Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat von der Türkei eine umfassende Stellungnahme zur Tötung von mehr als hundert Menschen während der Ausgangssperren in der kurdischen Stadt Cizîr (tr. Cizre) angefordert. Damit greift das Gericht einen der schwerwiegendsten Menschenrechtsfälle der jüngeren Türkei-Geschichte wieder auf: Die Ermordung zahlreicher Zivilist:innen in den „Todeskellern von Cizîr“.
Der EGMR verlangt in seiner Anfrage unter anderem Auskunft darüber, ob bei den „Einsätzen“ während der türkischen Militärbelagerung im Winter 2015/2016 das Recht auf Leben verletzt wurde, ob ausreichende Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung getroffen und Verletzten medizinische Hilfe ermöglicht wurde sowie ob die türkischen Behörden den Todesfällen angemessen nachgegangen sind.
Rechtsanwalt Demir: Entscheidung überfällig
Der auf Menschenrechte spezialisierte kurdische Rechtsanwalt Ramazan Demir, einer der juristischen Vertreter:innen der Betroffenen, bewertet die Reaktion des Straßburger Gerichts als einen längst überfälligen Schritt. „Unsere Hoffnung ist ein schnelles und gerechtes Verfahren, das die begangenen Verbrechen – insbesondere mögliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit – auch als solche anerkennt“, erklärte Demir.
Ramazan Demir © privat
Bereits 2019 hatte der EGMR eine erste Anhörung zu den Todeskellern von Cizîr abgehalten, sich jedoch geweigert, den Fall inhaltlich zu entscheiden, da das Verfahren vor dem türkischen Verfassungsgericht noch nicht abgeschlossen war. Diese Entscheidung kritisiert Demir scharf: „Der Gerichtshof hatte alle Beweise vorliegen – dennoch hat er die Fälle an das Verfassungsgericht zurückverwiesen. Jetzt ist klar, dass dies ein Fehler war.“
Verlust von sieben Jahren
Laut Demir habe das Verfassungsgericht in Ankara sich im Nachgang vollständig der Sichtweise des türkischen Staates angeschlossen und sämtliche Beschwerden pauschal abgewiesen. „Dadurch haben die Familien der Opfer sieben Jahre verloren. Sie wurden im Stich gelassen – juristisch und menschlich“, sagte der Anwalt.
Demir betonte, dass die Hoffnung nun auf einer fundierten Bewertung des EGMR liege, die auch unabhängige Berichte internationaler Menschenrechtsorganisationen berücksichtige. Er sprach sich für eine Bewertung aus, die nicht nur auf formalen Rechtsbrüchen, sondern auch auf möglichen systematischen Verstößen gegen das Völkerrecht basiere.
Hintergrund: Krieg gegen kurdische Bevölkerung
Während der 79-tägigen Ausgangssperre in Cizîr zwischen Dezember 2015 und Februar 2016 – es handelte sich um die zweite Belagerung der Stadt – führte die türkische Armee einen regelrechten Krieg gegen die kurdische Bevölkerung. Das damals 115.000 Einwohner:innen zählende Cizîr wurde täglich sowohl aus der Luft als auch vom Boden aus bombardiert. Das Militär nahm ganze Viertel unter Feuer, zerstörte die Telefon-, Strom- und Wasserversorgung und kesselte tausende Menschen ein.
UN: Apokalyptische Zustände
Am 7. Februar 2016 wurden 137 Menschen in drei Kellern getötet, in denen sie Schutz gesucht hatten. Zahlreiche Opfer – darunter Politiker:innen, Journalist:innen, Künstler:innen, Aktivist:innen und Kinder – wurden verbrannt, als das Militär Benzin in die mit Menschen gefüllten Keller leitete; erschossen, als türkische Truppen die Gebäude erstürmten; oder starben durch unterlassene medizinische Hilfeleistung aufgrund früherer Verletzungen. Internationale Organisationen wie das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte sprachen damals von „apokalyptischen Zuständen“. Einige Leichname gelten bis heute als vermisst.
EGMR unter Zugzwang
Mit dem nun neu eröffneten Verfahren steht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte vor einer bedeutenden Entscheidung. Der Umgang mit dem Fall Cizîr wird nicht nur als juristische Prüfung der Türkei gewertet, sondern auch als Gradmesser dafür, wie effektiv der EGMR seiner Rolle als Instanz für Menschenrechtsverletzungen in autoritären Kontexten noch gerecht wird.