„Wir können die Geschehnisse nicht nur aus unserer eigenen Perspektive betrachten. Wir müssen eine menschenrechtliche Perspektive schaffen“, kommentiert der Abgeordnete Ömer Faruk Gergerlioğlu (HDP) die aktuellen Übergriffe durch türkische Sicherheitskräfte. Insbesondere das Thema der Nacktdurchsuchungen ist erneut durch die Polizeiübergriffe auf die Protestierenden an der Boğaziçi-Universität auf die Tagesordnung gelangt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte bereits 2016 einen Fall von einer Nacktdurchsuchung in der Türkei als Rechtsverletzung verurteilt. Dies hielt das Regime in Ankara allerdings nicht davon ab, diese Praxis fortzusetzen. Im ANF-Gespräch äußert der HDP-Abgeordnete Gergerlioğlu seine Sicht auf die aktuellen menschenrechtlichen Entwicklungen in der Türkei.
Die Nacktdurchsuchungen finden trotz Urteil des EGMR weiterhin statt, wie bewerten Sie diese Lage?
Es ist inakzeptabel, dass noch im 21. Jahrhundert solche primitiven Nacktdurchsuchungen stattfinden. Ich werde diese Angelegenheit auch als Menschenrechtsverteidiger weiter verfolgen. Wir haben nicht die Absicht, dies drei Tage lang zu thematisieren und dann wieder zu vergessen. Wir müssen uns als Gesellschaft damit auseinandersetzen. Schauen Sie, wir haben dieses Problem angesprochen und die Regierung wusste nicht, was sie tun sollte. Ich sagte zu den Frauen, die dieser Praxis ausgesetzt waren: „Schweigt nicht, fürchtet euch nicht, redet darüber.“ Sie haben nun begonnen, über ihr Trauma zu berichtet, sie hatten bisher nicht einmal ihren Familien davon erzählt. Die Frauen sprechen nun, wir haben in den sozialen Medien eine Hashtag-Kampagne begonnen und das Thema kam wie nie zuvor auf die Tagesordnung. Aber gibt es diese Nacktdurchsuchungen erst seit heute? Nein, natürlich findet das schon seit Jahren statt. Das ist auch ein Stück weit eine Frage der Agenda. Wir haben das Thema jetzt an die Öffentlichkeit gebracht. Es ist wichtig, für den Kampf um die Menschenrechte darüber zu reden, es auf die Tagesordnung zu setzen und die Regierung in Erklärungsnot zu bringen. Die Regierung versuchte alles, um diese Praxis zu dementieren. Sie haben alle im Chor das gleiche gesagt und mich ins Visier genommen.
Was heißt das konkret?
Wie Sie wissen, haben die AKP-Fraktionsvorsitzende, die AKP-Sprecher, das Innen- und das Justizministerium und viele andere über mich gesagt, ich sei Anhänger von Fethullah Gülen, ich sei Terrorist und noch so manches weitere. Die Polizeibehörde von Uşak hat uns beschimpft und Strafantrag gestellt. Aber ihnen glaubt trotzdem niemand. Kurz gesagt, die Regierung geriet ins Schwimmen und sie begann, mit Beleidigungen und Lügen um sich zu werfen. Sie haben die schlimmsten Beleidigungen, die man einem Abgeordneten sagen kann, ausgestoßen. Aber sie können es noch so sehr abstreiten, ich bin mir sicher, dass die Anschuldigungen zutreffen, daher bin ich auch im Parlament in diesem Sinne sehr entspannt, denn ich habe aus allen Bereichen Berichte über solche Nacktdurchsuchungen erhalten.
Wenn Sie sagen, Sie haben aus allen Bereichen Berichte über Nacktdurchsuchungen erhalten, was bedeutet das für die Menschenrechtsarbeit in der Türkei und Nordkurdistan?
