Soldaten ihre Besorgnis über Bombardierungen im Umland des Lagers durch die türkische Luftwaffe zum Ausdruck, zeigten sich jedoch auch enttäuscht über das fehlende staatliche Engagement für ihre Befreiung. Bei der Aushändigung der Briefe waren die betroffenen Familien auch mit der HDP zusammengekommen. „Der Staat lässt unseren Hilferuf unbeantwortet”, beklagten Betroffene damals.
Verfahren auf Grundlage von Artikel 301
Das Verfahren gegen Kaya und Gergerlioğlu wurde auf Grundlage von Paragrafen 301 des türkischen Strafgesetzbuches eröffnet. Es handelt sich vermutlich um das bekannteste türkische Gesetz in Europa. Bis 2008 regelte Paragraf 301 noch die „Beleidigung des Türkentums“, auf Druck der EU wurde das Gesetz einer Reform unterzogen. In der überholten Fassung heißt es mittlerweile: „Wer die türkische Nation, den Staat der Türkischen Republik, die Große Nationalversammlung der Türkei, die Regierung der Türkischen Republik und die staatlichen Justizorgane öffentlich herabsetzt, wird mit sechs Monaten bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft.“
Wirksames Instrument gegen Opposition
Oppositionelle und unliebsame Intellektuelle werden in der Türkei immer wieder wegen der vermeintlichen Herabsetzung des Türkentums vor Gericht gezerrt, um Meinungsfreiheit und Grundrechte einzuschränken. Der 2007 in Istanbul ermordete armenische Journalist Hrant Dink wurde als erster explizit wegen „Beleidigung des Türkentums“ angeklagt und zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Seinem Sohn Arat Dink wurde das Delikt ebenfalls zum Vorwurf gemacht. Die Anwältin und Menschenrechtlerin Eren Keskin dürfte die am häufigsten auf Grundlage des umstrittenen Artikels angeklagte Person in der Türkei sein.