Knapp einem Dutzend Abgeordneten aus der parlamentarischen Fraktion der Demokratischen Partei der Völker (HDP) droht die Aufhebung ihrer Immunität. Hintergrund ist ein von der Oberstaatsanwaltschaft Ankara geführtes Ermittlungsverfahren gegen insgesamt 26 Mitglieder des HDP-Zentralvorstands wegen vermeintlichem Verstoß gegen den sogenannten „Türkentum“-Paragrafen 301, berichtet das Nachrichtenportal T24. Die Staatsanwaltschaft habe bei Justizminister Abdülhamit Gül bereits beantragt, die Strafverfolgung gegen die HDP-Leitung zu genehmigen. Dieser gehören insgesamt elf Abgeordnete an, darunter die Vizefraktionsvorsitzenden Meral Danış Beştaş und Saruhan Oluç sowie Garo Paylan, Feleknas Uca und Ümit Dede. Eine Entscheidung von Gül wird für Jahresbeginn erwartet.
Umstrittenster Artikel
Bei Artikel 301 handelt sich vermutlich um das bekannteste türkische Gesetz in Europa. Bis 2008 regelte er noch die „Beleidigung des Türkentums“, auf Druck der EU wurde das Gesetz einer Reform unterzogen. In der überholten Fassung heißt es: „Wer die türkische Nation, den Staat der Türkischen Republik, die Große Nationalversammlung der Türkei, die Regierung der Türkischen Republik und die staatlichen Justizorgane öffentlich herabsetzt, wird mit sechs Monaten bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft.“ Verfahren nach Artikel 301 sind von der Ermächtigung des Justizministers abhängig.
Benennung des Genozids gilt als Straftat
Gegenstand des Ermittlungsverfahrens ist laut dem T24-Bericht die Benennung des Genozids an der armenischen Nation im Osmanischen Reich. In einer Stellungnahme, die am 24. April 2021 anlässlich des Völkermordgedenktages veröffentlicht worden war, fordert der HDP-Vorstand die Anerkennung und Aufarbeitung der Verbrechen, denen im Wesentlichen zwischen 1915 und 1917 etwa 1,5 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Die Oberstaatsanwaltschaft Ankara sieht in dieser Erklärung eine „eklatante Beleidigung“ des türkischen Staates und seiner Nation. Sie würden eines Völkermords bezichtigt, der gar nicht stattgefunden habe. Die Begründung ist haarsträubend: „Genozid ist seit der UN-Konvention [über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes] von 1948 ein Straftatbestand im Völkerstrafrecht. Daher kann gegen eine Nation oder Gemeinschaft keine Anschuldigung des Genozids aufgrund schmerzvoller Erfahrungen erhoben werden, die zu irgendeinem Zeitpunkt vor 1948 erlebt wurden. Um eine Tat zum Völkermord zu erklären, bedarf es eines Urteils eines zuständigen Gerichts. Im Hinblick auf die Ereignisse im Jahr 1915 liegt jedoch kein derartiges Urteil vor.“ Wird das Gegenteil behauptet, seien die Grenzen der zulässigen Kritik, die von der Meinungsfreiheit abgedeckt werden, überschritten. Dies gelte auch für Abgeordnete der türkischen Nationalversammlung, die den Eid abgelegt hätten, die Verfassung und die Gesetze zu beachten und die Pflichten ihres Amtes gewissenhaft zu erfüllen.
Staatsanwalt verzerrt europäische Rechtsprechung
In dem zehnseitigen Ermittlungsbericht zitiert die Staatsanwaltschaft auf neun Seiten aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) im Zusammenhang mit Meinungsfreiheit. Im Besonderen wird sich der Causa Doğu Perinçek gegen die Schweiz gewidmet, allerdings in verzerrter Form. Der türkische Nationalist hatte 2005 den Genozid am armenischen Volk während Auftritten in der Schweiz als „internationale Lüge“ bezeichnet. Es habe „ethnische Konflikte, Abschlachtungen und Massaker zwischen Armeniern und Muslimen“ gegeben, aber „keinen Völkermord“. Für diese Äußerungen war Perinçek mit Verweis auf die schweizerische Rassismus-Strafnorm verurteilt worden. Zu Unrecht, urteilte der EGMR Ende 2013 und sah einen Verstoß gegen das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung gegeben. Zwei Jahre später bestätigte die Große Kammer mit zehn gegen sieben Stimmen das erstinstanzliche Urteil, gegen das die Schweiz Rechtsmittel eingelegt hatte. Der EGMR argumentierte, die umstrittenen Äußerungen seien nicht als ein „Angriff auf die Würde“ der Armenier:innen zu werten, der eine strafrechtliche Antwort der Schweizer Justiz erforderte. Kein internationales Gesetz verpflichte die Schweiz, solche Äußerungen zu kriminalisieren. Die Schweizer Gerichte hätten den Kläger offenbar dafür bestraft, dass seine Meinung von „den in der Schweiz etablierten“ Meinungen abweiche.
Die Oberstaatsanwaltschaft Ankara sieht in dem EGMR-Urteil zu Perinçek eine Bestätigung für die offizielle Staatsideologie der Türkei, es habe keinen Genozid am armenischen Volk, sondern lediglich „kriegsbedingte Sicherheitsmaßnahmen“ gegeben. Der Hinweis auf die ‚erst‘ 1948 beschlossene UN-Völkermordkonvention – der Text wurde maßgeblich von Raphael Lemkin formuliert, der den Begriff des Genozids 1944 unter dem Eindruck der Vernichtung der armenischen Nation und der Vernichtung der Juden geprägt hatte – soll wohl besagen, dass das Verhalten der türkischen Täter nicht mit einer juristischen Kategorie belegt werden könne, da diese zu seinem Zeitpunkt noch gar nicht existierte. Der krankhafte „Armenierhass“ scheint allgegenwärtig zu sein.
301: Wirksames Instrument gegen Opposition
Oppositionelle und unliebsame Intellektuelle werden in der Türkei immer wieder wegen der vermeintlichen Herabsetzung des Türkentums vor Gericht gezerrt, um Meinungsfreiheit und Grundrechte einzuschränken. Der 2007 in Istanbul ermordete armenische Journalist Hrant Dink wurde als erster explizit wegen „Beleidigung des Türkentums“ angeklagt und zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Seinem Sohn Arat Dink wurde das Delikt ebenfalls zum Vorwurf gemacht. Die Anwältin und Menschenrechtlerin Eren Keskin dürfte die am häufigsten auf Grundlage des umstrittenen Artikels angeklagte Person in der Türkei sein. Gegen sie wurde dutzende Male Anklage wegen Verstoß gegen § 301 erhoben, auch aktuell sind etliche Verfahren anhängig.