Der Fall Mehmet Emin Çam sorgt für Proteste
Der gesundheitliche Zustand des 73-jährigen politischen Gefangenen Mehmet Emin Çam hat sich dramatisch verschlechtert. Trotz schwerer Vorerkrankungen und eines akuten Herzinfarkts wird Çam nicht freigelassen – eine Praxis, die Menschenrechtsorganisationen als lebensbedrohlich und rechtswidrig kritisieren.
Çam, der im T-Typ-Gefängnis in Qubîn (tr. Beşiri) in der kurdischen Provinz Êlih (Batman) inhaftiert ist, erlitt am 16. April einen Herzinfarkt. Er wurde daraufhin in eine staatliche Klinik eingeliefert und notoperiert. Ärzt:innen berichten von einem lebensgefährlichen Zustand. Zwei seiner Herzkranzgefäße sind vollständig verschlossen, ein drittes wurde mit einem Stent versorgt.
Vorerkrankungen und kritischer Gesundheitszustand
Çam ist auf der Liste schwerkranker Gefangener des Menschenrechtsvereins IHD verzeichnet. Er leidet unter einem Hirntumor, ist linksseitig gelähmt, hat Sehstörungen sowie Gedächtnisverlust. In der Vergangenheit wurde er zudem am Herzen, den Nieren und an den Augen operiert.
Bereits am 10. April war Çam wegen eines Schwächeanfalls in ein Krankenhaus eingeliefert worden – nach nur einer Nacht und einer oberflächlichen Untersuchung wurde er jedoch wieder in seine Einzelzelle zurückgebracht. Dort verschlechterte sich sein Zustand erneut, was schließlich zum Herzinfarkt führte. Seine Angehörigen wurden über die Krankenhausaufenthalte nicht informiert, sondern erfuhren über Umwege von der kritischen Lage des 73-Jährigen.
Anwältin warnt vor drittem Herzinfarkt
Nezahat Celen, Çams Rechtsanwältin, schildert das Geschehen mit deutlichen Worten: „Mein Mandant hat Gedächtnisverlust, leidet unter starken Kopfschmerzen und seine Bewegungsfähigkeit verschlechtert sich täglich. Die Gefahr eines dritten Herzinfarkts ist real – und er könnte ihn nicht überleben.“ Celen kündigte an, ein medizinisches Gutachten der Klinik einzuholen, um beim zuständigen Vollstreckungsgericht die Aussetzung der Haftstrafe aus gesundheitlichen Gründen zu beantragen. Eine entsprechende Anfrage wurde auch am 18. April beim Justizministerium eingereicht.
Zweifel an forensischen Gutachten und Vorwürfe der Misshandlung
Çam war in der Vergangenheit zur Begutachtung an das dem Justizministerium unterstellte Institut für Rechtsmedizin (ATK) in Istanbul überstellt worden. Seine Anwältin berichtet von menschenunwürdigen Bedingungen während des Aufenthalts: „Er erhielt nur eine Mahlzeit am Tag, musste in der Kälte mit einer einzigen Decke auskommen und wurde insgesamt schlecht behandelt.“ Vor diesem Hintergrund bezweifelt Celen die Objektivität von ATK-Gutachten, deren Einschätzungen über Haftfähigkeit in der Türkei häufig Grundlage für ablehnende Entscheidungen sind. Die Rechtsanwältin fordert ein unabhängiges, medizinisch fundiertes Gutachten.
Kritik von Zivilgesellschaft und Proteste
Menschenrechtsorganisationen, zivilgesellschaftliche Gruppen und Vertreter:innen der DEM-Partei fordern seit Tagen öffentlich die Freilassung von Mehmet Emin Çam. Besonders empörend wird empfunden, dass der schwerkranke Mann selbst in seinem derzeitigen Zustand mit Handschellen ans Krankenhausbett gefesselt ist und von Soldaten bewacht wird.
Die Gefängniskommission der Istanbuler IHD-Sektion thematisierte Çams Fall bei ihrer letzten F-Sitzung
In mehreren Städten der Türkei kam es zu Kundgebungen und Protestaktionen, die ein Ende der systematischen Missachtung des Rechts auf Gesundheit politischer Gefangener forderten. Dabei wurde auf den strukturellen Charakter der Situation verwiesen: Schwerkranke Häftlinge würden zu spät oder gar nicht medizinisch versorgt – ein Zustand, den der IHD bei seiner „F-Sitzung“ am Samstag in Istanbul als „tödliche Vernachlässigung“ und „Staatsversagen“ bezeichnete.
Ein exemplarischer Fall staatlicher Ignoranz
Der Fall Çam steht stellvertretend für den Umgang der türkischen Justiz mit schwerkranken politischen Gefangenen. Nach Angaben des IHD befinden sich derzeit mehr als 1.500 kranke Gefangene in türkischen Gefängnissen – rund 600 von ihnen gelten als schwerkrank. Immer wieder sterben Inhaftierte, weil notwendige medizinische Behandlungen verweigert oder hinausgezögert werden.
Über Mehmet Emin Çam
Mehmet Emin Çam stammt ursprünglich aus Heskîf (Hasankeyf). Aus der Stadt wurde er in den 1990er Jahren vertrieben, weil er sich von der türkischen Regierung nicht als „Dorfschützer“ verpflichten ließ. Die Familie zog daraufhin in die benachbarte Provinz Sêrt (Siirt). Dort war er mehrere Jahre Verbandsvorsitzender der kurdischen Partei BDP und wurde in einem der als „KCK-Verfahren“ bekannten Massenprozesse zu neun Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. 2012 wurde Çam wegen Mitgliedschaft in der „Stadtratsstruktur der KCK“ verhaftet und verbrachte zehn Monate im Gefängnis. Nachdem seine Verurteilung im Revisionsverfahren bestätigt worden war, wurde er 2022 erneut inhaftiert. Çam war bereits damals schwer krank. Mehrere Haftentlassungsanträge seiner Verteidigung wurden von der türkischen Justiz dennoch als „unbegründet“ abgewiesen.