Über die sowjetische Nationalitätenpolitik und Berg-Karabach

Die Frage nach den Ursachen der Nationalitätenkonflikte im Südkaukasus erscheint auf den ersten Blick komplex. Letztendlich sind es nur einige Ereignisse und Entscheidungen, die zu einem tiefen Einschnitt in den Beziehungen zwischen den Völker führten.

Am 27. September startete Aserbaidschan mit Unterstützung der Türkei eine große Militäroffensive gegen die Republik Arzach (Berg-Karabach). Daran beteiligen sind auch islamistische Söldner, die von der Türkei aus Syrien und Libyen nach Aserbaidschan gebracht wurden. Mit dem Bruch des Waffenstillstandsabkommens vom 12. Mai 1994 hat die aserbaidschanische Regierung – wie sie immer wieder angedroht hat – den „eingefrorenen Krieg“ wieder aufgetaut und unter ihre Kontrolle gebracht. Das Interesse an dem Konflikt im Südkaukasus war nie groß, solange dort kein „heißer Krieg“ stattfand. Ohnehin ist in Europa die Vorstellung weit verbreitet, wonach die unzähligen Völker im wilden Kaukasus sich doch schon immer bekriegt haben. Dies entspricht allerdings nicht den Tatsachen, denn obwohl dort die Bevölkerungsstruktur sehr komplex war, lebten die zahlreichen, ethnisch und religiös unterschiedlichen Völker sehr lange Zeit relativ friedlich zusammen; es gab einen regen kulturellen Austausch zwischen ihnen. Dies wird zum Beispiel in den Filmen des in Georgiens Hauptstadt Tiflis geborenen armenischen Regisseurs Sergei Paradschanov (Sarkis Howsepi Paradschanian, 1924-1990) deutlich. Zwischen den heute oft als „Erzfeinde“ dargestellten Armeniern und Aseris (Einwohner von Aserbaidschan) gab es bis zu Beginn des 20. Jahrhundert kaum große Konflikte. Die Frage nach den Ursachen der „Nationalitätenkonflikte“ im Südkaukasus erscheint auf den ersten Blick sehr kompliziert und komplex, aber letztendlich sind es einige wenige, konkrete historische Ereignisse und Entscheidungen, die zu einem tiefen Einschnitt in den Beziehungen zwischen den Völker führten.

Für das Verständnis der zahlreichen „Nationalitätenkonflikte“, die nach Beginn der Perestroika in der Sowjetunion ausbrachen, ist ein Rückblick auf die Politik der Bolschewiki in der nationalen Frage erforderlich. Lenin hatte vor der Oktoberrevolution in mehreren Schriften die Grundprinzipien genannt, nach denen sich die Politik der Bolschewiki richten sollte. Die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Völker bildete ein zentrales Element der Politik in der nationalen Frage. Im Zusammenhang damit betonte Lenin die unbedingte Einhaltung des demokratischen Prinzips: „Das ‚Recht auf Selbstbestimmung‘ bedeutet ein solches demokratisches System, bei dem es nicht nur im allgemeinen Demokratie gibt, sondern bei dem es im Besonderen keine undemokratische Entscheidung der Frage der Lostrennung geben kann.“ Er forderte außerdem, dass „die Entscheidung dieser Frage dem sich lostrennenden Gebiet selbst überlassen wird“. Die maßgeblich von Lenin formulierten Grundsätze bei der Lösung der nationalen Frage wurden aber nicht eingehalten. Stattdessen setzte sich bereits sehr früh eine undemokratische, zentralistisch-administrative Vorgehensweise durch, die tiefgreifende Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen den verschiedenen Völkern hatte. Solange die Sowjetmacht stark war, konnte sie den Willen der betroffenen Bevölkerung ignorieren und undemokratische Entscheidungen durchsetzen.