Dies ist ein sehr wichtiger Punkt, da beim Kampf um Menschenrechte nicht diskriminiert oder anhand der Identität ausgewählt werden darf. Wenn Sie ohne Unterschied für Menschenrechte kämpfen, dann wird Sie der Staat massiv attackieren. Wenn Sie der Staat angreift, sind Sie stark, weil breite Teile der Gesellschaft an Ihrer Seite stehen. Schauen Sie, was wir tun, ist der Gesellschaft eine Lektion in Menschenrechten zu erteilen, weil wir sehen, wie sich die Gesellschaft von den Menschenrechten, von der Demokratie wegbewegt. Ich versuche damit folgendes zu sagen: Man darf nicht nur schreien, wenn jemand einem auf den eigenen Fuß tritt, sondern muss die Stimme gegen jedes Unrecht erheben. In diesem Sinne habe ich bisher jeden Punkt auf die Tagesordnung gesetzt. Es ist nicht so einfach wie es scheint, für das Problem eines anderen zu einzutreten, aber wenn Sie es tun, dann treten bei den Menschen nicht Hass und Diskriminierung, sondern humanistische Emotionen und das Gewissen zu Tage. Ich erlebe das immer wieder, wenn ich die Probleme aus den verschiedensten Bereichen der Gesellschaft zur Sprache bringe. Ich fordere alle Teile der Gesellschaft auf, genau das zu tun. Wir können die Dinge nicht nur aus unserer Perspektive betrachten. Wir müssen eine Menschenrechtsperspektive schaffen. Mein ganzes Leben lang war ich vielen Angriffen im Kampf für die Menschenrechte ausgesetzt. Mir wurde gesagt, ich sei Gülenist, PKKler, Armenier und was auch immer. Ich bin jedoch ein Menschenrechtsverteidiger – ist das so schwer zu verstehen? Gibt es etwas ehrenhafteres als die Verteidigung von Menschen, deren Rechte verletzt wurden? Natürlich gibt es ein Problem damit auf gesellschaftlicher Ebene, aber ich denke, es wird überwunden werden, und die Gesellschaft kann das lernen. Wenn sich eine Menschenrechtsperspektive entwickelt, wird die Messlatte an Recht und Demokratie im Land steigen.
Trotz der Beschuldigungen durch die Regierung werden Sie aber noch von den verschiedensten Kreisen kontaktiert, nicht wahr?
Natürlich. Schauen Sie, es gibt Beleidigungen und Prügel in Haftanstalten. Das passiert auch den Angehörigen von Gefangenen oder ihren Kindern. So werden bei weiblichen Gefangenen die Binden kontrolliert. Sie müssen die Unterwäsche ausziehen und ihre Binden zeigen. Das ist erniedrigend und entwürdigend. Sie machen auch die Windeln von Babys auf. Wenn man den Verantwortlichen in den Institutionen diese Vollmachten gibt, dann gibt es nichts, was sie nicht tun würden. Das Ministerium verschleiert alle Verstöße. Die Rechtsverletzungen gehen weiter. Das ist das Problem. So werden Leute aus politischen Gründen suspendiert, ihre Pässe annulliert. Das Gleiche wird dann auch noch mit ihren Ehepartnern gemacht. Die Schwiegermutter eines von einer Suspendierung Betroffenen ist behindert und ihre Sozialleistungen werden wegen der Suspendierung annulliert. Oder man versucht eine Fortbildung zu bekommen, dann heißt es, der Staat hat Sie als Terrorist erfasst, Sie können keine Fortbildung erhalten. Die Situation von Frauen im Gefängnis ist sehr schlecht. Sie können aufgrund der Pandemie seit über einem Jahr ihre Kinder nicht sehen. Familien, in denen die Eltern ins Gefängnis kommen, werden getrennt und die Lage der Kleinkinder im Gefängnis ist ohnehin absolut bitter.
So rief mich immer wieder ein älterer Herr an. Er stammt aus Erzurum und hat zwei Kinder. Seine Tochter ist behindert. Sein Sohn wurde aus politischen Gründen suspendiert. Er hatte die Fakultät abgeschlossen und als Anwalt zu arbeiten versucht. Der alte Mann hatte mich bereits zwei oder drei Mal angerufen. Er hatte mir gesagt: „Herr Abgeordneter, hört denn diese Ungerechtigkeit nie auf. Ich erhalte 1.600 Lira [etwa 176 Euro] Rente und möchte meinem Sohn 200 bis 300 Lira schicken.“ Gestern rief er erneut an und erzählte, sein Sohn habe vor vier Monaten einen Herzinfarkt erlitten und sei verstorben. Sein Sohn war 43 Jahre alt, hat zwei Kinder und sein Körper konnte offensichtlich das Leid nicht mehr ertragen. Der alte Mann sagte: „Ich war fertig, deswegen konnte ich nicht anrufen. Sie haben mich und meinen Sohn fertig gemacht.“ Die Menschen hier erleiden so furchtbare Dinge, der Sohn dieses Manns sollte Anwalt werden, durfte es aber alleine aufgrund dieser Verordnungen (KHK) nicht. Und am Ende starb er vor Trauer. Die Familie dieses Mannes ist zerstört.
Und es gibt viele weitere Fälle. Ein Beispiel ist auch ein Vater, der im Gefängnis ist und die Kinder kommen in Kontakt mit Drogen und der Mafia. Er war Beamter und seine Kinder stürzten in diese Lage. Sollte das jemanden geschehen, weil er im Gefängnis sitzt? Ich verstehe wirklich nicht, wie es so viel Feindseligkeit des Staates gegenüber einem Bürger gibt. Aber nicht nur im Gefängnis, durch jede Institution geht der Staat grausam vor. Der Staat darf nicht so sein, er sollte seine Bürger schützen, denn die Institutionen dieses Staates bestehen für seine Bürgerinnen und Bürger.