Eindrücke einer Delegationsreise nach Armenien

Der Münchener Kommunikationswissenschaftler Kerem Schamberger reiste mit einer Delegation nach Armenien, um sich über die Lage vor Ort und den Krieg in Arzach zu informieren. Nach seiner Rückkehr schildert er seine Eindrücke und Begegnungen.

Auf Einladung der Armenischen Allgemeinen Wohltätigkeitsunion (AGBU) reiste der Kommunikationswissenschaftler Kerem Schamberger Ende Oktober mit einer internationalen Delegation nach Armenien, um sich vor Ort über den Krieg in Arzach (Bergkarabach) zu informieren.

Schamberger traf viele Amtsträger und Aktivist*innen, aber auch Geflüchtete und stellt fest: „Fast alle Leute, mit denen wir sprechen, betonen, dass sich ihr Hass nicht gegen die türkische Bevölkerung richte, sondern gegen einen Staat und seine Regierung, die auch 105 Jahre nach dem Genozid mit der gleichen Mentalität agiert. Auch Armen Sarkissjan [seit April 2018 Staatspräsident], der uns im Präsidentenhaus empfängt, hebt das hervor und verweist auf die Hunderttausenden, die 2007 zur Beerdigung des linken armenischen Journalisten Hrant Dink in Istanbul gekommen waren. Er war von einem türkischen Faschisten erschossen worden, die Hintermänner des Mordes wurden bis heute nicht belangt.“

Der „Aghet“, wie die Armenier den von den Jungtürken begangenen Völkermord zwischen 1915 und 1916 nennen, ist nach Schambergers Beobachtung im kollektiven Bewusstsein des armenischen Volkes immer noch sehr präsent. Der türkische Staat weigert sich bis heute, den Genozid anzuerkennen.

Es seien die Nachfahren der Täter von damals, die jetzt mit Aserbaidschan die Armenier*innen angreifen und zur Flucht zwingen, stellt Schamberger fest: „Deshalb ist es verständlich, dass in vielen unserer Gespräche der Krieg als Fortsetzung des Genozids beschrieben wird. Damals geschah es mit Maschinengewehren (auch aus deutscher Produktion), Äxten und mit Hunger und Durst, heute mit türkischen Bayraktar-Drohnen, die von Erdogans Schwiegersohn produziert werden, und dschihadistischen Söldnern, die von der Türkei zuvor in Syrien und Libyen eingesetzt wurden.“

Ein weiterer Gesprächspartner der Delegation war der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Armeniens, Jerjanik Ghazaryan, der über die Waffenlieferungen der Türkei und Israels an Aserbaidschan berichtet. Er stellt fest, Armenien kämpfe heute gegen die „Ausbreitung des expansionistischen Pan-Turanismus des türkischen Staates, der letztendlich auch Europa bedrohe. Der Luftraum über Bergkarabach müsse geschlossen und russische Truppen in der Region stationiert werden.“

In Goris besucht Schamberger Geflüchtete, die in einem Hotel untergekommen sind. Dort leben jetzt vor allem Frauen und Kinder, die geflohen sind, während die Männer ihre Dörfer verteidigen. „Zwei Frauen berichten uns, wie sie die Exekution von gefangengenommenen Bewohnern ihres Dorfes Hadrut im Internet ansehen mussten. Die beiden wurden bei Kämpfen gefasst und sind von aserbaidschanischer Seite hingerichtet worden. Ein Kriegsverbrechen Aserbaidschans, das sich an viele weitere reiht: Die Bombardierung von Krankenhäusern, Kirchen und anderen zivilen Einrichtungen, der Einsatz von Phosphor- und Streubomben, Enthauptungen und Verstümmelung von Leichen.“

Schließlich fand noch ein Treffen mit dem armenischen Außenminister Sohrab Mnazakanjan statt, der über die Rolle der Türkei sprach. Schamberger fasst zusammen: „Vor allem die Türkei würde die bisher ausgehandelten drei Waffenstillstände hintergehen und Aserbaidschan dazu drängen, die Angriffe fortzusetzen. Das größte Problem seien die türkischen Drohnen und der von ihnen kontrollierte Luftraum.“ Mnazakanjan bekräftigte, dass dies die Verteidigung zwar erschweren, aber nicht aufhalten könne. Man setze auf die Taktik der Guerilla. Die Berge der Region würden sich dafür gut eignen. Es ginge schließlich um einen „Krieg um die Freiheit‘, bei dem es kein Zurück gebe.“

Dann wies der Außenminister noch auf die Gefahr für Europa hin, die von den dschihadistischen Milizen ausgehe. Sie stünden im Sold der Türkei und unter ihnen seien mit Sicherheit viele ehemalige Kämpfer des sogenannten Islamischen Staats. Sie hätten die Erlaubnis, alle erbeuteten Waffen zu behalten. Waffen, die vielleicht demnächst bei Anschlägen in Europa zum Einsatz kommen?

Schamberger kommt zu dem Schluss: „Die Bevölkerung Bergkarabachs ist einer ethnischen Säuberung ausgesetzt, die genozidale Ausmaße bekommen kann, wenn der türkischen Regierung und seinem Vasallen Aserbaidschan nicht das Handwerk gelegt wird.“

In seinem Reisebericht kritisiert der Kommunikationswissenschaftler auch das Schweigen der Welt zum Krieg in Arzach und insbesondere die Zurückhaltung in der deutschen Medienberichterstattung. Ohne sich um Details zu kümmern, von wem die Aggression ausging, liest man in vielen großen Zeitungen, dass es weit hinten im „Pulverfass Kaukasus“ wieder knallt. In Zeiten einer Pandemie und US-Wahlen gerät ein Krieg im fernen Armenien zur Nebensache. Man zitiert die „Besorgnis“, die die Bundesregierung wie gewohnt zum Ausdruck bringt. Und selbst wenn man ahnt, dass Erdogan seine Finger im Spiel hat, scheue man sich, die Rolle der Türkei als Kriegspartei klar zu benennen. Schamberger resümiert: „Angesichts der aktiven Rolle Deutschlands beim Völkermord an den Armenier*innen und der daraus entspringenden historischen Verantwortung ist das ein Skandal, der sich mittlerweile in eine lange Reihe von Appeasement-Praktiken einreiht, so dass es schon fast nicht mehr auffällt.“

Ausführlicher nachzulesen sind Kerem Schambergers Begegnungen und Interviews der Delegationsreise hier.