Eine Idealisierung der Vergangenheit wäre sicherlich falsch, aber trotz der unterschiedlichen rechtlichen und sozialen Stellung, die die Angehörigen der verschiedenen ethnischen und religiösen Gemeinschaften im jeweiligen Imperium hatten, gab es viele kulturelle Gemeinsamkeiten zwischen ihnen. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts war der Nationalismus in der Region kaum verbreitet; in der sozialdemokratischen und sozialrevolutionären Bewegung waren Angehörige aller Völker im gemeinsamen Kampf gegen die zaristische Herrschaft vereint.

Das Mosaik der Völker, Kulturen und Religionen wird zerschlagen

Die „Nationalitätenkonflikte“ im Südkaukasus entstanden meist zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Vor allem die Entwicklung in den Jahren zwischen 1918 und 1921 hatte eine tiefgreifende Auswirkung auf die Beziehungen der Völker in der Region. Verantwortlich dafür war die Politik von drei Kräften beziehungsweise Mächten: das Osmanische Reich, Großbritannien und die Bolschewiki oder besser gesagt die Sowjetregierung.

Wenige Monate nach der Oktoberrevolution 1917 zogen die russischen Einheiten von der Kaukasus-Front ab. Für die jungtürkische Regierung war damit der Weg in Richtung Zentralasien frei; die Vereinigung aller Turkvölker schien in greifbarer Nähe zu sein. Anfang 1918 begann die von Deutschland unterstützte Invasion in den Südkaukasus; das Ziel des Vorstoßes war die am Kaspischen Meer gelegene Erdölmetropole Baku. Dort hatte ein breites Bündnis von linken Parteien unter Führung der Bolschewiki die Kommune von Baku errichtet.

Mit der Invasion kam auch der pantürkische Nationalismus nach Aserbaidschan. Ab diesem Zeitpunkt veränderten sich die Beziehungen zwischen Armeniern und Aseris vor allem deshalb, weil die türkischen Invasoren Feindseligkeit und Hass gegen die Armenier schürten. Den Höhepunkt ihrer systematisch betriebenen antiarmenischen Politik bildete das Massaker an den Armeniern in Baku im September 1918. Die an der Eroberung Bakus beteiligen deutschen Militärs wurden Zeugen eines tagelang andauernden, grauenvollen Gemetzels, das ihre türkischen Verbündeten organisiert hatten.

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges kamen die Briten in den Südkaukasus, wo sie in Aserbaidschan und Georgien Truppen stationierten. Die in Baku regierende Gleichheitspartei (Müsawat) hatte zwar während des Krieges das Osmanische Reich beziehungsweise die Mittelmächte unterstützt, bot sich aber nach Kriegsende den Briten als Partner an. Mit der Einwilligung der britischen Militärmission wurde Berg-Karabach von aserbaidschanischen Truppen besetzt. Die britische Präsenz im Südkaukasus zwar nur von kurzer Dauer, aber indem das Königreich die Politik der aserbaidschanischen Regierung in der Karabach-Frage unterstützte, verhinderte Großbritannien damals die mögliche Vereinigung des Gebiets mit der Republik Armenien. Das Vordringen der Bolschewiki in den Südkaukasus konnte nicht verhindert werden: Den Briten, die im Juni 1920 ihre letzten Einheiten aus der georgischen Hafenstadt Batumi abgezogen hatten, war klargeworden, dass nur die türkische Nationalbewegung und ein westlich orientierter Staat in Kleinasien eine starke antikommunistische Barriere bilden konnten. Im April 1920 übernahmen die Bolschewiki erst in Baku, im Dezember in Jerewan und im März 1921 in Tiflis die Macht.

