Von den mindestens 37 Studierenden, die im Laufe der Woche im Zusammenhang mit den Protesten gegen die Ernennung eines dubiosen Erdoğan-Günstlings zum Rektor der Istanbuler Elite-Universität Boğaziçi festgenommen worden waren, sind 24 wieder auf freiem Fuß. Ein Gericht im Justizpalast Çağlayan verhängte am späten Donnerstagabend Meldeauflagen gegen die Betroffenen, die teilweise bei martialischen Hausdurchsuchungen in Gewahrsam genommen wurden. Den ganzen Tag über hatte vor dem Gerichtsgebäude eine Kundgebung stattgefunden, an der sich neben zahlreichen Studierenden auch Aktivistinnen und Aktivisten der Zivilgesellschaft sowie Parlamentsabgeordnete beteiligten, darunter Züleyha Gülüm und Oya Ersoy von der HDP, Sezgin Tanrıkulu von der CHP und der unabhängige Abgeordnete Ahmet Şık.
Staatsanwalt fordert für LGBTI+Person U-Haft
Für 22 Studierende hatte die Staatsanwaltschaft die sogenannte Meldeauflage selbst als „präventive Maßnahme“ für ausreichend betrachtet, sodass sich die richterliche Vernehmung nicht weiter in die Länge zog. Im Fall der LGBTI+Person Yıldız Idil Şen sowie Azad Aksoy wurde ein Antrag auf Erlass eines Haftbefehls eingereicht, den der diensthabende Richter allerdings zurückwies. Şen und Aksoy gehören zu den Studierenden, die in Polizeigewahrsam gewalttätigen Nacktdurchsuchungen unterzogen worden sind und denen mit Vergewaltigung und dem Tod gedroht wurde. Die Freigelassenen zeigten sich jedoch unbeeindruckt von der Repression türkischer Justiz- und Sicherheitsbehörden gegen die Studierendenschaft und kündigten an, den „Widerstand für die freie Universität“ fortzusetzen.
Hintergrund der Proteste
Seit Montag protestieren Studierende der Boğaziçi-Universität und anderer Hochschulen gegen die Einsetzung von Melih Bulu als Leiter. Erstmals seit 40 Jahren wurde damit ein Staatskommissar als Hochschulrektor per Dekret von Präsident Erdoğan eingesetzt. Kritiker*innen sehen darin eine Verletzung der Wissenschaftsfreiheit. Die Studierenden bezeichnen die Ernennung des 50-jährigen Politikers als Zerstörung der universitären Autonomie.
Melih Bulu, ein langjähriger Parteigänger von Erdoğans AKP, der 2011 mit Plagiatsvorwürfen seiner Promotionsarbeit konfrontiert war und vergeblich 2015 für ein Parlamentsmandat kandidierte, hat bereits angekündigt, jeglichen Protest an „seiner“ Universität im Keime zu ersticken. Seine Ernennung folgt auf tausende politisch motivierte Entlassungen, Exmatrikulationen und Verhaftungswellen seit dem Putschversuch im Juli 2016. Früher wurden die Hochschulrektoren in der Türkei intern gewählt. Da nahezu alle restriktiven Elemente aus der Notstandsregelung in die Gesetzgebung der „neuen Türkei” übernommen worden sind, hat Erdoğan inzwischen Zugriff auf die Hochschulen und kann Rektoren ernennen.
WUS: Studierende für Erdoğan „Terroristen“
Der World University Service (WUS) warnte ebenfalls vor der Zerschlagung der Autonomie von Universitäten in der Türkei. „Präsident Erdoğan sieht in den Hochschulen des Landes nur angebliche Terroristen, die es zu eliminieren gilt und hierzu sind ihm alle Mittel recht. So hat er seit 2016 insgesamt 15 private Hochschulen geschlossen und ihre Vermögenswerte konfisziert. Über 6.000 Hochschullehrende und 1.500 Verwaltungsangestellte an 122 Universitäten wurden ohne Gerichtsbeschluss gefeuert und abertausende Studierende zwangsexmatrikuliert“, kritisierte der WUS-Vorsitzende Dr. Kambiz Ghawami am Donnerstag mit Blick auf die Entwicklungen in der Türkei.
Erdoğan schmückt sich mit einem gefälschten Universitätsdiplom
Erdoğan gehe es um eine systematische Abschaffung des demokratischen, laizistischen und sozialen Rechtsstaats, so Ghawami. Hierzu gehöre auch die Abschaffung jeglicher Hochschulautonomie. „Weder für Melih Bulu noch für Recep Tayyip Erdoğan gelten rechtsstaatliche Grundsätze und akademische Normen. Bulu plagiiert und Erdoğan schmückt sich mit einem gefälschten Universitätsdiplom aus dem Jahre 1981 der Marmara-Universität. Dies benötigte Erdoğan, um der Grundvoraussetzung der türkischen Verfassung (Arikel 101) gerecht zu werden, um für das Amt des Staatspräsidenten kandidieren zu können. Die Marmara-Universität wurde aber erst 1982 gegründet. Der Dekan und der Rektor der Universität, die beide die Urkunden unterschrieben haben sollen, nahmen ihre Tätigkeiten auch erst 1982 auf. Ein klarer Fall für die Staatsanwaltschaft in der Türkei, die aber untätig blieb und bleibt“, hieß es in einer Stellungnahme.