„Lebend hat man uns weggenommen, lebend kehren wir zurück“

Die Fahrradkarawane „Memoria sin Frontera“ („Erinnerung ohne Grenzen“) ist von Mexiko-Stadt aus nach Guatemala aufgebrochen.

Fahrradkarawane „Memoria sin Frontera“

Auch 30 Jahre nach dem Ende des guatemaltekischen Bürgerkrieges suchen Tausende von Familien nach ihren Angehörigen. Der Genozid an großen Teilen der indigenen Bevölkerung forderte zwischen 1960 und 1996 über 250.000 Todesopfer, 45.000 gewaltsam „Verschwundengelassene“ und über 1,5 Millionen Vertriebene. 625 Gemeinden wurden in gezielten Massakern ausgelöscht.

Ignacio Alvarado ist während dieses Krieges in Guatemala geboren. Aufgewachsen jedoch ist er in Quebec, Kanada – und von der blutigen Geschichte seines Geburtslandes hat er selbst erst Jahrzehnte später erfahren. Eine Freundin sandte ihm einen Artikel über den Kinderhandel während des guatemaltekischen Bürgerkrieges zu: Mindestens 40.000 Säuglinge, Kinder und Jugendliche wurden ihren Eltern entrissen – die meisten von ihnen verkaufte die guatemaltekische Regierung mit Unterstützung internationaler „Adoptionsagenturen“ anschließend an Familien in Kanada, Europa und den USA. Etwa 3.000 Kinder wurden in den 1980ern auch nach Deutschland verkauft. All dies geschah unter dem Label des „Schutzes der Kinderrechte“. Auch Ignacio erzählte man, dass die Adoption seine „Rettung“ bedeutet hätte, wie vielen der entführten Kinder: Ihre Eltern seien arm, tot oder kriminell – und nicht in der Lage gewesen, sie aufzuziehen. Es ist eine Lüge, die einem brutalen, lukrativen Menschenhandel während des Krieges einen heuchlerisch-menschlichen Anstrich verleiht. Drei Jahre später liegt Ignacio seiner biologischen Mutter in den Armen – sie hat jahrelang auf den verschwundenen Sohn gewartet.

Die Wiedervereinigung ist Teil eines historischen Widerstandes des Kollektivs „Estamos aqui“ („Wir sind hier“). Dutzende Guatemaltek:innen aus Kanada und anderen Ländern haben sich im Frühling 2021 in Tiohtiá:ke (Montreal) auf der Suche nach ihrer wahren Herkunft, Vergangenheit und Familie zusammengefunden und eine entschiedene Antwort auf die verzweifelte Frage der vielen Opfer des guatemaltekischen Bürgerkrieges formuliert, die bis heute mit dem Ausruf „Donde están?“ („Wo sind sie?“) nach ihren Angehörigen suchen. Neben dem Aufspüren ihrer Familien sensibilisieren sie in Kampagnen über die Problematik des Zusammenhangs von Adoptionen und gewaltsamen Kinderhandels, klären über den guatemaltekischen Bürgerkrieg auf und unterstützen Betroffene mit Anwält:innen oder Psycholog:innen – die Wiedervereinigungen, wenn sie gelingen, sind für beide Seiten eine oft traumatische Erfahrung. Es ist ein Kampf um Erinnerung, Vergangenheit und Zukunft zerrissener Gemeinschaften – und dabei, da ist sich „Estamos aquí“ sicher, kein isolierter Widerstand: Als autonomes Kollektiv sehen sie sich als Teil einer antikapitalistischen, antikolonialen und antipatriarchalen Bewegung. Ein Ausdruck dessen ist die „Bicicaravana Memoria sin Frontera“ („Fahrradkarawane Erinnerung ohne Grenzen“): Von Mexiko-Stadt aus brechen die damals entführten Guatemaltek:innen 2025 auf in Richtung Guatemala. Auf ihrer 2.000 Kilometer langen Route machen sie Halt in widerständigen Gemeinden, berichten und vernetzen sich in Konferenzen, Kundgebungen und Demonstrationen.