Symbol der Unabhängigkeit von Arzach: „Tatik Papik“ oder „Wir sind unsere Berge“, Stepanakert © Toros Sarian

Kaukasisches Büro entscheidet über das Volk

Nachdem 1920/21 die Bolschewiki die Sowjetmacht im Südkaukasus errichtet hatten, kam es für sie vor allem darauf an, die chaotischen Verhältnisse zu beenden, die dort zwischen 1918 und 1920 entstanden waren. Jetzt bot sich die Gelegenheit zu beweisen, dass sie in der Lage waren, die nationale Frage auf der Basis des Selbstbestimmungsrechts der Völker demokratisch zu lösen. Besonders brisant war die Lage in Berg-Karabach: Nach den Massakern in den Jahren 1918/1919 erwarteten die Armenier den Anschluss des Gebietes an das im Dezember 1920 gegründete Sowjetarmenien. Dies schien anfangs auch zu geschehen: Am 12. Juni 1921 gab der Rat der Volkskommissare der Sowjetrepublik Armenien bekannt, dass „auf der Grundlage der Bekanntmachung des Revolutionsrates der Sozialistischen Sowjetrepublik Aserbaidschan und der Übereinkunft zwischen den Sozialistischen Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidschan, das Gebiet von Berg-Karabach von nun an Teil der Sozialistischen Sowjetrepublik Armenien ist.“

Aber die endgültige Entscheidung wurde dann vom Kaukasischen Büros beim Zentralkomitee der Sowjetrussischen Kommunistischen Partei getroffen, das in seiner Sitzung am 4. Juli 1921 entschied, „dass wegen der Notwendigkeit der nationalen Eintracht zwischen Muslimen und Armeniern, der wirtschaftlichen Verbindung von Berg- und Niederkarabach und seiner fortbestehenden Bindung an Aserbaidschan Berg-Karabach weiterhin innerhalb der Grenzen der Sowjetischen Sozialistischen Republik Aserbaidschan bleiben soll (…).“ Auffällig an der Begründung ist, dass nicht von einer Eintracht zwischen Aseris und Armeniern oder zwischen Muslimen und Christen die Rede ist, sondern zwischen Muslimen und Armeniern. Wie sollte der Anschluss eines überwiegend von christlichen Armeniern bewohnten Gebietes an eine muslimische Sowjetrepublik die „nationale Einheit“ fördern? Das Kaukasische Büro hatte zudem gar nicht den Wunsch der Bevölkerung berücksichtigt, die sich ganz klar für den Anschluss an Sowjetarmenien ausgesprochen hatte. Den Armeniern Berg-Karabachs blieb damals nichts anderes übrig, als sich dieser Entscheidung zu beugen.

Willkürliche Entscheidungen mit kriegerischen Folgen

Nach einer in Moskau gefällten Entscheidung wurden die drei südkaukasischen Sowjetrepubliken Armenien, Aserbaidschan und Georgien im Dezember 1922 zur Transkaukasischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik zusammengeschlossen. Dagegen protestierten vor allem die georgischen Bolschewiki: sie bestanden darauf, dass Georgien als eigenständige Sowjetrepublik der Sowjetunion beitreten sollte. In einem seiner letzten Schriften nannte Lenin die Idee der Transkaukasischen Föderation eine Perversion des Föderalismus. Im Jahr 1936 wurde sie wieder in drei einzelne Unionsrepubliken aufgeteilt.

Bei der Bildung von autonomen Republiken, Gebieten und Bezirken wurden vor allem im Kaukasus seltsame Entscheidungen getroffen: Die im März 1921 gegründete Unionsrepublik Abchasien wurde 1931 der Sowjetrepublik Georgien angeschlossen. Im Juli 1992 proklamierten die Abchasen ihre Unabhängigkeit, und mit der Unterstützung Russlands konnten sie den Krieg gegen Georgien gewinnen. Ihre Unabhängigkeit wurde im August 2008 von Russland, im September 2008 von Nicaragua und im September 2009 von Venezuela anerkannt.

