Erdoğan nennt protestierende Studenten „Terroristen“

Der türkische Regimechef hat die Studierenden-Proteste gegen die Ernennung eines Zwangsverwalters zum Rektor der Boğaziçi-Universität als von Terroristen initiiert bezeichnet. Die CHP-Politikerin Canan Kaftancıoğlu nannte Erdoğan eine „DHKP-C-Militante“.

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan hat die Studierenden-Proteste gegen die Ernennung eines Zwangsverwalters zum Rektor der Istanbuler Boğaziçi-Universität als „von Terroristen initiiert“ bezeichnet. „Dahinter stecken ja keine Studenten, das sind Terroristen. Auch die Istanbuler CHP-Vorsitzende ist dort. Sie selbst ist ohnehin eine Militante der DHKP-C“, sagte der AKP-Chef nach dem Freitagsgebet in Istanbul.

Mit der zur vermeintlichen Militanten der in der Türkei als Terrororganisation verfolgten „Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front“ diffamierten CHP-Vorsitzenden von Istanbul meint Erdoğan die Politikerin und Ärztin Canan Kaftancıoğlu. Die 48-Jährige hatte sich mit der Widerstandsbewegung der Studierendenschaft solidarisiert. Seit Montag protestieren Studierende der Boğaziçi-Universität und anderer Hochschulen gegen die Einsetzung von Melih Bulu als Leiter. Gleich am ersten Tag kam es zu massiver Polizeigewalt auf dem Campus, am Dienstag und Mittwoch folgten martialische Hausdurchsuchungen an diversen Adressen, bei denen mehrere Dutzend Studierende festgenommen wurden. Am Donnerstagabend wurden 24 der Betroffenen gegen Meldeauflagen auf freien Fuß gesetzt. Viele von ihnen sind in Polizeigewahrsam gewalttätigen Nacktdurchsuchungen unterzogen worden.

Bei seiner Rede nach dem Freitagsgebet verteidigte Erdoğan erneut die Einsetzung Bulus. Er sei in Einklang mit geltendem Recht eingesetzt worden und sei „angemessen“ für die Position. Der 50-Jährige ist langjähriger Parteigänger von Erdoğans AKP, der vergeblich 2015 für ein Parlamentsmandat kandidierte und 2011 mit Plagiatsvorwürfen seiner Promotionsarbeit konfrontiert war. Erstmals seit 40 Jahren wurde mit Bulu ein Staatskommissar als Hochschulrektor per Dekret von Präsident Erdoğan eingesetzt. Kritiker*innen sehen darin eine Verletzung der Wissenschaftsfreiheit. Die Studierenden verurteilten die Ernennung aber auch als undemokratisch und gegen die Tradition der Universität, ihre Direktoren selbst zu wählen. Derweil haben Student*innen der Boğaziçi-Universität das Hinweisschild des Rektorats mit einem eigenen Design versehen: „Treuhänderschaft“, steht dort jetzt am Eingang des Amtes von Bulu.

Neues Hinweisschild für Zwangsverwalter Melih Bulu

Zerschlagung der universitären Autonomie

Seit Inkrafttreten des Präsidialsystems im Juli 2018 ist Erdoğan alleine berechtigt, Rektoren an Universitäten einzusetzen, da nahezu alle restriktiven Elemente aus der Notstandsregelung in die Gesetzgebung der „neuen Türkei” übernommen worden sind. Doch bereits mit dem Ausnahmezustand nach dem Putschversuch im Juli 2016 war den Hochschulen ihr Recht entzogen worden, ihre Direktoren selbst zu wählen. Zudem wurden in den letzten viereinhalb Jahren insgesamt 15 private Hochschulen auf Betreiben des Präsidenten geschlossen und ihre Vermögenswerte konfisziert. Über 6.000 Hochschullehrende und 1.500 Verwaltungsangestellte an 122 Universitäten wurden ohne Gerichtsbeschluss entlassen und abertausende Studierende zwangsexmatrikuliert.

Kaftancıoğlu schon länger im Visier der AKP

Canan Kaftancıoğlu ist allerdings schon länger im Visier von Erdoğan und seiner AKP. Kurz nach dem Sieg der CHP bei den Kommunalwahlen in Istanbul im März 2019 wurde sie wegen Terrorvorwürfen, Volksverhetzung, Präsidentenbeleidigung, Beamtenbeleidigung und Verunglimpfung des Staats angeklagt. Nur ein halbes Jahr später folgte die Verurteilung Kaftancıoğlus wegen alter Twitter-Beiträge zu fast zehn Jahren Haft. Unter anderem ging es auch um einen Eintrag über die kurdische Revolutionärin Sakine Cansız, die am 9. Januar 2013 zusammen mit ihren Weggefährtinnen Fidan Doğan und Leyla Şaylemez von einem Auftragsmörder des türkischen Geheimdienst MIT in Paris hingerichtet wurde. Anfang der Woche ließ ein Gericht in Istanbul eine weitere Anklage gegen die CHP-Politikerin zu.