Am 26. Februar erreichen sie im südlich an Mexiko-Stadt angrenzenden Bundesstaat Morelos das Gaskraftwerk in Huexca. Gemeinsam mit der Gaspipeline, die von hier aus in die Nähe des aktiven Vulkans Popocatépetl verläuft, bildet es das Megaprojekt Integral Morelos (PIM). Seit Jahren protestieren über 80 umliegende Gemeinden gegen das Kraftwerk, welches den bäuerlichen Gemeinschaften vor allem eines stiehlt: Das Wasser. Aus dem Cuautla-Fluss abgezweigt fehlt es für den Anbau von Mais und Bohnen. Ein noch größeres Risiko bedeutet der Transport des Gases, mitten durch eine Erdbebenregion aktiver Vulkane. Vor allem ausländische Unternehmen hoffen dadurch auf Profite, unter ihnen ABENGOA, ELECNOR und ANAGAS (Spanien). Die neue mexikanische Regierung der vorgeblich „progressiven“ Morena-Partei versprach eine Berücksichtigung der Meinung der Anwohner:innen. Nachdem sich der 2018 gewählte Präsident López Obrador im Wahlkampf noch gegen das Projekt ausgesprochen hatte, sollte schließlich eine „Befragung“ den Weg für die Pipelines ebnen. Der Widerstand aber hielt an: Samir Flores moderierte damals im Gemeinderadio von Amilcingo, sprach sich entschiedenen gegen das „PIM“-Vorhaben aus – auch in der „Befragung“. Zwei Tage später wurde er ermordet. Genau sechs Jahre ist dieses Attentat vom Februar 2019 nun her – und Samir unvergessen. An der von Stacheldraht umzäunten Betonmauer rund um das Gaskraftwerk, in dessen Hintergrund sich der Popocatépetl erhebt, zeugen Graffiti von jüngsten Protestaktionen aus den vergangenen fünf Jahren (2022 etwa die Karawane „Für das Wasser, für das Leben“).

Vor ihnen sind nun mehrere Fahrräder aufgestellt: Die Bicicaravana „Memoria sin frontera“ ist angekommen, und neue Graffiti schmücken den auch von Militärs bewachten Eingang zum Kraftwerk: „Die Barrikaden Abya Yalas werden das Grab des Kapitalismus sein“; „Das Wasser gehört den Gemeinden“ oder „Rache für die Toten“. Und neben dem Banner, welches Gerechtigkeit und Aufklärung für den Mord von Samir Flores fordert, hängen nun die Gesichter der im guatemaltekischen Bürgerkrieg Verschwundenen. Hier vereinigen sich zwei Kämpfe nach Gerechtigkeit und für ein besseres Leben miteinander. Es ist die erste Station auf dem Weg der Fahrradkarawane, die sich erst vor drei Tagen mit einem musikalischen Festival aus Mexiko-Stadt verabschiedet hatte und nun weiterradelt ins nahegelegene Amilcingo. Ihr Banner wird dort vom Gemeinderadio aus Hoffnung verbreiten – wie einst Samir: „Lebend hat man uns genommen, Lebend kehren wir zurück“ steht dort geschrieben, neben einem kleinen, aufgepinselten Fahrrad. Im Hof der Grundschule „Samir Flores Soberanes“ schließen sich noch weitere Räder an, vor allem Kinder und Jugendliche begleiten die kleine Strecke auf den Spuren der rebellischen Wandbilder in diesem Ort der Angst und Hoffnung.

„Der Wind hat keine Grenzen, die Gedanken auch nicht – und unsere Fahrräder auch nicht, sie reisen von Norden nach Süden, durch Flüsse und Wälder, Küsten und Berge – auf ihnen reist die Solidarität“.

Die Karawane und die Arbeit des Kollektivs „Estamos aquí“ bittet um finanzielle Unterstützung: https://www.gofundme.com/f/donde-estan-nuestras-familias-where-are-our-family