Eine ebenfalls unverständliche Entscheidung bildete damals auch die Aufteilung Ossetiens, dessen südlicher Teil mit dem Status eines autonomen Gebiets an Sowjetgeorgien angeschlossen wurde, während der nördliche Teil bei Sowjetrussland blieb. Der Kampf um die Loslösung Südossetiens von Georgien begann 1990 und endete erst im August 2008 mit dem Fünftagekrieg, nachdem Russland zugunsten der Osseten militärisch interveniert hatte. Im August 2008 erkannte Russland die Unabhängigkeit Südossetiens an, aber Süd- und Nordossetien sind weiterhin getrennt.

In die Sowjetrepublik Georgien wurde 1921 auch die am Schwarzen Meer gelegene Region Adscharien als autonome Sowjetrepublik angeschlossen, deren Bevölkerung ethnisch und religiös sehr gemischt zusammengesetzt ist. Die nach Unabhängigkeit strebenden Kräfte waren ab 1990 jedoch nicht so stark wie in Abchasien oder Südossetien.

Innerhalb Sowjetaserbaidschans wurde außer dem Autonomiegebiet Berg-Karabach auch die Autonome Sowjetrepublik Nachitschwan geschaffen, die durch das Territorium Sowjetarmeniens von Sowjetaserbaidschan getrennt ist. Dabei hatte der Vorsitzende des Aserbaidschanischen Revolutionskomitees Baku am 1. Dezember 1920 in einem Telegramm an die neue Sowjetregierung in Armenien mitgeteilt: „Mit dem heutigen Tage gelten die Grenzstreitigkeiten zwischen Armenien und Aserbaidschan als beigelegt. Berg-Karabach, Sangesur und Nachitschwan sind nun Teil der Sowjetrepublik Armenien.“ Das 1918/20 zwischen den bürgerlichen Republiken Armenien und Aserbaidschan umstrittene Gebiet wurde entgegen der Ankündigung des Revolutionskomitees Sowjetaserbaidschan angegliedert. Es erhielt dabei den Status einer autonomen Sowjetrepublik, während Berg-Karabach lediglich ein Autonomiegebiet wurde.

Parlament der Republik Arzach in Stepanakert © Toros Sarian

Für die Kurden, die auf einem kleinen Territorium zwischen dem Autonomiegebiet Berg-Karabach und Sowjetarmenien lebten, wurde 1923 mit Kurdistana Sor – Rotes Kurdistan – ein autonomer Distrikt geschaffen. Er wurde aber bereits 1929 von der sowjetaserbaidschanischen Regierung wieder aufgelöst. Die Kurden waren danach einer fortschreitenden Assimilation ausgesetzt, viele von ihnen wurden im Verlauf des Zweiten Weltkriegs nach Kasachstan deportiert. Als Anfang 1988 der Karabach-Konflikt ausbrach, richteten kurdische Intellektuelle und Wissenschaftler in Sowjetarmenien einen Appell an die Staats- und Parteiführung in Moskau, worin sie den Anschluss des Gebiets an Sowjetarmenien forderten. Sie begründeten dies damit, dass die Kurden nur dadurch vor einem „Weißen Genozid in Aserbaidschan“ bewahrt werden könnten (Kurdistan Press, Oktober 1988).

Ohne Zweifel wurden die nichtrussischen Völker unter der zaristischen Herrschaft einer nationalen Unterdrückung und Diskriminierung ausgesetzt, aber es wurden zumindest keine Grenzen zwischen ihnen gezogen. Die Gründung von drei „unabhängigen“ Staaten im Südkaukasus erfolgte im Mai 1918 auf Initiative und Druck des Osmanischen Reiches. Nach der Errichtung der Sowjetmacht wurden nicht nur die Grenzen zwischen Armenien, Aserbaidschan und Georgien neu geregelt; die vielen anderen Völker wurden Opfer der Neuordnung der Region durch Grenzziehungen. Jedem Volk wurde ein bestimmter Status innerhalb der Sowjetunion zugewiesen, und in den einzelnen „souveränen“ Unionsrepubliken bekamen die Völker, die nicht der Titularnation angehörten, einen Autonomiestatus, der allerdings unterschiedlich abgestuft war und – wie im Fall des Roten Kurdistan – wieder beseitigt werden konnte. 

