Bakırhan: „Demokratie ist unser Kurs, Frieden unser Ziel“

Tuncer Bakırhan fordert einen demokratischen Neubeginn in der Türkei – mit einem Gesellschaftsvertrag, Überwindung von Ausgrenzung, Wiederherstellung von Vertrauen und einem Friedenspakt, der über Parteien und Identitäten hinausgeht.

DEM-Vorsitzender fordert politischen Neuanfang

In seiner Rede bei der wöchentlichen Fraktionssitzung der DEM-Partei im türkischen Parlament hat der Ko-Vorsitzende Tuncer Bakırhan weitreichende politische Vorschläge unterbreitet und sich zugleich klar zur Fortsetzung des Dialogprozesses in der kurdischen Frage bekannt. Das kurz zuvor am Dienstag geführte Gespräch mit MHP-Chef Devlet Bahçeli sei „konstruktiv“ verlaufen, betonte er, und soll fortgeführt werden.

Zugleich rief Bakırhan alle politischen Kräfte zur aktiven Mitgestaltung eines neuen demokratischen Gesellschaftsvertrags auf. „Lasst uns den Kurs gemeinsam bestimmen – nicht durch äußere Mächte, sondern durch die Völker der Türkei selbst“, forderte er.

Appell für einen neuen politischen Kompass

Bakırhan zeichnete ein Bild einer Region im Wandel. Die Machtverhältnisse im Nahen Osten verschöben sich erneut, sagte er. In dieser Umbruchsituation biete sich die Gelegenheit, eine gemeinsame politische Vision zu entwickeln. Die Türkei sei Teil dieses Prozesses, dürfe aber nicht von außen gelenkt werden. „Die Route, die wir einschlagen, soll auf Demokratie, Gleichberechtigung und Rechtsstaatlichkeit basieren“, sagte er.

Das Fundament dieser Route müsse eine inklusive Staatsauffassung mit gleichen Rechten für alle sein: Kurd:innen, Türk:innen, Alevit:innen, Sunnit:innen. Nur so könne eine Zukunft ohne Gewalt, ohne Tränen und ohne Repression gelingen.

Öcalans Rolle und Demokratisierung

Die jüngsten Entwicklungen rund um Abdullah Öcalan, so Bakırhan, böten „eine politische Öffnung“. Seine Worte seien eine Einladung, gemeinsam an einer politischen Lösung zu arbeiten. „Ein demokratischer Naher Osten und eine demokratische Türkei sind kein Traum mehr – sie sind erreichbar.“ Dabei gehe es nicht um ethnische oder religiöse Vorherrschaft, sondern um ein „Demokratisches Nationenverständnis“ – ein Konzept, das auf gleichberechtigter Teilhabe und pluralistischer Identität basiere.

Kernfrage Vertrauen – und die Rolle der Regierungsparteien

Ein zentraler Begriff in Bakırhans Rede war das Vertrauen. Die Menschen seien misstrauisch, viele wüssten nicht, wie ernst es die Politik mit einem neuen Friedensprozess meine. „Dieses Vertrauen wieder aufzubauen, ist die Lebensader dieses Prozesses – und eine Aufgabe, die insbesondere die regierenden Parteien AKP und MHP übernehmen müssen“, sagte er. Es reiche nicht, dass nur die DEM Aufklärungsarbeit leiste. Auch Regierung und Opposition müssten „mit der gleichen Ernsthaftigkeit, mit dem gleichen Mut aufs Land gehen, wie sie es im Wahlkampf tun“, forderte Bakırhan.

Appell an Medien und Sprache

Ein weiterer Fokus seiner Rede galt dem öffentlichen Diskurs. Die Sprache vieler Medien sei „spaltend, entwürdigend und lösungsfeindlich“, sagte Bakırhan. Eine Friedenspolitik müsse sich auch in der Sprache niederschlagen. „Frieden beginnt mit der Sprache – und entfaltet sich in der Gesellschaft.“

Kritik an Gefängnispraxis und Justiz

Besonders scharf kritisierte der DEM-Vorsitzende die Zustände in türkischen Gefängnissen. Laut offiziellen Angaben des Justizministeriums sterben im Schnitt zwei schwerkranke Gefangene pro Tag. „Über 1.000 Menschen sind in den letzten anderthalb Jahren in Haft gestorben – obwohl viele hätten behandelt werden können“, sagte Bakırhan. Eine Reform des Strafvollzugs sei dringend nötig. Ziel müsse sein, „dass Gefängnisse sich leeren und nicht weiter zu Stätten des stillen Sterbens werden“.

Gegen Zwangsverwaltung und für lokale Demokratie

Auch die Praxis der Einsetzung staatlicher Zwangsverwalter in kurdisch regierten Städten wurde kritisiert. Diese Maßnahme sei „ein direkter Angriff auf die lokale Demokratie“. Die DEM-Partei fordert die Wiederherstellung der Selbstverwaltung als Teil vertrauensbildender Maßnahmen.

Verfassung, Demokratie und eine gemeinsame Zukunft

Bakırhan knüpfte seine Vision an eine neue Verfassung: eine, die Gleichberechtigung, Freiheit und Demokratie garantiere – nicht im Widerspruch zum Staat, sondern als dessen demokratische Ergänzung. „Wir wollen nicht das Land spalten, sondern es mit Demokratie einen“, sagte er. „Wir sind nicht gegen die Hauptstadt, nicht gegen die Fahne, nicht gegen die Sprache. Unser Problem ist nicht mit der Türkei – sondern mit einem Regime, das Demokratie verweigert, Vielfalt unterdrückt und Gleichheit verhindert.“

Ein Friedenspakt für das nächste Jahrhundert

Abschließend skizzierte Bakırhan die Idee eines „Barış Misakı“ – eines Friedenspakts für die kommende Ära. Dieser solle nicht nur aktuellen Konflikten begegnen, sondern die Grundlage für „ein Jahrhundert des friedlichen Zusammenlebens“ zwischen Kurd:innen, Türk:innen und anderen Bevölkerungsgruppen bilden. „Wir wollen nicht länger die Särge der Kinder dieses Landes auf unseren Schultern tragen – wir wollen den Frieden tragen“, schloss Bakırhan.