Dem armenischstämmigen HDP-Abgeordneten Garo Paylan droht wie acht weiteren Mitgliedern seiner Fraktion im türkischen Parlament im Zusammenhang mit dem „Kobanê-Verfahren“ der Entzug der Immunität. Entsprechende Anträge sind am Freitag in der Nationalversammlung eingegangen und an den parlamentarischen Gerechtigkeitsausschuss überwiesen worden. Die Ersuchen beinhalten eine Zusammenfassung der vermeintlichen Erkenntnisse der Generalstaatsanwaltschaft Ankara aus dem sogenannten Kobanê-Verfahren und richten sich neben Paylan gegen die Ko-Vorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Pervin Buldan, sowie gegen Fatma Kurtulan, Hüda Kaya, Meral Danış Beştaş, Saruhan Oluç, Serpil Kemalbay, Sezai Temelli und Pero Dündar.
Das Verfahren gegen die Abgeordneten bezieht sich auf die Proteste gegen die türkische Unterstützung für die Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) beim Überfall und der anschließenden Belagerung der westkurdischen Stadt Kobanê in Nordsyrien im Oktober 2014. Wenn der parlamentarische Ausschuss der Aufhebung der Immunität zustimmt, werden die Anträge zur endgültigen Entscheidung in die Nationalversammlung eingebracht. Insgesamt sind im Kobanê-Verfahren 108 Personen angeklagt, ein Großteil setzt sich aus Politikerinnen und Politikern der HDP und Akteur*innen der kurdischen Zivilgesellschaft zusammen. In allen Fällen fordert die Generalstaatsanwaltschaft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates und der Gesamtheit des Landes“ lebenslange Haft, außerdem werden ihnen 37-facher Mord und dutzende Mordversuche vorgeworfen.
„Liebe Figen, liebe Leyla, lieber Selahattin“ das Loben von Straftätern?
Im Fall von Garo Paylan ist eine der zahlreichen Begründungen für den geforderten Immunitätsverlust besonders absurd. Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara wirft dem 49-Jährigen aufgrund der Aussage „Für den lieben Selahattin Demirtaş, die liebe Figen Yüksekdağ und die liebe Leyla Güven sollten wir den Tyrannen an den Wahlurnen ihre wohlverdiente Lektion erteilen“ die Billigung von Straftaten oder das Loben von Straftätern vor. Besagten Satz äußerte Paylan im März 2019, wenige Tage vor der Kommunalwahl, und spielte auf die „unrechtmäßige Untersuchungshaft“ der drei HDP-Politiker*innen an. Selben Vorwurf erhebt die Behörde auch im Zusammenhang mit Twitter-Beiträgen Paylans zum inhaftierten Bürgerrechtler Osman Kavala sowie zu seiner Unterstützung für die Studierenden-Proteste an der Istanbuler Boğaziçi-Universität und die Gezi-Proteste 2013.
Anträge der Staatsanwaltschaft gleichen „Sackersuchen“
Paylan bezeichnet die Anträge auf Aufhebung der Immunität der HDP-Abgeordneten als „Sackersuchen“- in Anlehnung an das sogenannte Sackgesetz („Torba Yasası”), in dem verschiedene Gesetze gleichzeitig geändert werden. Das Parlament erleichtert sich damit die Abstimmung, indem verschiedene Gesetzgebungsvorhaben gebündelt und auf einmal abgestimmt werden. „Es gibt keinen einzigen Beweis für einen begründeten Verdacht, dass wir uns bei den Kobanê-Protesten irgendetwas haben zuschulden kommen lassen. Wie es aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hervorgeht, haben wir lediglich von unserem verfassungsmäßig garantierten Recht auf Protest Gebrauch gemacht“, so Paylan. Für die teils tödlichen Vorfälle im Verlauf der Aktionen sei einzig die Regierung verantwortlich.
Keine Anklageschrift, sondern politisches Komplott
„Im Übrigen würde ich mich hüten, die Anklageschrift im Kobanê-Verfahren als solche zu bezeichnen. Vielmehr handelt es sich um das Drehbuch eines politischen Komplotts. Es geht darum, die HDP aus dem Bereich der demokratischen Politik zu verdrängen“, führte Paylan weiter aus. Es sei eine staatliche Operation, die die Zersetzung der gesamten Opposition zum Ziel habe. „Es liegt an den Oppositionsparteien und vor allem an der Gesellschaft, diese Operation ins Leere laufen zu lassen.“ Inzwischen liegen in der türkischen Nationalversammlung auch im Fall der HDP-Abgeordneten Ayşe Sürücü, Ayşe Acar Başaran, Berdan Öztürk, Feleknas Uca, Hişyar Özsoy, Züleyha Gülüm, Dersim Dağ, Sıdık Taş, Sait Dede, Dirayet Dilan Taşdemir und Oya Ersoy sowie der DBP-Abgeordneten Saliha Aydeniz Anträge zum Entzug der Immunität vor.