Von der „unverbrüchlichen Völkerfreundschaft“ zum „Nationalitätenkonflikt“

Nach Ende der Stalin-Ära wandten sich die Karabach-Armenier erneut an die Staats- und Parteiführung in Moskau, um gegen ihre Unterdrückung zu protestieren. In dem 1963 an Chruschtschow geschickten Aufruf, den 2500 Armenier unterzeichneten, heißt es: „Infolge unserer schweren Lebensbedingungen am Rande der Hoffnungslosigkeit angelangt, haben wir, die Kolchosbauern, Arbeiter und Angestellten des Autonomen Gebiets Berg-Karabach und die armenischen Einwohner der Ortschaften Schamchor, Chanlar, Daschkessan und des Bezirkes Schahumjan in der Aserbaidschanischen SSR, beschlossen, uns an Sie zu wenden und Sie um Schutz und Gerechtigkeit zu bitten.“ Die Klagen führten zu keiner Verbesserung der Lage; ihre Unterdrückung wurde fortgesetzt und immer mehr Armenier verließen deshalb das Gebiet. Anfang der 80er Jahre war der armenische Bevölkerungsanteil von einst 90 auf 75 Prozent gesunken.

Die Perestroika sollte zu einer umfassenden Demokratisierung von Partei, Staat und Gesellschaft führen, doch sie scheiterte nicht zuletzt daran, dass die Bedeutung der nationalen Frage für den Fortbestand des multinationalen Sowjetstaates zu spät erkannte wurde. Auf dem 27. Parteitag der KPdSU im März 1986 verkündete Gorbatschow, dass die nationale Frage in der UdSSR dank der Lehre Lenins gelöst sei: „Ein für alle Mal sind die nationale Unterdrückung und die nationale Ungleichheit in all ihren Formen und Erscheinungen abgeschafft worden. Die unverbrüchliche Völkerfreundschaft, die Achtung der nationalen Kulturen und der nationalen Würde aller Völker haben sich durchgesetzt, sich fest im Bewusstsein Dutzender Millionen Menschen verankert. Das Sowjetvolk erscheint als eine qualitativ neue, soziale und internationale Gemeinschaft, vereint durch die Gemeinsamkeit der ökonomischen Interessen, der Ideologie und politischen Ziele.“

Zwei Jahre nach dem Parteitag wurde die Staats- und Parteiführung aber mit einer Forderung konfrontiert, wie es sie bis dahin nie gegeben hatte: Auf einer außerordentlichen Sitzung am 20. Februar 1988 fasste der Rat der Volksdeputierten im Autonomen Gebiet Berg-Karabach einen Beschluss, der die Angliederung der mehrheitlich von Armeniern bewohnten Region an die benachbarte Sowjetrepublik Armenien forderte. Die Karabach-Frage, die somit wieder auf die Tagesordnung kam, war nur eine von vielen ungelösten „nationalen Fragen“, aber sie war brisanter, komplexer und komplizierter als die anderen.

Verrostetes Wrack eines Panzerfahrzeugs irgendwo in Arzach © Toros Sarian

Pogrome in Sowjetaserbaidschan

Erst mit dem Beginn der Perestroika wurde es möglich, eine Revision der ungerechten Entscheidung von 1921 zu fordern. Rechtlich gesehen konnten Grenzen zwischen den Unionsrepubliken aber nur einvernehmlich geändert werden. Wie nicht anders zu erwarten war, lehnte Sowjetaserbaidschan einen Anschluss des Gebiets an Sowjetarmenien ab. Innerhalb weniger Tage kam es dann zu einer dramatischen Eskalation der Lage in der Region, aber davon waren zuerst die Armenier Berg-Karabachs betroffen.

