Der unabhängige Parlamentsabgeordnete Ümit Özdağ hat dem armenischen HDP-Politiker Garo Paylan mit einer „Talat-Pascha-Erfahrung“ gedroht. Talat Pascha war Innenminister im Osmanischen Reich und stellte die Spitze des Komitees für Einheit und Fortschritt. Er gilt als Hauptverantwortlicher und Architekt des jungtürkischen Genozids an den Armenierinnen und Armeniern, der 1915 mindestens 1,5 Millionen Menschen das Leben kostete. Paylan hatte anlässlich des Völkermordgedenktags am 24. April kritisiert, dass es in der Türkei nach wie vor Schulen und Straßen gibt, die nach Talat Pascha benannt sind. Die derzeitige Situation im Land sei zu vergleichen mit einem Nachkriegsdeutschland, in dem Bildungseinrichtungen und Straßen den Namen von Adolf Hitler tragen würden.
„Du unverschämter provokanter Typ. Wenn du hier nicht glücklich bist, hau ab auf den Grund der Hölle. Talat Paşa hat keine vaterlandsliebenden Armenier vertrieben, aber Menschen wie dich, die von hinten angreifen. Auch du solltest und wirst zu gegebener Zeit eine Talat-Paşa-Erfahrung machen”, schrieb Özdağ im Kurznachrichtendienst Twitter und verlinkte den Beitrag Paylans. Dieser bezeichnete den ehemaligen Abgeordneten der nationalistischen IYI-Partei, einer Abspaltung der rechtsextremen MHP, als Faschisten: „Das Überbleibsel der Mentalität, die mein Volk vernichtete, sagt ‚Wir machen es wieder‘. Habt ihr etwa geschossen, ohne dass wir gestorben sind? Wir sind es. Aber diejenigen, die zurückblieben, haben den Kampf um Gerechtigkeit niemals aufgegeben. Auch nach mir werden sie es nicht. Die Mehrheit dieses Landes mit einem Gewissen hat Faschisten wie dir den Platz nicht überlassen und wird es auch nicht.”
„Daschnaken-Virus im Blut“
Özdağ ging sogar noch weiter und bezeichnete Paylan daraufhin als „Überrest der Daschnaken“; der Armenischen Revolutionären Föderation (ARF), die im Osmanischen Reich für Autonomie kämpfte, als „verlängerter Arm“ der sich 1988 aufgelösten Armenischen Geheimarmee zur Befreiung Armeniens (ASALA), und als „PKK-Sympathisant“. In Paylans Blut fließe ein Virus namens „Daschnaken-ASALA-PKK“, außerdem sei er ein „bösartiger Feind der türkischen Nation“. Kritik des CHP-Politikers und ehemaligen Botschafters in Großbritannien, Ünal Çeviköz, wies Özdağ entschieden zurück. Für ihn sei Çeviköz nicht mehr länger Türke.
IHD erstattet Anzeige
Die Kommission gegen Rassismus und Diskriminierung des Menschenrechtsvereins IHD hat Anzeige gegen Özdağ erstattet. Mit der von den Rechtsanwältinnen Eren Keskin und Jiyan Kaya sowie den Aktivistinnen Gülistan Yarkın, Meral Çıldır und Ayşe Günaysu bei der Oberstaatsanwaltschaft von Ankara eingereichten Beschwerde soll Özdağ nicht nur wegen Bedrohung sowie Anstiftung zu Hass, Feindschaft oder Erniedrigung nach Artikel 216 (Paragraph entspricht nach deutscher Rechtsprechung der Volksverhetzung) strafrechtlich gerügt werden. Die Beschwerdeführerinnen machen zudem geltend, dass ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot nach Artikel 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention vorliegt.
Verfahren gegen Anwaltskammer wegen Genozidbennenung
Die Generalstaatsanwaltschaft von Diyarbakır (ku. Amed) hat derweil ein Ermittlungsverfahren gegen den Vorstand der dortigen Rechtsanwaltskammer eingeleitet. Der Vorwurf gegen die Organisation lautet: „Herabwürdigung der türkischen Nation, des Staates der Republik Türkei, seiner Institutionen und Organe“. Hintergrund des Verfahrens ist eine Erklärung der Anwaltskammer zum Völkermordgedenktag mit der Überschrift „Wir teilen den Schmerz dieser großen Katastrophe“, in der der den Massenmord an der armenischen Bevölkerung als Genozid benannt wird. Das Verfahren gegen den Kammervorstand wurde auf Grundlage von Paragraf 301 des türkischen Strafgesetzbuches eröffnet. Bis 2008 regelte der Artikel noch die „Beleidigung des Türkentums“, auf Druck der EU wurde das Gesetz einer Reform unterzogen. In der überholten Fassung heißt es: „Wer die türkische Nation, den Staat der Türkischen Republik, die Große Nationalversammlung der Türkei, die Regierung der Türkischen Republik und die staatlichen Justizorgane öffentlich herabsetzt, wird mit sechs Monaten bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft.“
Völkermord an den Armeniern
Aghet, Katastrophe, oder Mec Eghern, das große Verbrechen, nennt die armenische Bevölkerung den Völkermord von 1915, den die Türkei als Nachfolgerin des Osmanischen Reiches bis heute nicht eingesteht und in ihrer Geschichtsschreibung als „kriegsbedingte Sicherheitsmaßnahme“ zu relativieren versucht. Der Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Völkern sowie Eziden im Osmanischen Reich ist der erste systematische Genozid des 20. Jahrhunderts.