Vor 106 Jahren: Aghet, die armenische Katastrophe

Vor 106 Jahren begann mit der Deportation der armenischen Elite aus Konstantinopel der Genozid, der von Armeniern als Aghet bezeichnet wird und dem Millionen Menschen zum Opfer fielen. Die Türkei erkennt den Völkermord bis heute nicht an.

In der Frühlingsnacht des 24. April 1915 begann mit der „Aussiedlung” der armenischen Elite aus Konstantinopel der Völkermord an den Armenierinnen und Armeniern. 235 Intellektuelle, darunter Abgeordnete, Professoren, Journalisten, hohe Staatsbedienstete und Künstler, wurden von einer Sondereinheit des Innenministeriums verhaftet und nach Ankara deportiert. Es gab nur zwei Überlebende, die bleibende Schäden erlitten. Die Verantwortung für diese Aktion und den nachfolgenden Genozid lag bei der vom jungtürkischen „Komitee für Einheit und Fortschritt” (Ittihad ve Terakki) gestellten Regierung im Osmanischen Reich, die im Ersten Weltkrieg mit dem kaiserlichen Deutschland und Österreich-Ungarn verbündet war.

Danach liefen die Ereignisse nach einem festem Muster ab: wehrfähige armenische Männer wurden in Arbeitsbataillone gesteckt – unter anderem zum Bau der Bagdadbahn – und anschließend ermordet. Übrig blieben Kranke, Greise, Kinder und Frauen, die auf Todesmärsche in die Wüsten Syriens und Mesopotamiens geschickt wurden. Durch periodische Massaker, Vergewaltigungen und Verschleppungen wurden die Deportationszüge bereits unterwegs so dezimiert, dass nur wenige der völlig entkräfteten Menschen schließlich die Lager in den Wüsten erreichten. Diese Überfälle wurden in der Regel von den Hamidiye-Regimenten verübt. Die zur „Aufstandsbekämpfung in Ostanatolien“ Ende des 19. Jahrhunderts durch einen osmanischen Sultan gegründete Kavallerietruppe gilt als historisches Vorbild der heutigen „Dorfschützer“ und wurde hauptsächlich aus entlassenen Strafgefangenen, kurdischen und turkmenischen Nomaden und Flüchtlingen vom Balkan zusammengesetzt.

In Mesopotamien und der syrischen Wüste von Deir ez-Zor vollendeten weitere Massaker der Hamidiye-Miliz sowie Hunger, Durst und Seuchen das Vernichtungswerk der Jungtürken. Vor 1915 lebten rund 2,1 Millionen Armenier im Osmanischen Reich. Die Gesamtzahl der Opfer des Genozids wird auf 1,5 bis zwei Millionen geschätzt. Außer den Armeniern waren vor allem auch die Aramäer, Assyrer, Chaldäer, die Pontus-Griechen und Eziden betroffen. Die osmanische Führung beschuldigte sie pauschal der Kollaboration mit dem Kriegsgegner Russland.

Die Deportationen hatten nicht das Ziel, die armenische Bevölkerung, die schon im Februar 1915 entwaffnet wurde, wieder anzusiedeln. Das Ziel war die Auslöschung der armenischen Existenz. Die 1909 an die Macht gekommenen nationalistischen Jungtürken versuchten, einen einheitlichen „pan-türkischen“ Staat zu schaffen, Türkisch als Einheitssprache und den Islam als alleinige kulturelle und religiöse Basis durchzusetzen. Der Erste Weltkrieg lieferte die Gelegenheit, dieses Konzept umzusetzen. Heute leben nur noch etwa 60.000 Armenier in der Türkei. Aghet, Katastrophe, oder Mec Eghern, das große Verbrechen, nennt die armenische Bevölkerung die Geschehnisse von 1915. Es handelt sich um den zweiten Genozid im 20. Jahrhundert und gleichzeitig den ersten systematischen Völkermord.

Die Deportationen, die offiziell als kriegsbedingte Umsiedlung einer unzuverlässigen Minderheit begründet wurden, setzte Innenminister Talat Pascha in Gang. Die Telegramme gingen an alle Gouverneure und enthielten Anweisungen zur Umsetzung des Genozids. Provinzsekretäre, die sich weigerten, wurden abgesetzt und ermordet oder hingerichtet, darunter die Landräte von Licê, Midyad, Amed (tr. Diyarbakir) und Qubîn (Beşiri).

Nach dem Ende des Weltkriegs leiteten die Siegermächte Prozesse gegen die Kriegsverbrecher ein. Ein Istanbuler Kriegsgericht etwa konnte beweisen, dass die Verbrechen an der armenischen Bwvölkerung zentral vorbereitet wurden. Die Richter verurteilten insgesamt 17 Angeklagte zum Tode, drei Hinrichtungen wurden vollzogen. Die Haupttäter – Innenminister Talat Pascha, Kriegsminister Enver Pascha und Marineminister Ahmed Cemal – waren bereits geflohen. Einige wurden später von Mitgliedern der armenischen Vergeltungsoperation „Nemesis” getötet, so auch Talat. Er wurde am 15. März 1921 in der Berliner Hardenbergstraße von Soghomon Tehlirian erschossen.

Mittlerweile haben eine Reihe von Staaten den Genozid offiziell anerkannt, darunter Frankreich, Italien und die Niederlande. US-Präsident Joe Biden hat für heute eine Anerkennung in Aussicht gestellt. Die Türkei verweigert bis heute die Anerkennung der Verfolgung der Armenier als Genozid. Auch Israel hat den Völkermord an den Armeniern noch immer nicht anerkannt. Zahlreiche Staaten und auch internationale Organisationen hingegen stuften den Genozid als solchen ein. Als erstes großes europäisches Land tat dies Frankreich im Jahr 2001. Der deutsche Bundestag folgte diesem Beispiel erst fünfzehn Jahre später.