Vor Ausbruch des Konflikts lebten in der Sowjetrepublik Aserbaidschan, die eine Gesamtbevölkerung von sieben Millionen hatte, etwa 450.000 Armenier, davon lediglich etwa 140.00 in Berg-Karabach. Die erste blutige Reaktion auf die friedlichen Demonstrationen im Autonomen Gebiet und den Beschluss des Rats der Volksdeputierten erfolgte in Sumgait, einer am Kaspischen Meer gelegenen Industriestadt, wo es am 27. Februar 1988 zu einem Pogrom an Armeniern kam. Die Führung in Moskau hatte kaum noch Einfluss auf die Entwicklungen: Im Oktober 1988 fand im heutigen Gandscha (damals Kirowabad) erneut ein Armenier-Pogrom statt.

Der nationalistischen Bewegung ging es nicht nur darum, die Trennung des Autonomiegebiets zu verhindern, sondern um die Vertreibung der gesamten armenischen Bevölkerung aus der Sowjetrepublik. Nach Sumgait und Gandscha wurden im Januar 1990 auch die Armenier in der Hauptstadt Baku Opfer eines Pogroms. In einem Bericht des UN-Ausschusses für die Beseitigung der Diskriminierung von Frauen am 25. Juli 1997 heißt es dazu: „Fünf Tage lang wurde im Januar 1990 die armenische Bevölkerung in Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans, ermordet, gefoltert, ausgeraubt und erniedrigt. Schwangere Frauen wurden belästigt, kleine Mädchen wurden vor den Augen ihrer Eltern vergewaltigt, christliche Kreuze wurden auf ihre Rücken gebrannt, und sie wurden aufgrund ihres christlichen Glaubens missbraucht.“ Unter dem Schutz von Truppen, die von Moskau entsandt wurden, mussten 170.000 Armenier (17 Prozent der Gesamtbevölkerung Bakus) in andere Unionsrepubliken evakuiert werden; zwei Jahre nach Ausbruch des Karabach-Konflikts lebten außerhalb Berg-Karabach keine Armenier mehr in Sowjetaserbaidschan.

Transformation einer Sowjetrepublik

Obwohl die Karabach-Frage in den Jahren 1988 bis 1991 ein ernsthaftes Problem für die sowjetische Staats- und Parteiführung darstellte, wurde nie behauptet, dass der Rat der Volksdeputierten oder die armenische Bevölkerung im Autonomiegebiet vom Imperialismus gelenkte „Konterrevolutionäre“ seien. Dem Westen war die Brisanz der nationalen Frage in der Sowjetunion bekannt und es gab immer Aktivitäten, um nationalistische Bewegungen zu fördern und so die Sowjetunion zu schwächen. Aber von der Geschwindigkeit und dem Ausmaß der Entwicklung nach 1988 waren vermutlich auch die westlichen Regierungen überrascht.

Mit dem sich abzeichnenden Zerfall der Sowjetunion kam die Frage nach der Zukunft der autonomen Gebiete und Sowjetrepubliken innerhalb einer Unionsrepublik auf die Tagesordnung. In Aserbaidschan ging es aber um mehr: Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts war Baku ein Zentrum der Ölförderung, in der wirtschaftlich wichtigsten Metropole des Südkaukasus gab es armenische Ölmagnaten und eine bürgerliche Schicht von Armeniern. Auf den Ölfeldern arbeiteten viele Armenier, die eine wichtige Basis der sozialistischen Bewegung bildeten. Die aserbaidschanische Elite fürchtete, dass die Armenier wieder eine bedeutende Stellung im Wirtschaftsleben des Landes einnehmen könnten wie Anfang des 20. Jahrhunderts. Um die vollständige Kontrolle über die „nationale Wirtschaft“ zu erlangen, mussten vor allem die Armenier in Baku als potenzielle Konkurrenten beseitigt werden.

Im Zusammenhang mit dem Aufkommen von „Nationalitätenkonflikten“, die 1988 die Sowjetunion erschütterten, spielten somit zwei Punkte eine wichtige Rolle: Zum einen waren es die Fehlentscheidungen und Versäumnisse der sowjetischen Nationalitätenpolitik, zum anderen der Beginn eines Prozesses, der ab 1990 zur Bildung von Nationalstaaten mit einem meist autoritären Regierungssystem führte. Die Kontrolle über die Wirtschaft übernahmen Clans und Oligarchen, die der Titularnation angehörten und eng mit dem politischen Apparat verbunden waren.

Blick auf die Berge von Arzach © Toros Sarian

Ein Politibüro-Mitglied entdeckt das Türkentum

Am Beispiel des ehemaligen Mitglieds des Politbüros der KPdSU Haydar Aliyews wird nicht nur die Rolle von Führungsmitgliedern der Kommunistischen Partei im Transformationsprozess deutlich, sondern auch, wie sie sich innerhalb kurzer Zeit politisch völlig veränderten. Aliyews Aufstieg begann 1967 als Chef des dortigen KGB, von 1969 bis 1982 war er Erster Sekretär des Zentralkomitees der KP Sowjetaserbaidschans, 1976 wurde er Kandidat und 1982 Vollmitglied des Politbüros. Nach der Unabhängigkeitserklärung setzte er sich zeitweilig in seine Heimatprovinz Nachitschewan ab, wo er das Präsidentenamt übernahm. Im Januar 1992 veranstaltete Haydar Aliyew eine große Feier zum „Tag der Aserbaidschan-Türken“. In seiner Ansprache sagte er: „Wir sind als Türken geboren, wir haben seit Jahrhunderten als Türken gelebt, wir werden als Türken sterben. Sie haben uns 70 Jahre unterdrückt, aber sie konnten uns nicht assimilieren. Darauf sind wir stolz!“ (Milliyet, 9.1.1992)

Die sowjetische Nationalitätenpolitik hatte aber nicht das Ziel verfolgt, die Titularnationen der Unionsrepubliken zu assimilieren, ganz im Gegenteil: die nationale und kulturelle Identität der Titularnationen der Unionsrepubliken wurde eher gestärkt. Erst als der Zerfall der Sowjetunion begann, wurde deutlich, wohin das führte: In vielen Unionsrepubliken setzten sich Führungsmitglieder der KP an die Spitze der erstarkenden Unabhängigkeitsbewegung, und aus Parteichefs wie Aliyew oder Nasarbajew (Kasachstans KP-Chef) wurden „Führer der Nation“.

Im Dezember 1993 kehrte Haydar Aliyew wieder zurück auf die politische Bühne in Baku und wurde zum Präsidenten der Republik Aserbaidschan gewählt. Der Widerstand der Armenier Berg-Karabachs konnte aber auch von ihm nicht gebrochen werden. Er musste im Mai 1994, nachdem die armenischen Einheiten mehrere an Berg-Karabach angrenzende Gebiete eingenommen hatten, einem Waffenstillstandabkommen zustimmen. In der Folgezeit konzentrierte er sich darauf, sein autokratisches Herrschaftssystem zu festigen. In einem Bericht über die Zustände dort schrieb der US-Botschafter: „Beobachter in Baku notieren oft, das heutige Aserbaidschan werde in einer ähnlichen Weise beherrscht, wie Europa in Zeiten des Feudalismus im Mittelalter“. Als Haydar Aliyew im Dezember 2003 in einer Klinik in Cleveland in den USA starb, übernahm sein Sohn Ilham das Präsidentenamt. Mit der Eroberung der Republik Arzach will er das Vermächtnis seines Vaters erfüllen, und die türkische Regierung will das vollenden, was ihre Vorgänger 1915 angefangen haben: die Vernichtung der Armenier.